Psalm 94, 11

Aber der HERR weiß die Gedanken der Menschen, daß sie eitel sind.
Psalm 94, 11

Wo ist aber die Wahrheit zu finden? Ich antworte: nicht in den eigenen Gedanken des menschlichen Herzens, sondern in dem Worte Gottes.

Nicht in den eigenen Gedanken des menschlichen Herzens, sage ich, und weiß sehr wohl, daß ich damit der ganzen Richtung und Neigung unserer Zeit widerspreche; denn die Richtung dieser Zeit geht auf das eigene Ich des Menschen, auf das, was im Innern des Menschen denkt, will und lebt; das ist ihr die Quelle und das Maß der Wahrheit. Aber der gotterleuchtete Sänger des 94. Psalms sagt: „Der Herr weiß die Gedanken der Menschen, daß sie eitel sind”, und der König Israels, der sich doch auch in aller menschlichen Weisheit wohl umgesehen und den Ruhm des weisesten unter den Fürsten erlangt hatte, der spricht: „Wer sich auf sein Herz verläßt, der ist ein Narr”. Und er hat wahr geredet.

Denn die Gedanken des Menschen kommen aus dem Herzen des Menschen, des Menschen Herz aber ist nicht die Quelle der Wahrheit, und kann es auch nicht sein; denn die Wahrheit, wenn es anders Wahrheit gibt, wird nicht erfunden noch erdacht, ist auch nicht von gestern oder heute, noch wird sie morgen eine andere, sondern es ist ihre Natur, in sich selber ewig und unveränderlich zu sein. Die Gedanken des menschlichen Herzens aber kommen und gehen; die Weisheit der Welt wandelt ihr Kleid je nach der Gestalt und Meinung der Zeiten, der sie angehört, und wie glänzend auch ihre jeweiligen Erzeugnisse seien, es gilt doch von ihnen allen das Wort des Propheten: „Alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Fleisches wie des Grases Blume, das Gras ist verdorrt, die Blume ist abgefallen”.

In dem Vergänglichen liegt das Wahrhaftige nicht. Das menschliche Denken kann die Wahrheit nicht erfinden, und hat sie auch nicht gefunden, wie die ganze Geschichte bezeugt. Denn gesucht haben sie allerdings Jahrhunderte lang nach diesem Kleinod, geforscht und gerungen haben die edelsten Geister der Vorzeit darnach mit Aufbietung ihrer besten Kräfte — und man soll nicht gering achten, was sich ihnen annäherungsweise davon erschlossen hat; aber das Ende war doch die Verzweiflung an der Wahrheit, die Pilatusfrage: „Was ist Wahrheit”? — das Bekenntnis Hiobs: „Wo will man Weisheit finden und wo ist die Stätte des Verstandes? Niemand weiß, wo sie liegt und ist verborgen den Augen aller Lebendigen” (28, 14.). Arme Menschheit, wenn das der Austrag deiner langen Geistesarbeit, wenn dies die Summe und das Ende deiner Weisheit ist! Was ist ein Menschenleben ohne Wahrheit als eine Nacht ohne Sternenlicht von Oben, was ist ein Mensch, dem die Erkenntnis der Wahrheit fehlt, als ein irrender Wanderer, der in der Finsternis tappt und am Ende in die Grube fällt! Und doch liegt in jenem Bekenntnis noch unendlich mehr Weisheit verborgen als in dem Hochmut derer, die da wähnen, ihr fleischlicher Verstand sei das Maß aller Dinge im Himmel und auf Erden, ihre Vernunft die Quelle, aus der die Strahlen des ewigen Lichtes fließen. „So du einen siehest, der sich dünken lässt, weise zu sein, da ist an einem Narren mehr Hoffnung als an dem”, sagt der König Israels.

Nein, Andächtige, in dem eigenen Herzen findet man die Wahrheit nicht. Im Gegenteil, es betrügt den, der sie darin sucht, betrügt ihn um die Erkenntnis seiner selbst, seines Gottes und seines Heiles. Und man darf nur Acht haben auf die Gedanken, die sich die Welt über die Beschaffenheit des menschlichen Herzens macht, wie sie die Schäden und Wunden desselben zudeckt, entschuldigt, beschönigt und trotz aller Sünden und Flecken es doch noch „ein gutes Herz” nennt – oder die Gedanken, die sie sich über Gott macht, so sieht man leicht, daß das ein bleiches Schattenbild der Wahrheit ist: ein Gedichte des eigenen fleischlichen Herzens, wie man es gerne hätte, ein wesenloser Gott, eine namenlose Macht, die gleichsam verborgen hinter den Wolken des Himmels thront und die Dinge auf Erden dahingehen läßt, wie sie eben gehen; ein Gott, der nicht gar viel nach den Wegen und Sünden der Menschen fragt, der keinen heiligen Eifer verzehrenden Zornes gegen die Übertreter seiner Gebote, und ebensowenig ein offenes Vaterherz für die Witwen und Waisen und ein Ohr für das Seufzen der zerstoßenen und zerschlagenen Gemüter hat.

Quelle: Der Weg zur Wahrheit. Predigt von Gottfried Thomasius (1802-1875), lutherischer Theologe, ord. Professor der Theologie und Universitätsprediger zu Erlangen.