Dr. Albert Zeller: Blätter der Erinnerung, von G. Meuret

Diese Blätter lassen Zeller wo möglich selbst reden. Sie waren ursprünglich als Nekrolog für eine Zeitung bestimmt. Nun sie aber besonders an die Oeffentlichkeit treten sollen, bemerkt der Verfasser nur, daß ihm die Zeit zur Umarbeitung derselben im Augenblick nicht zu Gebot steht.

Am 24. Dezember jährte sich der Tag, welcher unsere engere Heimath nicht allein, sondern auch das große deutsche Vaterland um einen in seiner Wissenschaft und Kunst bedeutenden Mann ärmer gemacht hat durch den Hingang des Obermedicinalrath Dr. Albert v. Zeller, Direktors der Irrenheil- und Pflegeanstalt Winnenthal. In dem Herzen vieler Freunde hat er sich ein laut redendes Denkmal gesetzt, das auch im Strom der Zeit sobald nicht untergehen wird. Die Leser dieser Blätter, wenn sie den Mann auch nicht persönlich gekannt haben, werden eine Mittheilung über sein Leben und Wirken mit Interesse aufnehmen. Zwei Familien, welche in dem von Georgii herausgegebenen fürstlich württembergischen Dienerbuch oft genannt werden, verbanden sich, als im Jahr 1795 der Kanzleiadvokat in Stuttgart Friedrich Zeller, Sohn eines Arztes, Enkel des Prälaten Johannes Zeller zu Königsbronn, mit Regine, Tochter des Arztes Eberhard Andreä, auf dem Gut ihres Onkels, des Geheimen Rathes Mögling, auf dem Bühlhof bei Möttlingen seine Hochzeit feierte. Aus dieser Ehe entsprangen vier Söhne. Der dritte von ihnen, Ernst Albert, ist am 6. Nov. 1804 in Heilbronn geboren. Der Vater, ein kluger Mann und tüchtiger Advokat mit starker Praxis, hatte durch die glänzende Vertheidigung eines Angeklagten vor dem öffentlichen Gericht des Magistrats in Stuttgart die Aufmerksamkeit des Churfürsten, nachmaligen Königs Friedrich, auf sich gezogen, und es war ihm im Jahr 1804, ohne daß er sich darum beworben hätte, die Stelle des Oberamtmanns in Heilbronn übertragen worden. Diese freie Reichsstadt war eben erst an Württemberg gekommen, und konnte nur mit Mühe den Verlust ihrer freien Stellung verschmerzen. Trotz der schwierigen Aufgabe des ersten württembergischen Beamten gelang es ihm doch, das Vertrauen der Bürger zu gewinnen Der. im kräftigsten Alter stehende Mann konnte in jener unruhigen Kriegszeit und bei den Durchmärschen französischer und später auch russischer Heeresmassen zum Besten seiner Untergebenen viel Gutes wirken und manches Schlimme von ihnen abwenden. Als er nach wenigen Jahren von diesem Amt ab- und in die Geschäfte der Advokatur zurücktrat, behielt er doch seinen Wohnsitz in Heilbronn.

Es fehlte ihm nicht an Liebe zu seinen Kindern. Seine vielen Geschäfte aber, und die Erholung, deren er nach Vollendung der Tagesarbeit bedurfte, ließen ihm fast keine Zeit übrig, der Erziehung seiner Kinder sich zu widmen. Diese war ganz der Mutter überlassen. Sie stammte aus dem Geschlecht des Kanzlers Dr Jakob Andreä, des Urhebers der Concordienformel, von dessen Sohne dem Abt Johannes Andreä in Königsbronn und seiner unter dem Namen die Hofapotheferin bekannten Frau Marie geb. Moser, deren frommer Sinn und Geist thätiger Liebe sich auf sie vererbt hatte. Von der Hand dieser Mutter liegt ein Schriftstück vor uns, in welchem sie, obgleich es sie einige Selbstverleugnung kostete, dem erwachsenen Sohn auf seine Bitte mittheilt: „Wie ich meine Kinder erzog“. Sie hatte selbst in ihrer Kindheit fast gar keinen, oder nur einen höchst mangelhaften Unterricht empfangen. Wenn sie eine Frage machte, gab der Lehrer ihr zur Antwort: das Fragen sei naseweis, er wolle mir schon sagen, was ich zu wissen brauche. Ohne Umgang mit andern Menschen, als mit der frühe verwittweten Mutter und sechs Schwestern, deren älteste die Gattin des Concertmeisters Rudolf Zumsteeg wurde, war sie herangewachsen fast wie in der Stille eines Klosters, so daß es uns Freude machte, die Glocke des Hauses ziehen zu hören mit dem fröhlichen Ruf: Gott gibt einen Menschen!

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In Stuttgart ließ Zeller sich nieder, und fand bald eine ziemlich ausgedehnte Praxis. Es blieb ihm aber doch noch Zeit zur Abfassung einer längst vergriffenen Schrift „Das verschleierte Bild zu Sais oder die Wunder des Magnetismus“. Dr Justinus Kerner hatte die Frau Hauffe magnetisch behandelt und die „Seherin von Prevorst“ herausgegeben. Als Freund der Wahrheit beleuchtete Zeller, ohne seinen Namen zu nennen, mit kritischem Auge die Eröffnungen der Seherin über das innere Leben des Menschen, und das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere. Er sieht in der Somnambüle eine unglückliche Wahnsinnige, deren ungewöhnlicher Zustand von leiblichen Störungen ausgeht, und glaubt, daß der Magnetiseur sich selbst täuscht, wenn er von ihr einen andern Bescheid zu erhalten meint, als den er sich selbst schon gegeben hat. Als ohne seine Schuld der Name des Verfassers bekannt wurde, schrieb er an Kerner, er habe nicht seiner Person zu nahe treten, sondern nur nach besten Kräften ein Scherflein beitragen wollen auf dem gemeinsamen Gebiet der Wissenschaft, wo nur um das gemeinsame Interesse der Wahrheit und nicht um das Interesse des Einzelnen gestritten wird, und Jeder mit dem Andern siegt, sobald nur die Wahrheit selbst durch den Streit klarer an das Tageslicht tritt, mein Scherflein zu dem schwierigen Unternehmen, in diese Nachtseite der menschlichen Natur einzudringen, die mich in meiner frühesten Knabenzeit schon mit unwiderstehlichem Zauber anzog, von dem mich nur das Christenthum erlöste. Ich lebe des festen Glauben, wenn auch nicht in den Geistern, doch im Geist mit Ihnen einiger zu sein, als mir je von Ihnen zugestanden wird. Kerner antwortete freundlich und herzlich; er hätte gewünscht, daß Zeller vor Abfassung seines Büchleins an ihn geschrieben hätte. Kerner würde ihn dann anders belehrt haben. Nach einigen Jahren lernten die beiden Männer sich persönlich kennen und hochschätzen.

In seiner Knabenzeit schon hatte Zeller gar oft seine Mutter von den Leiden ihres in geistiger Umnachtung frühe verstorbenen Vaters und von den Mißhandlungen erzählen hören, welchen Kranke dieser Art damals ausgesetzt waren, und war dadurch zum innigsten Mitleiden angeregt worden. In seiner Studienzeit wohnte er in Tübingen nahe bei dem Thurm, in welchem der geisteskranke Dichter Hölderlin sein Leben zubringen mußte. Wie konnte es anders sein, als daß er oft und viel mit dem Gedanken sich beschäftigte, wie diesen Unglücklichsten Hilfe oder wenigstens eine menschliche Behandlung zu Theil werden könnte, und daß er seine Studien besonders der Seelenheilkunde zuwendete. Noch im Jahre 1830 gab es in Württemberg nur Eine Anstalt, in welcher Geisteskranke aufbewahrt wurden, das „Narrenhaus“ in dem ehemaligen Kloster Zwiefalten. Dort war noch 1844 die Zelle zu sehen, in welcher ein für geisteskrank erklärter Verbrecher wie ein wildes Thier hinter einem dreifachen Gitter von Eisenstangen und dicken eichenen Pfosten, durch welche ein kleines Thürchen das Einbringen der Speisen gestattete, bis 1816 eingesperrt gewesen war. Nach dem Vorgang anderer deutscher Regierungen richtete auch die württembergische ihre Aufmerksamkeit auf diese bis dahin so ganz vernachlässigten oft auch mißhandelten Kranken, um ihnen eine bessere Pflege angedeihen zu lassen und sie wo möglich geheilt dem Leben und ihrem Beruf wieder zurückzugeben. Zum Neubau einer Irrenanstaltbkonnte man sich in jener Zeit der äußersten Sparsamkeit nicht entschließen. Das alte Schloß Winnenthal, das vom Deutschorden erbaut Sitz einer Nebenlinie des herzoglichen Regentenhauses gewesen, zuletzt theilweise als Wohnung für Beamte benützt worden war, wurde zur Einrichtung einer Heilanstalt für 90-100 Gemüthskranke bestimmt, und am 8. April 1831 wurden die vaterländischen Aerzte, welche inneren Beruf und Neigung für die Leitung derselben in sich fühlen, aufgefordert ihre dießfallsigen Erklärungen bei dem K, Medizinalkollegium einzugeben damit, sie noch eine spezielle und praktische Vorbereitung und zugleich eine auf eigene Anschauung gegründete Bekanntschaft mit den Einrichtungen vorzüglicher Irrenheilanstalten des Auslandes sich erwerben könnten. Dieser Aufforderung folgten drei junge Aerzte. Die Wahl der Regierung entschied für Albert Zeller.

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G. Meuret: Dr. Albert Zeller – Blätter der Erinnerung. Stuttgart, 1879