«Auch lasse ich durchs Blut deines Bundes los deine Gefangenen aus der Grube, da kein Wasser innen ist.» (Sacharja 9, 11)
Diese wunderbare Tätigkeit Gottes geht fort bis auf den heutigen Tag. Ohne den Bund, der durch Jesu Blut gestiftet worden, würden keine Gefangenen aus der tiefen, leeren Grube – dahin schattenlos um die Mittagshöhe die Sonne brennt – herausgelangen können. Rings glatte Steine, kein Entrinnen möglich! Wie ein Verhängnis lastet der Fluch der Gefangenschaft unter die Sünde auf jedem. Plötzlich wird’s oben lebendig. Menschenstimmen, Leitern, Stricke – was ist das? Der Königssohn ist da, um jeden, der sich ihm zu eigen geben will, jetzt, sofort aus der fürchterlichen Enge zu befreien. Wer sollte nicht wollen? Es gibt immer noch solche, die auf dem Boden hockend lieber verkommen möchten, als daß sie sich helfen lassen wollen durch die freie Liebestat Jesu. –
Nun, wo warst du heute, mein Herz? Drunten in der wasserleeren Grube der Sündenverhaftung, oder droben im Licht der Freiheit, die durch Christus geworden ist? Was galt dir heute am Tage, der um nie wiederzukehren, zu seinen Vätern versammelt wird, die Tatsache deiner Erlösung durch Jesu Blut? War das dein geheimer Trost und die Quelle deiner Kraft und dein Sieg über die Anfechtung?
Herr Jesus, kein Tag soll vergehn, wo dein Volk dir nicht Lob opfert im heiligen Schmuck, daß du uns von der fahlen Nichtigkeit und der trostlosen Sklaverei der Sünde befreit hast und zu dir genommen hast. Lob sei dir ewiglich!
Amen.
Es ist wahr: Es ist gräßlich mit unserer Sünde und mit dem Leichtsinn und der Gottlosigkeit unseres Herzens. Aber du daniedergedrückter Mensch, allem würde abgeholfen werden, wenn du nur Christus kennenlerntest! Du würdest mitten in deinem größten Elend dich unaussprechlich freuen. Es sind vor allem einige Stücke, die du weder glaubst noch verstehst. Du glaubst nicht, daß die Sünden der ganzen Welt, auch die deinen, schon hinweggenommen, in der Todesstunde Christi schon ganz versöhnt, ausgestrichen und getilgt sind. Du glaubst nicht, daß die Sünden der ganzen Welt und auch deine am Kreuze so wirklich versöhnt wurden, daß sie keinen Augenblick deine Begnadigung verhindert haben, sondern, daß eine ewige Gnade und Gerechtigkeit von jener Stunde an darauf gewartet haben, angenommen zu werden und, daß der treue Gott mit einem vor Liebe brennenden Herzen dir wie einem verlorenen Kind auf deinen Irrwegen nachgegangen ist.
Könntest du das glauben, dann würdest du sogleich voll seliger Demütigung und Liebe in Seine Arme laufen und ausrufen: „O, mein Herr und mein Gott!“ – Sodann glaubst du nicht, daß das Blut Christi für alle Sünden gilt. Du meinst, es gelte für einige äußere und abgelegte Sünden sowie für gewisse mäßige Sünden, nicht aber für die inneren oder die Bosheit des Herzens, nicht für die recht schweren und unheimlichen Sünden, nicht für die noch vorhandenen starken und mächtigen Sünden. Alles das rührt daher, daß du nicht in lebendigem Glauben bedenkst, daß das Blut des Sohnes für unsere Sünden vergossen ist. Denn glaubtest du das, dann würdest du dir selbst gegenüber verschwinden und nur in ein ewiges, seliges Beschauen des Versöhnungswunders in Christi Blut versinken.
Wache denn auf und sieh, welch eine Schar von Evangelisten, Engeln, Propheten und Aposteln gleichsam mit einem Mund bezeugen, daß Gott die Welt so geliebt hat, daß Er Seinen eingeborenen Sohn zu einem Versöhnungsopfer für die Sünden der ganzen Welt dahingegeben hat, und daß diese Versöhnung Sündern wirklich zur Erlösung von ihren Sünden und den Urteilen des Gesetzes dienen sollte. So zeugt hier der Prophet: „Du lässest durch das Blut deines Bundes deine Gefangenen aus der Grube los“.
So zeugte Christus in der Nacht, als Er zu Seinem Leiden ging: „Mein Blut wird vergossen zur Vergebung der Sünden“. So zeugt Johannes: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde“. So zeugt der Apostel Petrus: „Wißt, daß ihr mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes erlöst seid.“ – So zeugt Paulus, daß „Christus alles durch das Blut an Seinem Kreuz versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel“. Sollen wir noch mehr der zahllosen Zeugnisse anführen? Bedenke, daß ein langes Weltalter mit einem von Gott vorgeschriebenen, weitläufigen Opferdienst voll unzähliger, blutiger Opfer viertausend Jahre hindurch der Welt verkündigt und geschildert hat, wie einst in der Fülle der Zeit ein blutiges Opfer die Sünden der Welt wegnehmen und versöhnen werde! Du armes, gesetzliches Menschenkind, was wiegst du gegenüber diesem großen Zeugnis eines langen Weltalters voll unzähliger blutiger Opfer, die alle dir zurufen: Nicht du, nicht du kannst den Schaden gutmachen, der der Sündenfall heißt!
„Man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht gefunden.“ – „Mein Zion! Du läßt (nur) durch das Blut deines Bundes deine Gefangenen aus der Grube los, darin kein Wasser ist.“
Ziehe nun hier einen gesunden Schluß. Hast du verstanden, wie Gott durch all diese Zeugnisse uns verkündigt hat, daß Er Seinen eingeborenen Sohn zu einem blutigen Opfer für unsere Sünden dahingegeben hat – sage, sind sie dann nicht wohl und hinreichend versöhnt? Sind dann nicht die Sünden der ganzen Welt schon versöhnt? Oder gilt das Blut Christi nicht für alle Sünden? Oder hat Christus Sein Blut nur für die Gläubigen und nur für gewisse kleinere Sünden vergossen? Luther sagt: „Christus hat wahrlich Sein Blut vergossen, nicht für erträumte und gemalte, sondern für wahrhaftige, nicht für kleine, geringe, sondern für überaus große und grobe, nicht für überwundene und getilgte, sondern für unüberwundene und starke, gewaltige Sünden“. Denn bedenke, wie sollten wir sonst Hilfe und Versöhnung für diese herrschenden und gewaltigen Sünden erhalten? Und wo sollten wir Kraft erhalten, sie zu überwinden und zu töten, wenn wir nicht zuerst durch den Glauben den Trost und die Freude der Vergebung erhielten, welche Freude allein unsere Stärke ist, die mächtigen Sünden zu überwinden? Wir müssen ja zuerst Vergebung und Freude in dem Heiligen Geist erhalten, bevor wir Kraft empfangen, die Sünde zu unterdrücken. Gott bewahre uns davor, die Kraft des Blutes des Sohnes Gottes einzuschränken! Sollte dies nicht „rein machen von allen unseren Sünden“? So spricht Gott der Herr:
„Kommt nur und laßt uns miteinander rechten! Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie gleich ist wie Rosinfarbe, soll sie doch wie Wolle werden.“
Sollt’st du tausend Welten finden,
Von dem Höchsten zugericht’t,
Und du hättest alle Sünden,
Die darinnen sind verricht’t,
Wär es viel; doch lange nicht
So viel, daß das volle Licht
Seiner Gnaden hier auf Erden
Dadurch könnt‘ erlöschet werden.
Querverweise
Denn der HERR hört die Armen und verachtet seine Gefangenen nicht.
(Psalm 69, 33)
Die irregingen in der Wüste, in ungebahntem Wege, und fanden keine Stadt, da sie wohnen konnten, hungrig und durstig, und ihre Seele verschmachtete; die zum HERRN riefen in ihrer Not, und er errettete sie aus ihren Ängsten. (Psalm 107, 4-6)