Pastor Karl Schilling (1865-1905)

Märtyrer der lettischen Revolution 1905/1906

P a s t o r  K a r l  S c h i l l i n g
g e b o r e n   i n   P e t e r s b u r g,  5 . F e b r u a r  1 8 6 5
e r m o r d e t  i n  N i t a u,  10.  S e p t e m b e r  1 9 0 5

Schillings Vater, Pastor Karl Friedrich Woldemar Schilling, ging schon 1869 heim. Die Mutter siedelte mit ihrer großen Kinderschar nach Riga über. Hier empfing auch Karl Schilling seine Gymnasialbildung, bezog danach 1885 die Universität Dorpat, die er 1889 verließ. Nach dem praktischen Jahr und kurzer Adjunktur wurde er 1892 Pastor in Nitau. Eine schwere Pfarre, nicht nur schlecht dotiert, so daß nur ein anspruchsloser Mensch als Pastor dort leben konnte, sondern auch stark durchsetzt mit griechisch-orthodoxen Letten, die ihr Luthertum verleugnet hatten, und die zur Zeit bedient wurden von einem Popen, der Schilling das Leben sauer machte. Die lutherische Gemeinde war in der fast ein Jahr währenden Vakanz, die dem Amtsantritt Schillings vorausging, noch mehr verwildert. Trotzdem sich im Laufe eines Jahres kein Pastor um die Gemeinde beworben, erregte die Vokation Schillings, die endlich vom Konsistorium erfolgte, doch scharfen Widerspruch von einzelnen Gemeindegliedern, weil Schilling ein Deutscher war. Er aber ging hin, warb in seines Herrn Namen um die Herzen der ihm anvertrauten Gemeindeglieder, vielen ein unbequemer Mahner um seiner unbestechlichen Wahrhaftigkeit willen, vielen ein Bewahrer vor Abfall und Verleugnung der evangelischen Wahrheit.

Nach achtjähriger Arbeit mußte er seine Gemeinde zeitweilig verlassen. Er war vom Popen wegen Propaganda gegen die russische Staatskirche verklagt, das Gericht verurteilte ihn
zu einer Gefängnisstrafe. Es gelang, die Gefängnishaft zu wandeln in Hausarrest, den er bei seinem lieben Propst Zimmermann abbüßte. Nun er seiner Gemeinde fernbleiben mußte, zeigte es sich, daß die Stellung der Gemeinde zu ihrem Pastor eine ganz andere geworden war. Die Gewissen waren erwacht: die Verleugnung des Glaubens wurde verachtet, und ein großer Teil der Gemeinde trug ihrem Pastor herzliche Liebe entgegen. Schilling hatte sich die Bahn gebrochen mit der Kraft der Wahrheit, und diese Bahn alsdann mit der Treue der Liebe geebnet.

Freilich die, die mit dem bösen Gewissen umhergingen, alle, denen er um der Wahrheit willen entgegengetreten, die haßten ihn. Als die Revolution 1905 über das Land ging, da glaubten seine Feinde mit ihm abrechnen zu dürfen. Während des Gottesdienstes am Pfingstsonntag, 5. Juni 1905, stürzten mehrere junge Männer, als das Hauptlied gesungen wurde, in die Sakristei, in der sich Schilling allein befand, und forderten von ihm, daß er seinen Talar ablege. Schilling verweigerte es. Sie verlangten von ihm das Versprechen, nicht weiter zur Gemeinde zu reden, Schilling wies das Ansinnen weit von sich. Da zogen mehrere ihre Revolver und drohten zu schießen, wenn er die Sakristei verlassen sollte. Einer blieb als Wache in der Sakristei zurück, ein anderer stieg auf die Kanzel und hielt eine wilde revolutionäre Rede, und andere gingen mit ihren Waffen durch die Kirche und bedrohten jeden, der Widerstand wagen würde, mit dem Tode. Viel fremdes Gesindel war in der Kirche, welches die Rede mit Beifallsrufen aufnahm und nach derselben revolutionäre Lieder nach kirchlichen Melodien sang. Als die terrorisierte Gemeinde unter Führung der „Genossen“ zur Kirche hinausgeführt wurde und unter Entfaltung von roten Fahnen einen Umzug veranstaltete, durfte Schilling die Sakristei verlassen, — er hat sie nie mehr betreten! Das Konsistorium schloß die Kirche so lange, bis die Gemeinde einen wirksamen Kirchenschutz übernahm. Der aber kam nicht zustande, denn zu groß war der
Terror. Trotzdem blieb Schilling in Nitau. Der Gemeinde konnte er nicht predigen, aber er konnte Einzelseelsorge treiben, und die trieb er in alter Treue, trotz der Warnung, die er erhielt, daß man nach seinem Leben trachte. Vor jeder Fahrt zu den weit zerstreut lebenden Gemeindegliedern nahm er von seiner alten Mutter, seiner jungen kränklichen Frau und seinen zwei kleinen Kindern Abschied fürs Leben. Er bestellte Amt und Haus bis ins letzte.

„Wir sind auf alles gefaßt, der Tod hat keinen Schrecken mehr für uns, nur die grausigen Einzelheiten, die damit verbunden sind“. Schwer fiel ihm der Abschied, als er sich zur Pastorensynode aufmachte, die am 21. August 1905 im fernen Walk zusammentrat. Während dieser tiefernsten Synode, da ein jeder der Synodalen sich die Frage stellte: Wen wird es treffen?, erhielt Schilling die Nachricht, daß in dunkler Nacht Brandstiftung an seinem Pastorat versucht worden sei. Durch Gottes Gnade war eine Holztreppe, die, mit Petroleum begossen, nicht ganz in Brand geraten, nur drei Stufen verbrannten, dann war das Feuer am Pastorat erloschen und so die Familie gerettet. Nur eine Vorratsscheune neben dem Pastorat brannte mit der Ernte und der sonstigen Habe des Pastors nieder. Schilling eilte trotz aller Warnung heim, brachte seine alte Mutter und die Kinder nach Riga in Sicherheit und blieb mit seiner Frau allein im öden Pastorat. Er fand eine Zitation zum Gericht vor. Er sollte Zeuge sein und Aussagen machen über die Persönlichkeit, die ihn in der Sakristei eingesperrt hatte. Ihm ahnte nichts Gutes, denn er wußte, wie gut die Roten es verstanden, ihre Gegenzeugen mundtot zu machen. Am 5. September erhielt er die Nachricht, daß wieder eine Amtsperson seines Kirchspiels ermordet sei, da meinte er: „Heute dir, morgen mir“. Am 9. September hatte Schilling eine Fahrt zu einem Kranken zu machen; die Pastorin, die ihn begleitete, schreibt darüber: „Es war ein wunderschöner, klarer Herbsttag, die Landschaft bot einen prachtvollen Anblick. Mein Mann äußerte: „Vielleicht sehe ich das alles zum letztenmal“ — Heimgekehrt, wurde ihm mitgeteilt, zwei Leute seien dagewesen und hätten nach ihm gefragt und gesagt: „Wir kommen morgen wieder“, und sie kamen. — Am andern Tage wurde an der Haustür geschellt, Schilling selbst öffnete die Tür, ein Mann übergibt ihm einen Brief, als Schilling zum Fenster geht, ihn zu lesen, feuert der Mann mehrere Schüsse auf Schilling — und eilt hinaus. — Die Hausleute hören ihn sagen: ,Der ist fertig“ — Als die Pastorin hinzustürzt und den Wankenden in ihren Armen auffängt, spricht er es noch wie eine Erleichterung aus: ,Ein ganz fremder Mensch war es‘, keiner aus seiner Gemeinde, und darnach: „Wie schön war es zu leben, aber es ist auch schön zu sterben“.

Nach wenigen Minuten ging er heim. Er hatte einst das Leben genannt „Rüsttag für die Ewigkeit“. Er war gerüstet durch Gottes Gnade. „Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden“, rief ihm sein Freund und Propst L. Zimmermann am Grabe nach, der selber bald darauf sein Leben lassen mußte.

Quelle: Oskar Schabert, Pastor zu St. Gertrud in Riga: Baltisches Märtyrerbuch, Furche-Verlag. Berlin 1926. S. 50-53 [Digitalisat, pdf]

Bildnachweis: Carl Schulz, Public domain, via Wikimedia Commons

Weblinks und Verweise

Wikipedia (DE): Karl Schilling (Pastor)

Eingestellt am 21. Dezember 2021 – Letzte Überarbeitung am 16. November 2022