Lukas 6, 36-42: Von der Barmherzigkeit (Bezzel)

Schriftgrund

Text: Luk. 6, 36-42: Von der Stellung zum Nächsten

36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.
39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister.
41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?
42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Ihr seid meine Freunde, so ihr tut, was ich euch gebiete.

Knechte hören von Befehl des Herrn nur das, was ihnen gefällt, und tun soviel, als sie mögen. Aber Freunde versenken sich in das Wort ihres Freundes und lassen dieses Wort ihnen am Herzen und im Gewissen sein, leben, weil von Ihm, auch nach Ihm, und erweisen darin ihre Freundschaft, daß sie das Wort des Freundes ganz zu dem ihrigen machen.

Unser Herr hat in den Evangelien der letzten Sonntage drei große Freundesgrüße uns geboten. Er hat uns gezeigt, wie Erbarmen den Lazarus in der Heimat tröstet, also daß jedes Erdenleid bei ihm und von ihm vergessen sein darf, hat uns darauf hingewiesen, mit welchem Erbarmen das große Abendmahl zugerüstet ist, das nicht eingenommen wird, es hätten denn alle verfügbaren Plätze ihre Gäste gefunden. Und dann hat Er vor acht Tagen in die wunderbare Tiefe Seines Erbarmens blicken heißen, wie er sich frühe aufmacht und hernach lange sucht, bis er triumphieren kann, und wie Er die Kirche antreibt, daß sie das Haus kehre, bis der verlorene Groschen gefunden wird, und hat uns einen Einblick in Geheimnisse der Ewigkeit tun lassen, in der nichts anderes Gegenstand der Freude sein wird, als Heimkehr des Verlorenen und Entdecken des Vermißten.

„Seid barmherzig!“

Heute, nachdem der Herr Seinen Freundeswillen gegen uns in Erbarmen kund getan hat, wendet Er sich an uns alle: Freunde, tut, was ich euch gebiete! Er gebietet ganz einfach: darum seid barmherzig!

Wir aber sprechen ebenso schlicht von der Barmherzigkeit

1. Art,
2. Ort
3. Lohn.

Du aber, o Jesu, erbarme Dich unser.

I. Die Art der Barmherzigkeit

Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist, der nach Seiner wunderbaren Weisheit Menschen Ihm zum Bilde schuf, damit man an ihrer Art die Seine erkenne und von ihrem Wesen auf das Seine schließen könne. In jedem Menschenherzen ein Zug von Gott und zu Gott; in jeder Menschenart ein Hinweis, sei es auf den verlorenen, sei es auf den gefundenen Herrn. Immer wieder leuchtet aus Menschenart die Gottesebenbildlichkeit, aus Menschenwesen das Gotteswesen hervor. Der Vater, der barmherzig ist über alles, Seine Sonne über Böse und Gute hat aufgehen lassen und in der Fülle der Zeiten die Fülle Seiner Gnade über eine arme und schattenreiche Welt aufsteigen ließ; der Gott aller Gnade, der männiglich zu dieser Gnade und diesem Genuß einlädt, der hat auch dich mit einem Reichtum von Erbarmen überschüttet, mit der Großtat der Liebe heimgesucht.

„Mein Vater ist barmherzig.“

Denke nur an die vergangene Woche! Wie hat er dich äußerlich behütet und innerlich begnadigt! Er ist an deinem Hause mit der Strafe vorbeigegangen, nicht mit der Treue. Er hat Dir manchen Sonnenstrahl gegönnt, denn Er ist barmherzig. Wenn nun auch manche Seele unter dieser Barmherzigkeit gleichgültig dahingegangen sein wird, dem Eindruck wird sie sich nicht entziehen, daß auch die vergangene Woche ein großes Zeugnis unverdienten Erbarmens gebracht hat. Noch darf ich leben, noch kann ich arbeiten, noch liegt die Zeit vor mir als Kapital, mit dem ich wirken darf, noch ist die Kraft mir gegönnt, aus der ich Zinsen bringen kann. Mein Vater ist barmherzig!

Weil es aber dem Menschen nicht gelingen will, zur göttlichen Höhe irgendwie emporzusteigen, er vielmehr seine Unzulänglichkeit täglich und reichlich erkennen muß, und das umso mehr, je mehr er sich anstrengt, hat der Heiland drei Merkzeichen gegeben, an denen jeder erkennen kann, ob er barmherzig nach der Art des Vaters ist.

Prüfe deine Rede!

Er fragt dich zuerst nach deinem Wort. Richtet nicht, verdammt nicht! Sieh, du fährst so schnell mit deiner Rede einher, ohne daß du die geheimen Lebensgänge dessen kennst, den du verurteilt hast. Weißt Du, aus wieviel schlaflosen Nächten seine Verfehlung geboren war; kannst du ahnen, welche bitteren Kämpfe vorangegangen sind, ehe er fiel? Ist es dir bewußt geworden, in welchen schweren, nächtigen Stunden er sich gemüht hat, daß er den Segen empfinge; aber er ist dennoch ausgeglitten! Und du verurteilst mit schnellem Wort, gleich als wolltest du nicht nur jede Gemeinschaft mit ihm aufkünden, sondern als wolltest du, daß du auch versucht werdest, in Abrede nehmen.

Du eilst, über deinen Bruder den Stab zu brechen, weißt du nicht, daß der Richter auch vor deiner Türe steht? (Jakobus 5, 9). Kehre zum Besten, was sich noch entschuldigen läßt, suche nach Gründen, wo noch ein mildernder Grund vermutet werden kann. Laß dich’s nicht dauern, bei deinem Bruder viel Lindigkeit anzuwenden, er ist wohl gerechter, denn du es bist! Und der Heiland, der da weiß, daß wer in keinem Worte fehlet, ein vollkommener Mann ist, der die Ehebrecherin barmherzig freisprach und der Sünderin die Annäherung des Dankes an Ihn gestattet, der Herr, der so gnädig über den Sünder urteilt, damit Er desto schärfer die Sünde verdamme, weist dich weiter hin auf die Barmherzigkeit.

Prüfe deines Herzens Haltung!

Sage an, o Seele, Christenmensch, frage dich, wie steht es mit deinem Herzen? Vergebt! Du hast vielleicht edle Vorsicht, die man auch durch menschliche Klugheit lernen kann, in ernster Erfahrung erworben, und bist in deinem Wort maßvoll geworden. Aber dein Herz hat noch die alte, scharfe Art und in deinem Inwendigen verdammst du nach Lust deines Herzens. Dein Antlitz zwar ist ruhiger geworden; aber das ist nur Selbstbeherrschung, nicht Selbstverleugnung, nur Vorsicht, nicht heilige Einsicht. In deinem Herzen wohnen die schwarzen und schweren Gedanken gegen den Nächsten, über die du nicht hinauskommen kannst, weil du nicht hinauskommen willst.

Du hast so viel Bitterkeit in dir und begießest die bittere Wurzel mit viel Mutmaßungen und bist befriedigt, wenn deine Vermutungen Wahrheit und Wirklichkeit werden. Es tut deinem scharfen Sinn wohl, wenn aus Vorurteilen rechte Werturteile entstehen. Ach vergebt! Reißt mit der Wurzel die Verstimmung heraus; tut von Grund eurer Seele den Argwohn weg; verbrennt das Gestrüpp, das edle Regungen in eurer Seele erstickt; nehmt es ernst mit der Vergebung. Wir tragen an uns eine große Last umher und wissen es nicht; wir schleppen bis an das Grab die schwere Bürde und ahnen es nicht. Die Last heißt nicht Arbeit und die Bürde nicht Mühe, denn diese Last ist leicht und diese Bürde süß, sondern die selbstgebildeten Meinungen, die Verstimmungen in ihrer Berechtigung, in ihren Launen, das ist die Last, unter der das Leben erliegt. Willst Du sie nicht wegtun? Vergib!

Prüfe dein Handeln!

Und von Wort und Herz wendet Sich der Heiland an die Hand. Gebt! spricht er. Wer nicht aburteilt und wer vergeben kann, der kann auch geben. Gib, lieber Christ, deine Zeit her; im Grabe hast du ja noch genug. Laß dem Armen die Minute und dem, der dich fragt, die Stunde! Sage nicht, ich habe keine Zeit; es möchte sonst ihr Mangel in der Ewigkeit nur allzu reichlich aufgewogen werden. Nimm nie den morgigen Tag, sondern was heute erbeten wird, das erfülle heute, morgen sind andere Aufgaben am Markte. Gib deine Kraft her, lieber Christ, schone ihrer nicht so uneinfältig, dein himmlischer Vater ersetzt sie dir reichlich.

Opfere, spende, laß dein Leben hinströmen; seine Kraft gib willig her, du hast ja nichts weiter als das Leben. Es besteht bei uns so viel Verschlossenheit, die Grenzen im Geben werden so eng. Wir bemessen so ängstlich Leistung nach Gegenleistung und Gabe nach Dank! Der seine Sonne wahllos scheinen läßt und Seinen Sohn mit schrankenlosem Erbarmen ausgerüstet hat, der mahnt dich: Gib, so lange du kannst, und wenn du nichts mehr hast, so gib dich selbst! Gib alles, dann bist du barmherzig. Ich frage nicht, liebe Gemeinde, haben wir diese Art der Barmherzigkeit? Ich sage vielmehr: ach, daß wir sie so wenig haben! Mit euch gehe ich vor den Herrn, den schweigsamen, den tiefbetrübten Zeugen vieler unbarmherziger Urteile in der vergangenen Woche, und der mit angesehen hat, wie Mund und Herz so geschäftig waren, dem Nächsten zu segnen, und wir beten in Scham und Reue: Vergib und gib uns Gnade! Laß die Art in unserem Herzen neu werden, damit an unserm Wesen Dein Wesen erschaut und aus unserer Erbarmung auf deine Milde geschlossen werden möge. Aber der Herr Jesus zeigt uns in unserer Verzagtheit, die wir aus eigener Kraft die Art nicht los werden, unter der wir erliegen, die uns begräbt, den Quellort aller Barmherzigkeit.

II. Der Quellort der Barmherzigkeit

Bei den Pharisäern ist er nicht zu finden. Er sagt zu den Jüngern ein Gleichnis: Blinde Lehrer haben blinde Schüler. Nie hat ein blinder Lehrer einen andern die Kunst des Sehens lehren mögen. Pharisäer, Schriftgelehrte – ihre Gerechtigkeit ist blind! Die Jünger hätten von ihnen nichts anderes lernen mögen, als sie selbst hatten. Nie wird der Jünger über seinen Meister gehen; er lernt, was der Meister weiß, und dann hat er ausgelernt; das ist ihm genug, er hat sein Ideal erreicht. Wer bei den Pharisäern in die Schule geht, der ist und bleibt ein Pharisäer und kann über diese Art nicht hinauskommen. Darum zeigt dir und mir der Herr Jesus ein andere Schule, in der man die rechte Barmherzigkeit lernen kann, und die Schule heißt zuerst: Sündennot.

Ist mein Erbarmen Heuchelei?

Es haben die Jünger auch in ihrer Weise Barmherzigkeit geübt. Wenn sie beim Nächsten den Splitter gewahrten, liefen sie in unangenehmer und unangebrachter Barmherzigkeit hinzu, damit sie ihn herauszögen, nicht ohne geheime Freude, den Anstoß gefunden zu haben. Das war heuchlerische Erbarmung. Sie sahen die Fehler und wollten sie wenden, um als solche geschätzt zu werden, die Fehler bemerken. Sie zeigten heuchlerische Rücksichtnahme, in Wahrheit war es Freude über solchen Fund. Jetzt geht der Heiland mit ihnen unter vier Augen zu Gericht und sagt ihnen, wie es in dem eigenen Auge stehe und wie denn das eigne Wesen beschaffen sei. Nachdem der Jünger unter der Anleitung des barmherzigen Lehrers seine Verkehrtheit gesehen hat, wie sie im Herzen als Torheit ruht, im Munde als Bosheit sich verlautbart, im Werk als Unrecht sich offenbart, faltet er die Hände und spricht: Habe Geduld mit mir, erbarme dich mein!

Im Zerbruch wird Erbarmen erfahren.

Nachdem der Blinde von dem Allsehenden seiner Schmach und Schande überführt ist, spricht er: Herr, daß ich sehend werde! So lernt man Erbarmung. Die Hand, die mir mein Alles nahm, die gab mir das Größte. Der Ernst, der meine Heiligkeit zerwarf, gab mir die seine. Der große, unbeugsame Wahrheitsheld, der mich vor mir selbst erröten ließ, heiligt auch mich in Seiner Wahrheit. Mir ist Erbarmung widerfahren, als ich verworfen war, und Treue geschehen, als ich verurteilt wurde, und ist Liebe geschenkt worden, als Er mir in meinem Auge die furchtbaren Schäden aufzeigte. Denn als ich in einer Stunde alles verlor, daran mein Herz sich hing und meine Augen sich erquickten, da ist Er, mein Heil gekommen und hat mich frohgemacht. So macht es der Ackersmann rechter Art. Er stößt den Pflug tief in die Erde, zerbricht die Schollen, verwirft das Steinige, reißt alle Ranken und böses Unkraut aus, damit aus der Tiefe das Wachstum erfolge, in die Erde der Quell von oben eindringe und alles des Wachstums froh werde.

Das weiche Herz.

So hat´s der Herr gemacht. Zuerst macht er das Herz weich; er macht es weich, wenn es die eigene Schuld erkennt. In der Stunde, in der ich merke, was Er und Menschen an mir getragen haben, kann ich mich nicht mehr fassen in Dank über alles empfangene und empfundene Erbarmen. Da möchte ich Flügel haben, über die Erde eilen und jedem sagen, was Er Nachsicht und Güte mir erzeigt hat. Da möchte ich mich über das Erdenleben emporheben, dass ich Dem von ganzem Herzen danke, der solche Gnade an mir getan hat. Zum weichen Herzen, dass der Ernst der Buße durchpflügt und der Quell der Erbarmung durchfeuchtet hat, schenke Er das warme Herz.

Das warme Herz.

Wer selbst einmal erfuhr, wie ihn Gott an die Grenze der Schande führte und dann errettete; erlebt hat, wie nur eine Stunde von schmachvoller Ausführung die schmachvollen Gedanken trennte, und innegeworden ist, wie im entscheidenden Momente Barmherzigkeit vor jähem Fall ihn bewahrte, der bekommt ein warmes Herz für alle Not des Lebens. Dieser Mensch ist ja nicht so behütet worden, hat nicht soviel aufhaltende Gewalten in seinem Leben gehabt, ist einsam gegangen, wenn der Feind ihn drängte – und nun verschließt man ihm Leben und Liebe: – Siehe, ich habe solche Versuchungen auch erfahren und wäre ihnen zum Opfer geworden, wenn Er nicht selbst gewacht und alles gut gemacht hätte. So wird man warmen Herzens, und lässt es den Sündern wohl bei sich werden. Man verlangt nicht eingehende Schilderungen, man sucht nicht die Erläuterungen und Erzählungen, man lässt es lieber die Armen fühlen, dass man selber arm war. Zum weichen und warmen Herzen kommt dann das weite Herz.

Das weite Herz

Erbarmen, das grenzenlos ist, hat er geübt. Er hat nirgend eine Sünde von diesem Erbarmen ausgeschlossen und ist vor keinem Unrecht zurückgewichen. Er hat mit weitem Herzen Lahme, Blinde und Krüppel, die Verlorenen, die Heimatlosen, die in der Wüste Verstörten eingeladen. Lieber Christ, von diesem Ort und Quell des wahren Erbarmens lass dir das weite Herz schenken. Man hat, wenn man einmal Erbarmen erfuhr, Erbarmen erlitt – denn solche Kohlen brennen durchs Lebens hindurch feurig, – nur noch die Sorge, dass man niemand das Herz verschließe. Man hat nur noch das Bedürfnis, dass man für jeden Armen – Reiche, Sichere, Satte brauchen kein Erbarmen – für jeden Armen ein Herz habe. So habe ich versucht euch den Ort des Erbarmens zu zeigen. Es ist der Ernst seiner Gerichte und die Gütigkeit seiner Vergebung; wie eben euer Vater im Himmel barmherzig ist: tiefgründig, weit sich erstreckend, ohne Zahl und Ziel, erst dann zu Ende, wenn nichts mehr der Erbarmung bedarf. So sehen wir auf das Letzte:

III. Der Lohn der Barmherzigkeit

Wo nichts mehr der Erbarmung bedarf, nichts mehr Erbarmen empfängt. Unser Herr spricht von der Barmherzigkeit Lohn. Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet! Es wird ein Tag kommen, da ich noch einmal mich selbst erlebe. Der erste Gedanke des armen Kindes, der letzte Gedanke des zum schwachen Kinde gewordenen Sterbenden stehen in einer Flucht vor dem Herrn: wenn ich verzage, so zeigt Er mir der Schuld Bezahlung und der Sünde Vergebung. Ich komme nicht in das Gericht, sondern bin vom Tode in das Leben hindurch gedrungen. Man wird nicht verdammt. Die Verkläger stehen vor dem Tor und niemand lässt sie ein, unsere Widersacher erheben vergebens ihre Stimme, vom Himmel hör ich Gnade künden, des Sohnes Blut erlangt Gehör. Ich bin, obgleich ich auf Verdammnis gefasst war, in wunderbarer Weise überrascht, dass ich schamrot werde und meinen Mund nicht auftue, weil ich sehe, dass Er alle Sünden vergeben hat. Es wird mir in einer Weise vergeben, der ich trauen kann. Ich brauche nie mehr den Augenblick zu befürchten, in dem Er mich doch noch an mich selbst erinnert, nie mehr den Tag heraufgrauen sehen, der mir mein verkehrtes Leben in furchtbarer Beleuchtung zeige.

Überfließende Gnade

Sünden sind zerronnen wie der Nebel, Missetaten dahingezogen wie die ferne Sonne, die in das Meer sank. So ist alles vergeben, erlassen, vergessen und der Herr spricht in seiner wunderbaren Huld: Rede mir nicht mehr davon! Dann wird gegeben werden: ein volles, ein fest gedrücktes, ein überfließend Maß. Aus dieser Fülle nehmen wir Gnade um Gnade; das Herz ist zu klein, um alle die Gaben zu bergen, der Verstand zu arm, um alle Güte zu ermessen, die Ewigkeit scheint nicht hinzureichen, um für alle beschämende Guttat nach Würdigkeit zu danken. Ein überströmendes Maß von Gnädigkeit und Huld lässt alles Bittere vergessen sein. Ich weiß nicht, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, mit armen Worten auszudrücken, wenn dem Herrn selbst das Wort versagt, dass Er sich überbietend spricht: Ein voll gedrückt, gerüttelt und geschüttelt Maß wird man in euren Schoß geben! Man will es dir einprägen und es überschäumt alles; man will es in dich eingründen und es überströmt alles; man will es in die Haften lassen und es sprengt alles. Das ist die Gabe der ewigen Erbarmung.

Mit dem Maß ihr messt, wird man euch messen.

Aber freilich, ein Wort hat der Herr auch noch gesagt, sein Knecht darf es nicht verschweigen: Es kann auch eine Ewigkeit geben, über der das harte Wort steht: Mit welchem Maß ihr messt, wird man euch wieder messen. Wer karg gab, empfängt karg, wer sich nicht gab, der muss sich behalten, und wer an sich Gefallen hatte, der soll an sich bis an das Ende Gefallen tragen. Seid barmherzig in Wort, Sinn und Wesen, auf dass nicht der Jämmerlichkeit des Pharisäertums die Furchtbarkeit der unermesslichen Gottesferne folge. Seid barmherzig, damit aus Zöllnern und Zöllnerdank die Freude erwachen dürfe, die niemand von uns nehmen, jeder Augenblick der Ewigkeit aber erhöhen wird. Gott helfe uns allen, dass wir Erbarmung üben, weil wir sie empfangen haben, nicht müde werden, weil sie nicht müde wird, und zu Seiner Zeit ohne Aufhören ernten mögen.
Amen.

Das geringste Werk.

Hat unser Herr eine einzige Arbeit getan, in die er nicht sein ganzes Herz und seinen ganzen Willen gelegt hat? Er hat in jede kleinste, unansehnlichste Aufgabe sein Herz gelegt. Arbeit der Seele ist Seele der Arbeit. Arbeit der Seele, diese innerliche, hoch angestrengte, ganz hingewandte, jede Regung, jede Willenskraft einsetzende Arbeit ist der Arbeit eigentliche Seele. Je mehr du ein Christ wirst und anfängst, in der Nachfolge Jesu zu leben, desto mehr wirst du auch die Kleinigkeiten bedeutsam, die Unansehnlichkeiten groß finden. So gewiß du für jede Arbeit Interesse haben mußt, so gewiß mußt du für jedes Werk Arbeitsfreudigkeit besitzen; dadurch wird jede Aufgabe groß; denn indem du eine ganz kleine Arbeit von Herzen tust, legst du in die mechanische Beschäftigung, in das äußerliche Dienstwerk, in ein ganz entlegenes, von keinem Menschen beobachtetes Ding eine große, heiligende, einflußreiche Macht. Es ist doch etwas anderes, ob ein Weltmensch die Speisen bereitet oder ein Gottesmensch; es ist doch etwas anderes, ob ein Weltmensch Kranke pflegt oder ein Gotteskind. Es ist etwas weit anderes, ob ich eine kleine äußere Verrichtung mit einem an Gott gebundenen Gewissen vollende, oder ob ich sie rasch abfertige, weil sie mich verdrießt.

Die schlichteste Arbeit hat so viel Beziehungen zur größten, seligen Gottabhängigkeit, das Unscheinbarste führt in Abgründe der göttlichen Gesetze, zeigt eine solche Willensnotwendigkeit, daß es weit leichter ist, eine Heldentat — nach außen gleißend — zu vollbringen als die unleuchtende, unscheinbare Arbeit eines kleinen, geringen Werkes.

Indem wir von Herzen also tun, treten wir in die erlauchte Reihe all derer, die seines Reiches Zukunft auf Erden beschleunigen, all der heiligen Helden und heldenhaften Heiligen, all der Großen, deren Namen vielleicht auf Erden verklungen, aber im Himmel angeschrieben und hochgeehrt sind, all der Meister, die Christum ihren Herrn nannten. Es ist wenig erlauchtes Volk; es ist die arme Hausfrau, die ihr Haus um Gottes willen in Ordnung hält, der arme Tagelöhner, der sein Holz zerkleinert in der Furcht Gottes, der auch den kleinsten Span achtet, daß er nicht verlorengehe; es sind die Geringen, der Troß, auf den niemand sieht, die täglich ihre Hände falten: „Hilf, daß ich’s tue bald, zu der Zeit, da ich soll, und wenn ich’s tu, so gib, daß es gerate wohl!“

Was ihr groß nennt, nennt Gott klein, und was ihr klein heißt, ist bei ihm groß. Denn die Treue im Kleinen ist Heroismus im Großen, und wer im Kleinen nicht treu ist, der kann es im Großen nimmer sein. Wenn nur unter uns, die wir Gottes Wort lesen, betrachten, lieben, die einfachste gottesdienstliche Arbeit vollzogen würde: ich lege meine Seele in das geringste Werk!

Lebensregeln.

1. Tue das Schwerste zuerst, alsbald und ganz.
2. Arbeite in Leiden und ruhe in der Arbeit von ihr.
3. Sieh in jedem Menschen einen Gottesgruß an dich, der dir einmal begegnet, und vielleicht dann nimmer.
4. Gib jedem Menschen einen Gottesgruß deiner Lindigkeit, Leutseligkeit und Lauterkeit.
5. Kaufe das Heute aus, damit es die Sorgen des Morgen erleichtere.
6. Denke fleißig an den Tod, damit er dir Leben sei.
7. Freue dich an etwas, auf etwas und wisse, daß der Mensch sich der Freude schuldig ist.
8. Schäme dich des Bekenntnisses nicht, das sich deiner nicht geschämt hat.
9. Halte nichts von religiösen Stimmungen, sondern halte dich an den Ernst der Schrift und ihren Willen.
10. Sei auf der Hut, daß du nicht Pflicht und Neigung verwechselst.
11. Lies in die Bibel nichts hinein, wohl aber das Ewige für die Zeit heraus.
12. Laß deine Seele in der Furcht der Wahrheit!

Stille.

„Wer leben will und gute Tage sehen, der schweige …“ — Was einen guten Tag bringt, ist die Stille. Wie wenig hat Jesus gesprochen! Es müssen wohl Tage in seinem heiligen Leben vorübergegangen sein, ohne daß er zu seinen Jüngern anders redete als durch Schweigen. „Er antwortete kein Wort.“ In seinem alles besitzenden Leben sehen wir das Ringen um die einzelnen Worte. Er spricht nichts, es sei ihm denn von seinem Vater im Himmel gegeben. Wie wortkarg ist der Herr; aber wenn er spricht, kann ein einziges Wort Leib und Seele erquicken. Wie wortarm ist der Herr! Es sind immer wieder dieselben Worte und Begriffe, die er meint und braucht; aber in Wort und Begriff ist größtes Leben, und seine Jünger haben erfahren: er allein hat Worte des ewigen Lebens. Gerade da, wo wir die meisten Reden erwarten, da schweigt er, wartet und bleibt gelassen, und das wollen auch wir lernen. Unser Herr ist arm im Wort, damit ja kein ungutes Wort enteilen könne. Unser Herr hält sich in der Rede zurück, damit die Perlen nicht vor die Tiere geworfen werden; wer so mit seiner Rede zögert, der hat hinter dem Wort die Tat, und die Tat schließt den Himmel auf, ein Wort macht das Leben reich und froh. Aus Jesu Stille wollen wir die Stille lernen.

In der Stille, mit der man das Leben hereinnimmt, und aus der anhaltenden Kraft, mit der man es erträgt, kommt man dem Frieden näher, der höher ist als alle Vernunft. Dieser Friede legt sich beseligend und besänftigend in unser Leben. Jetzt wissen wir, wozu wir auf Erden sind: damit wir dem, dem wir nachjagen, näher kommen, und dem Ziele, darauf wir angelegt sind, von einem Tag zum andern immer klarer entgegensehen mögen.
„Im Sturm der Seele spiegelt nicht die Sonn‘ ihr heiliges Angesicht“. Aber wo ein Mensch des Redens müde vor seinem Herrn schweigt, wo er unter dem Druck der eigenen Verurteilung das scharfe Wort unterläßt, wo er lieber tausend Worte ungesprochen sein heißt, als daß ihm ein voreiliges entweicht: da setzen alle Friedensklänge ein; denn es ist ja nicht Untätigkeit, es ist Stille. Diese Gemeinde hat viel zu reden und zu urteilen von Berufs und Amts wegen; um so mehr sehnt sie sich, in das Schweigen zurückzugehen, in dem ihr Heiland wohnt und erfunden werden will. Das ist der heilige Tempel, vor dem und in dem alle Welt stille ist. Das ist die Christusgemeinschaft, bei der man sagen kann: du weißt es am besten, dir befehle ich Leib und Seele.

Wie wird überhaupt ein Mensch ein Charakter? Nie im Strom der Arbeit, sondern in der Stille des Gebets. Wie wird er wirklich eine Persönlichkeit, die andere aufrichtet? Auf den Knien, nicht im Drang der Arbeit, die schleift ab; nicht auf den Höhen des Lebens, die bringen viel Unwetter und viel Unruhe. Wo sich aber ein Mensch von sich abkehrt, mit Jesus in das Zwiegespräch tritt und mit ihm um die Stunde ringt, in der sein ganzes Leben vorbeizieht, und war nichts Gutes in ihm — alles Gute nur von Gott: da tritt die Stille ein, welche der Tat vorausgeht, und die geheime Kraft, welche den Charakter ausmacht. Ein guter Tag ist es, wenn der Mensch zweierlei verlernt und eins gelernt hat: wenn er verlernt hat, zu klagen und zu verklagen, und gelernt, sich selbst anzuklagen. Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft! Du nimmst und gibst, und gibst, um zu nehmen, und nimmst, um zu geben; dein Name ist immer gelobt!

Und nun laßt uns stille werden! Wäre der Herr draußen vor den Toren beredt geworden, so wäre sein Leiden ohne Duft und Weihe, und vor einer wortreichen Passion bebte meine Seele zurück. Denn das ist wahres Leid, das nicht reden kann. Aber weil er still und wortlos draußen vor dem Lager der Welt Erlösung vollbrachte, laßt uns stille werden und das Unsre schaffen; zu seiner Zeit wird man beredt werden ohne Aufhören.

(Hermann Bezzel)

Quelle:

Bezzel, Hermann: Auf ewigem Grunde. Ein Jahrgang Predigten über die alten Evangelien; S. 426ff. – Buch und Kunstverlag Carl Hirsch, Konstanz 1914.

Hinweis: Das Werk ist im September 2017 von Thomas Karker neu herausgegeben worden und auf der Homepage im pdf-Format downloadbar.


Eingestellt am 15. Juli 2024