Professor D. Traugott Hahn

M ä r t y r e r  d e r  z w e i t e n  b o l s c h e w i s t i s c h e n  W e l l e  1 9 1 8 / 1 9 1 9

P r o f e s s o r  D.  T r a u g o t t  H a h n
geboren im Pastorat Rauge 1. Februar 1875,
ermordet in Dorpat 14. Januar 1919

Nach überaus glücklicher Jugend bezog Hahn die Universität Dorpat, um Theologie zu studieren. Wie seiner Mutter, einer schwer leidenden Dulderin, und seinem Vater, einer entschieden christlichen Persönlich­keit, war ihm der christliche Glaube das Lebenselement. Tief in sein Leben und in seinen Glauben griff der Tod seines nur ein Jahr
jüngeren Bruders, mit dem er alles bis aufs Letzte geteilt hatte. Nach Beendigung seines Studiums in Dorpat studierte er noch in Göttingen, schrieb hier seine Schrift „Tychoniusstudien“, machte darauf seinen Magister in Dorpat und wurde, nachdem er das „prak­tische Jahr“ bei seinem Vater in Reval, St. Olai, verbracht hatte, zum Pastor der Universitätsgemeinde in Dorpat an Stelle des verstorbenen Professors Hörschelmann erwählt. Nach Veröffentlichung seiner Schrift „Evangelisation und Gemeinschaftspflege“ wurde er Pro­fessor der praktischen Theologie in Dorpat; Rostock ehrte ihn mit der
Verleihung der Doktorwürde.

Hahn lebte und webte in der Bibel. „Ein Tag, an dem ich nicht eine stille Morgenandacht gehabt, ist für mich nicht zum Aushalten“, sagte er einmal. Gott war ihm der himmlische Vater, dem er ganz ver­traute, auch das Kleinste ihm befehlend. Gott war ihm aber auch der unerforschliche Große, dessen Wesen wir nie restlos verstehen können, vor dem wir in Ehrfurcht stillhalten müssen. Weil er nie ein Fertiger, sondern ein Suchender und Ringender war, deshalb fanden die Zweifelnden und Angefochtenen den Weg zu ihm,
der selbst immer aufs neue sich die Gewißheit des Glaubens zu erkämpfen hatte. Das schwerste Problem war ihm allezeit die Sünde  ringsum und im eigenen Herzen, darum war ihm die Gnade Gottes das Herrlichste, die Quelle seiner Kraft. Weil er täglich um seine Seele sorgte, so konnte er vielen ein rechter Seelsorger werden. Seelsorgerisch wirkte all sein Tun. Das gilt vor allem von seiner Predigt.

Er, dem die Sünde die schreckliche Macht des Menschenlebens ge­worden, war ein tiefer, ernster Bußprediger, der die Gewissen seiner  Hörer zu treffen wußte; er, der selber von der Gnade lebte, predigte die erlösende Macht des Kreuzes. Er, der selbst im innigsten Um­gang mit Gott stand, drang auf persönliche Glaubensentscheidung des einzelnen für Christus. Das trat ganz besonders zutage bei seiner Konfirmandenlehre, die ihm die liebste Arbeit war. Da rang er förm­lich in Lehre und Einzelseelsorge um jede Seele, ihr zur rechten Ent­scheidung zu helfen.

Die Gottesdienste in der Dorpater Universitätskirche waren besonders weihevoll, das lag nicht daran, daß Hahn sie liturgisch reich ausge­staltete, nein, er hielt sich, wenn auch natürlich in evangelischer Frei­heit, streng an die Agende. Aber ihm war es gegeben, jedes Wort als vor dem Angesicht Gottes zu sprechen, nie wurde ein Wort der Li­turgie zur Phrase; die Art, wie er die Liturgie hielt, leitete die Ge­meinde an, mit ihm Gott anzubeten.

Im seelsorgerischen Einzelgespräch suchte er vor allem den anderen zu verstehen. Als charakteristisch sei angeführt, daß er, als er im Ge­fängnis so schwer zu leiden hatte, in einem Gespräch mit seinen Mit­gefangenen die Persönlichkeit Lenins zu analysieren suchte. Während die anderen ihn mit „Bluthund“ abtaten, suchte Hahn Lenins geistige
Wurzeln in den Schäden unserer Zivilisation aufzufinden und unter­suchte sachlich, wieweit diese den Bolschewismus begünstigt haben. Dieser stets bereite Wille, den anderen zu verstehen, machte seine Seelsorge so erfolgreich. Er kämpfte mit den Kämpfenden, rang mit den Ringenden, hielt dann aber auch mit seinem eigenen, fest in Got­tes Wort gegründeten und gereiften Urteil nicht zurück. Ob dieses strafend oder aufrichtend war, er blieb in allem ein Anwalt seines Herrn und Meisters.

Auch in seiner akademischen Lehrtätigkeit trat das seelsorgerische Mo­ment stark hervor. Die Studenten waren ihm nicht nur Hörer, die er in die Wissenschaft einzuführen hatte, sie waren ihm die jungen christ­lichen Mitbrüder, von Gott ihm anvertraut, daß er sie bilde zu Ar­beitern im Weinberge des Herrn. Seine Lieblingsdisziplinen waren die Äußere und Innere Mission. Seine Mission an den Studenten sah er darin, in ihnen das Bewußtsein zu wecken, wie ernst und verant­wortungsvoll die Übernahme des Amtes eines Pastors oder Religionslehrers sei, ihnen aber auch zu zeigen, welche Herrlichkeit Gott diesen Arbeitern bereitet hat. An den offenen Abenden seines Pastorats waren ihm die Studenten besonders willkommene Gäste, und sie kamen oft in solchen Scharen, daß das große Pastorat kaum allen Platz bot.

Der Weltkrieg griff in schwerwiegender Weise in Hahns Leben ein, auch er wurde als Deutscher aus den baltischen Landen ausgewiesen. Seine estnischen und lettischen Studenten — die Stimmen der deutschen hätten natürlich nichts bei den Russen ausrichten können — verlang­ten aber von den russischen Machthaber seine Rückkehr, und das Unerwartete geschah. Der Ausweisungsbefehl wurde rückgängig ge­macht. Hahn kehrte zurück zu seiner gesegneten Wirksamkeit in Ge­meinde und Universität. Dazu kam eine neue Aufgabe. Dorpat füllte sich mit Kriegsflüchtlingen, auch mit Balten. Es waren alles sorgen­beschwerte, heimatlos gewordene Menschen. Da gab es viel Arbeit, viel zu trösten, viel zu helfen.

Hahn hat den Konflikt, in den die Balten durch den Weltkrieg kamen, besonders schwer getragen. Deutsche sollten gegen Deutsche kämpfen und Treue dem russischen Zaren halten, der an seinen deutschen Untertanen Unrecht auf Unrecht geschehen ließ. Und weil er daran so schwer trug, konnte er vielen, besonders den Flüchtlingen, die ebenfalls darunter schwer litten, ein Ratgeber und Führer sein.

Die Not des deutschen Volkes, von Feinden umgeben, erfüllte ihn mit banger Sorge. Er freute sich von Herzen, als Dorpat im Februar 1918 von dem ersten kurzen bolschewistischen Terror erlöst wurde. Sein Herz jubelte, als durch die Deutschen die russifizierte Iurjewsche Uni­versität wieder zur alten Dorpater deutschen Alma mater wurde. Er genoß intensiv den direkten Austausch mit der deutschen Wissenschaft,  der nun den Balten geboten wurde. Aber seine Freude war eine Freude mit Zittern, er ahnte den Zusammenbruch Deutschlands und ahnte,daß damit Leiden ohne Zahl über die  baltische Heimat und speziell über die Balten kommen würden. Als der Zusammenbruch erfolgte, ging er offenen Auges den Gefahren entgegen und sah es als seine Hauptaufgabe an, seine Gemeinde auf die unmittelbar bevorstehenden Leiden zu rüsten.

Die rote Flut schwoll an. Panikartig verließen viele Balten das Land. Hahn rang mit seiner Frau, mit der er alles zu teilen gewohnt war, um Klarheit. „Er fürchtete nichts so sehr, als ein Mietling zu sein“, so entschloß er sich, zu bleiben und seiner Gemeinde zur Seite zu stehen. Keineswegs aber verlangte er dasselbe von allen, sonderlich nicht von denen, bei denen man, menschlich geurteilt, sicher annehmen mußte, daß sie beim Bleiben sofort verhaftet werden würden, wodurch sie jeder Wirkungsmöglichkeit beraubt worden wären. Das brauchte bei ihm, der politisch gar nicht hervorgetreten war, nicht als selbstverständlich angenommen zu werden, so lag für ihn, so meinte er, kein direkter Grund zu fliehen vor. Deshalb blieb er. Seine Stellung zum Leiden, das er immer im Auge behielt, hat er der Gemeinde mit fol­genden Worten gepredigt (am 2. Advent 1918): „Mein Tod liegt ganz in meines Herrn Hand. Er wird über Zeit und Art meines Todes be­stimmen. Ich werde sterben sicher nicht, wenn Zufall oder blindes Schicksal mich trifft, oder wenn böse Menschen es wollen, sondern dann, wenn mein Herr es will, nicht einen Augenblick früher oder später — und dort, wo er gerade mein Sterben brauchen wird, und so, wie Er es für nötig findet. Auch alle Umstände meines Todes wird Er, wie einst beim Sterben seines Sohnes auf Golgatha, fügen. – Gegenüber den Mächten der Finsternis braucht der Herr jetzt so viele große Dienste und hochgesinnte Diener. Möge doch in uns der urchristliche Märtyrersinn wieder aufleben, der nie zum Martyrium sich drängt, wohl aber, wenn es kommt, tapfer ihm entgegengeht.

Nur ganz Wenige von uns dürften so weit sein, aber erstreben und erbitten sollten wir uns jetzt diesen heldenhaften Christensinn. Er, der nun einmal der Herr der Märtyrer ist, braucht das Sterben der Seinen je und je, als die kostbarste Aussaat seines Reiches. — Er
braucht die Treue bis in den Tod. Er braucht furchtlose Todesbewäh­rung, damit es vor der Welt sich als eindrucksvollste Tatpredigt er­weise, daß die Christen das Gute wollen wirklich um des Guten willen, Christus um Christus willen, nicht um irdischen Glückes wil­len, — der Herr fordert diesen Dienst nicht von allen, aber von vielen, als einen besonders schweren, aber doch hohen.“

Einem Amtsbruder aber schrieb er in jenen Tagen: „Ich glaube, wir werden es vor dem Herrn der Kirche sehr ernst zu verantworten haben, ob, wann und wie wir unsere Posten, die doch Seine Posten sind, die Er uns anvertraut, räumen. Mir scheint, unser Verhalten
in solcher Zeit wiegt überaus schwer. Der Wert des Hirtenstandes ent­scheidet sich ganz wesentlich in solchen Zeiten. —  Wieviel kommt es in der Gegenwart, in dieser Zeit der Finsternis darauf an, daß auf allen Posten, wo nur irgendeine Einflußmöglichkeit besteht, kräftige Gottes- und Christuswirkungen ausgeübt werden mit Einsatz der ganzen Persönlichkeit. Wenn wir nicht bereit sind, um des Zeugnisses des Evangeliums unser Leben zu opfern, so beweisen wir, daß das Evangelium für uns nicht den nötigen vollen Wert gehabt. Kurz, daß das Bleiben auf dem Posten für uns Gefahren möglicher-, ja wahrscheinlicherweise mit sich bringt, ist für mich durchaus noch kein Grund, ihn zu verlassen.“

Die Schreckensherrschaft hob an. Am 21. Dezember 1918 weht die rote Fahne vom alten Dorpater Rathause und kündet an, daß die Dorpater Kommunisten die Herrschaft an sich gerissen haben. (Es ist der achte Regierungswechsel in zwei Jahren.) Am Tage darauf, an
einem Sonntag, rückt das russisch-estnische Bolschewikenheer in Dor­pat ein. Die Regierung erläßt die bekannten phrasenhaften Dekrete. Dorpat hat keine fröhliche, aber tief gesegnete Weihnachten gefeiert. Hahn hält, wie die übrigen Pastoren, ruhig die Weihnachtsgottesdienste, obgleich sich das Gerücht verbreitet, es würde zu Störungen
kommen. Die Kirchen sind gefüllt, die Gottesdienste weihevoll. Das Evangelium von der großen Freude wird der verängsteten Gemeindeverkündet, die alten Weihnachtslieder  erklingen —

Haussuchungen und Verhaftungen beginnen, der erste Mord geschieht. Am 28. Dezember werden alle Gutsbesitzer und Pastoren, „deren verbrecherische Hände vom Blute der estnischen Arbeiter triefen“, für „vogelfrei“ erklärt. An: 29. Dezember wird das Abhalten von Got­tesdiensten und jede rituelle Handlung „völlig“ untersagt, die Kir­chen zum Eigentum der Kommune erklärt und einem Kommissar zur Verwaltung übergeben. Am 31. Dezember wird den „Pfaffen“ be­fohlen, Dorpat sofort zu verlassen. So kann kein Gottesdienst mehr gehalten werden, statt dessen predigt der Kommunist Wallner in der Petrikirche: „Wir haben nur einen Gott, das ist das Volk selber, und dieser neue Gott ist stärker als der alte.“

Hahn sammelte kleine Kreise seiner Gemeindeglieder im Pfarrhaus und Privathäusern zu gottesdienstlichen Feiern. Er ging von Haus zu Haus, die Ängstlichen und Bekümmerten aufzurichten und zu stär­ken: „Wenn ich jetzt sterben müßte, so hätte sich mein Bleiben doch gelohnt“, sagte er zu seiner Frau nach solchem Tagewerk. Als diese ihm gegenüber einmal die feste Zuversicht aussprach, Gott werde ihn bewahren, wie Daniel in der Löwengrube, da wies er dieses als alttestamentlichen Standpunkt ernst zurück, Christus habe seinen Nach­folgern das Kreuz verheißen. Auf den Einwurf, Luther singe doch: Ein feste Burg ist unser Gott, erwiderte er, Luther fährt auch fort: Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, laß fahren dahin.

Hahn war nie lebensmüde, er liebte zu sehr seine reiche Arbeit und sein sonnig frohes Familienleben, aber es wurde ihm zur inneren Gewißheit, daß Gott von ihm das „große Opfer“ fordern würde. Am 3. Januar 1919 wurde er verhaftet und in das zum Gefängnis
eingerichtete Bankgebäude, Kompagniestraße 5, geführt. Das Arrest­lokal war im Erdgeschoß gelegen, die Fenster zur Straße vergittert, mit eisernen Läden geschlossen, die Luft zum Ersticken. Für höchstens zwanzig Personen war Raum geschafft, über fünfzig wurden ein­gepfercht. Ein ununterbrochenes Stimmengewirr ließ keine Ruhe auf­kommen, der Tabaksqualm war unerträglich. Hahn fand hier er­quickende Gemeinschaft mit dem feinen, frühvollendeten Fakultäts­genossen Professor Baron Stromberg, der nach einigen Tagen unerwarteterweise freigelassen wurde. Auch der charaktervolle grie­chische Bischof Platon und der ehrwürdige Priester Nikolai Beschanizki und viele liebe Gemeindeglieder bildeten eine gesonderte Gruppe und pflegten geistiges und geistliches Leben. Stromberg schilderte ein­mal in leuchtenden Farben seine letzte italienische Reise, Hahn rezitierte
ein andermal aus dem Gedächtnis das Gebet von Geibel, Septem­ber 1848:

Herr, in dieser Zeit Gewoge,
da die Stürme rastlos schnauben,
wahr‘, o wahre mir den Glauben,
der noch nimmer mich betrog,

Der noch sieht in Macht und Fluch
eine Spur von deinem Lichte,
ohne den die Weltgeschichte
wüster Greuel nur ein Buch;

Daß, wo trostlos, unbeschränkt
dunkle Willkür scheint zu spielen,
Liebe doch nach ew’gen Zielen
die verborg’nen Fäden lenkt;

Daß, ob wir nur Einsturz schau’n,
Trümmer, schwarz geraucht vom Brande,
doch schon leise durch die Lande
waltet ein geheimes Bau’n;

Daß auch in der Völker Gang
Wehen deuten auf Gebären,
und wo Tausend weinten Zähren,
einst Millionen singen Dank;

Ja, daß blind und unbewußt
deiner Gnade heil’gen Schlüssen
selbst die Teufel dienen müssen,
wenn sie tun nach ihrer Lust.

Herr, der Erdball wankt und kreist;
laß, o laß mir diesen Glauben,
diesen starken Hort nicht rauben,
bis mein Geist dich schauend preist!

Es beginnen die erregenden Verhöre. Hahn ward in einer Nacht her­ausgerufen, ihm wurde vorgeworfen, in einer Predigt die Bolsche­wiken, die im Frühjahr des Jahres 1918 für kurze Zeit die Herrschaft inne hatten, „Räuberhorden“ genannt zu haben, er sollte seine Freunde
und Gesinnungsgenossen nennen und sollte ein falsches Protokoll un­terschreiben, er tat beides nicht. Von ihm und Platon wurde verlangt, nicht mehr Christum zu predigen, ihre Antwort war: „Sobald un­sere Zungen wieder frei, werden wir Gott loben.“ Vom letzten Ver­hör kam Hahn ganz erschüttert zurück, soviel Roheit und Bosheit war ihm begegnet, und „ich ward verurteilt, ehe ich noch ein Wort ge­sagt“.

Die Situation wird immer kritischer, etliche, die zum Verhör gerufen, kehrten nicht wieder, was das zu bedeuten habe, wußten alle. Hahn vertiefte sich immer mehr in seine Bibel, er äußerte in jenen Tagen zu einem Mitgefangenen: „Tausendmal lieber möchte ich hungern, als ohne Bibel sein.“ Sie gab ihm Trost und Kraft, besonders hat er sich immer aufs neue in das hohepriesterliche Gebet versenkt. Aus seiner Bibel lasen auch andere, es bildete sich, da jede Andacht ver­boten war, eine stille Gebctsgemeinschaft über ein von allen gelesenes Wort. Der mitgefangene griechisch-orthodoxe Bischof Platon hatte wenige Tage vor seiner Verhaftung Hahn und einem jungen Amts­bruder gegenüber es ausgesprochen: „Deutlicher denn je sehen wir jetzt das, was wir schon längst hätten sehen sollen, daß die Unterschiede zwischen den Konfessionen nichts anderes sind als Mauern, von Men­schen errichtet, doch diese Mauern sind nicht hoch, über ihnen thront
ein Gott — unser aller himmlischer Vater.“

Hier wurde es wahr, über den Mauern fanden sich die betenden Hände. Die Eine heilige Kirche, die wir glaubend bekennen, hatte hier Gestalt gewonnen, nicht durch eine Union der Konfessionen, sondern der Leiden um des „Christen­namens“ willen. Als einer der lutherischen Pastoren dieses Kreises von einer erniedrigenden Arbeit (er war zur Reinigung der Abtritte gezwungen worden) zurückkehrte und erschüttert über die Gemeinheit zusammenbrach, tröstete ihn ein griechischer Priester mit den Worten: „Bruder, alles für Christo.“

Wie denn auch später bei der Beerdi­gung der Opfer die griechischen Priester am Sarge Hahns, „dieses Gottesmenschen“, und die lutherischen Pastoren am Sarge Platons in beredten Worten dem Ausdruck verliehen, was sie miteinander in diesen Tagen, die so ganz dem Verkehr mit Gott geweiht gewesen, Großes erlebt und fürs Leben gewonnen haben. Hier war die wahre Unio sancta, da alles Scheidende zurücktrat vor dem einen Großen: dem Kreuz um Christi willen.

Am 14. Januar 1919 heulten Granaten über die Stadt. Unter den Gefangenen verbreitete sich die Kunde, die Befreier kämen, die im Keller wußten, es naht die Entscheidungsstunde. Ein Kommissar, von zwei Bewaffneten gefolgt, ruft, von einer Liste lesend, den Bischof Platon auf, er soll sich die Überkleider anlegen und ihm folgen. Nach
ein bis zwei Minuten ertönt im Keller unter dem Arrestlokal der Bank eine dumpfe Detonation, der Kommissar erscheint wieder, der Priester Beschanizki wird aufgerufen, es wiederholt sich dasselbe. In die atem­lose Stille der Zelle ruft einer: „Im Keller unter uns“ undjeder weiß, was das bedeutet. Als dritter wird Hahn aufgerufen, mit auf der Brust gefalteten Händen, nach oben gerichtetem Blick ver­läßt er mit großen Schritten das Zimmer.

So geht es fort bis zum neunten, — dann standen die Befreier vor der Tür. Die Henker flüchteten, ohne die Blutarbeit zu beenden, sie brachten ihr Leben in Sicherheit. Auf dem Korridor des Gefängnisses fand sich Hahns Bibel, sie öff­nete sich immer beim Aufschlagen auf der Seite, da geschrieben stand 2. Kor. 12, 9:

„Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Die Gnade Gottes hat ihn stark erhalten bis zuletzt und hat ihm die Kraft gegeben, auch das Schwerste zu tragen: Hingegeben zu sein an die Macht der Finsternis, Luk. 22, 53

Als Hahns Leiche aus dem „Mordkeller“ in sein geliebtes Pfarrhaus getragen wurde und aufgebahrt war, trat eine Frau, deren Mann auch ermordet worden war, an die Leiche Hahns heran, streichelte die Hände des Toten und sagte immer aufs neue tief ergriffen: „Ströme des Segens“. Ja, Ströme des Segens sind von ihm ausgegangen, die Ewigkeit wird sie offenbaren. Seine Gemeinde und seine Studenten, die als Hörer zu seinen Füßen gesessen, danken ihm über das Grab für sein Lehren und Leben und seine Treue, die er mit seinem Tode be­siegelt.

Quelle: Oskar Schabert, Pastor zu St. Gertrud in Riga: Baltisches Märtyrerbuch, Furche-Verlag. Berlin 1926. S. 76-85. [Digitalisat, pdf]

Nachwort

Grabstein von Universitätsprediger
Traugott Hahn (1875-1919)

Am Sonntag vor seiner Ermordung durften Traugott Hahns Kinder, darunter der spätere baden-württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn, ihren Vater noch einmal im Gefängnis besuchen. Am 14. Januar 1919 befreiten estnische Truppen Dorpat und etwa 300 Gefangene. Im sogenannten Mordkeller fand man unter 21 weiteren Ermordeten auch die Leichen von Traugott Hahn und Pastor Wilhelm Schwartz jun., die noch kurz vor dem Abzug der Kommunisten erschossen worden waren.

Als der Getötete in sein Pfarrhaus getragen wurde, sang Anny Hahn mit ihren vier Kindern das in der Familie am meisten geliebte Weihnachtslied:

Kommt und laßt uns Christum ehren,
Herz und Sinnen zu ihm kehren;
singet fröhlich, laßt euch hören,
wertes Volk der Christenheit!

Sünd und Hölle mag sich grämen,
Tod und Teufel mag sich schämen;
wir, die unser Heil annehmen,
werfen allen Kummer hin.

Schönstes Kindlein in dem Stalle,
sei uns freundlich, bring uns alle
dahin, da mit süßem Schalle
dich der Engel Heer erhöht.