Nur nicht müde werden (2. Kor. 4, 16-18 / Traugott Hahn)

«Darum werden wir nicht müde; sondern, ob unser äußerlicher Mensch verdirbt, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag erneuert. Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig» (2. Korinther 4, 16-18).

Blicken wir am heutigen Abend auf das verflossene Jahr zurück, so klingen gewiß zwei Worte dieses Spruches bei den meisten stark an: «Unsere Trübsal». War nicht dieses Jahr auch vielen, vielen von uns eine Trübsal, so voll wachsender Sorgen, Nöte und Tränen! Nicht allen freilich. Mögen diese aber bedenken, wie vielen um sie her und Unzähligen in der Ferne es ein Jahr bisher ungeahnten Herzeleids und Herzbrechens gewesen ist.

Weiter sagt Paulus: Der äußere Mensch verdirbt. Wie viele Menschenleben, auch gerade frische, starke Menschenleben hat dieses große Todesjahr [1916] gebrochen! Und wie vielen, die jene Gestorbenen über alles geliebt, verdarb damit zugleich ihr irdisches Leben!

Wie viele edle Lebensformen, wie viele Gemeinschaften sind in diesem Jahr zerfallen! Welch ein Zerbrechen haben gerade wir in unserer Heimat erlebt! Und wäre es nur ein Zerbrechen, wie oft ist es auch ein Verderben! Und noch droht es immer weiter zu gehen: Das Leiden und Sterben, das Zerbrechen und Verderben!

Drängt sich da nicht vielen zum Jahresschluß ein zwiefaches Bekenntnis auf: Ich werde müde und mutlos. Ich bin müde geworden, all das Schreckliche zu hören, zu erleiden, mitzuleiden. Ich bin müde und werde mürbe. Hatten die meisten früher Mut gegenüber unserer Zeit, vielen ist er entschwunden oder im Entschwinden. Das kann trost- und kraftlose Deprimiertheit sein, aber auch fromme Herzen können pessimistisch werden. Dachte einst mancher, es werde eine fruchtbare Zeit, in der Gott viel Neues schaffen will, so will sie ihm jetzt überwiegend als eine Gotteszeit des Gerichts und Verderbens erscheinen, wo die Völker einander nur züchtigen, aufreiben, ja zugrunde richten sollen. Es ist auch recht, wenn uns je und je der furchtbare Gottesernst dieser Zeit gewaltig
packt.

Aber nun tritt uns heute an der Jahreswende Paulus entgegen. Oder eigentlich ist es, wie
letztlich immer, sein Herr, Jesus Christus, der durch Paulus, seinen Boten, redet. Jesus und Paulus, diese beiden großen Kreuzträger, wollen bei keinem von uns jenen Pessimismus dulden. Wir sollen auch bei diesem Jahreswechsel sprechen, wie ein Paulus immer gesprochen (V. 16): «Wir werden nicht müde!»

Und sollte es auch noch lange so weitergehen, ja noch viel schlimmer werden, sollte das
Verderben wie bei Millionen meiner Brüder und Schwestern mein eigenstes Außenleben ergreifen, auch dann soll es weiter heißen: Ich bin und werde nicht müde. – Man kann unser Pauluswort auch übersetzen: Wir werden nicht mutlos [Menge: nicht verzagt]. Bei klarer Einsicht ins Verderben dieser Zeit sollen wir doch aus dem alten Jahr in das neue hinübergehen mit einem ungebrochenen, tapferen, ja freudigen Mut.

Gewiß gibt es viele, die Paulus mit Freuden zustimmen: Wir sind noch nicht entmutigt! Aber dürfen wirklich alle, die so denken, mutig sein? Paulus sagt: Wir werden nicht mutlos. «Wir», das heißt hier durchaus nicht «alle Menschen». Mit ganz Bestimmten schließt Paulus sich zusammen. Nur «wir», die wir mit Paulus gehen, brauchen nimmer mutlos zu sein. Dagegen hätten viele allen Grund, ihren leichten Mut fallen zu lassen. Der rechte Prediger muß in Gottes Namen ebenso sehr gegen grundlose, leichtfertige Hoffnungsseligkeit ankämpfen wie gegen Mutlosigkeit. Wer darf denn Mut haben und wer nicht?

Kein Grund zu mutiger Hoffnung ist überall dort, wo es bei Zerfall des äußeren Lebens, aber oft auch ganz ohne einen solchen, einen inneren Zusammensturz oder überhaupt einen inneren
Rückgang gegeben hat. Leider ist es zweifellos, da in den letzten Jahren es weithin in erschütterndem Masse im persönlichen Leben, bei kleinen Gemeinschaften wie bei Riesengemeinschaften, viele innere Bankrotte schon gegeben und andere sich noch vorbereiten. Viele bekennen: Unter den Schlägen, die sie getroffen, haben sie das «bisschen» Idealismus, Glauben, sittliche Kraft, das sie noch hatten, verloren, oder ihr Innenleben ist gar verdorben, verbittert und vergiftet.

Daseinzusehen, ist freilich ein furchtbarer Jahresschluß. Aber wehe, wenn es bei vielen anderen, von ihnen selbst kaum bemerkt, in ähnlicher Richtung wie bisher weitergeht! Denn es ist besser, sein fortschreitendes Verderben, seine innere Entkräftung unter tiefer Demütigung einzugestehen, als verblendet und verstockt weiterzuirren und in ein sicheres inneres und schließlich auch äußeres Verderben hineinzurennen.

Dagegen ist überall da Grund zu gutem Mut, wo trotz äußerem Verfall oder auch ohne
einen solchen neues inneres Leben, bei einzelnen wie bei Gemeinschaften eine neue innere Welt entstanden ist oder auch sich verjüngt, gefestigt, entwickelt hat.

Wir wollen dabei keineswegs die Bedeutung des äußeren Lebens wie der äußeren Weltgeschichte herabsetzen. Lassen wir die Ereignisse unseres Lebens wie der Geschichte nie nur auf uns niederfallen; lassen wir sie vielmehr Tag für Tag an uns arbeiten. Betrachten wir jedes einzelne Geschick, das an uns herankommt, nicht nur äußerlich, sondern suchen wir sein Inneres zu erschauen und zu erleben. Hoffnungsgrund haben allezeit nur sie, die Paulus hier bezeichnet als «uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare». Zu ihnen rechnen wir alle, die sich nicht vom gewaltigen äußeren Geschehen benehmen lassen oder doch solche Benommenheit immer wieder energisch von sich abschütteln. Ferner alle, die in der Geschichte ihrer Zeit immer zumeist auf die innere Geschichte, auf die Geistesbewegungen, Geisteskämpfe
achten. Doch auch in der inneren Geschichte gilt es zu unterscheiden zwischen Hochwertvollem und weniger Wertvollem; immer auszuschauen nach dem, was wert ist zu bleiben; zu suchen nicht das Seelische, sondern das Geistige, weniger das Interessante als das im Vollsinn Wahre, weniger das Ästhetische als das Sittliche. Gewiß ist es schon schätzenswert, wenn ein Lebensstreben in echtem, starkem Idealismus auf so Hohes ging.

Aber Paulus und Christus in ihm wollen viel mehr. Nicht nur ein Achten auf solches, das nicht geradezu flüchtig ist, sondern ein Trachten nach Ewigem. Bei der Kürze dieses Lebens sollen wir bei nichts Geringerem verweilen. Streben wir nicht nur nach Wertvollem, sondern nach dem Wertvollsten, das genügend Wert und Kraft hat, um durch Gott ewig zu bleiben. Dessen sicher können wir aber nur sein bei allem, was von Jesus
Christus her ist, sei es nun das unmittelbar im höchsten Sinn Heilig-Geistige – das Geistliche; sei es auch alles Natürliche, das durch ihn wahrhaft erlöst, vergeistigt, verewigt ward. –

Schliesslich aber suchen wir bei allem in erster Linie den, der durch diese ganze Zeit und alle Erlebnisse an uns arbeitet: Unseren Gott selbst. Er will sich finden lassen besonders von denen, die alles betend und Gottes Wort brauchend durchleben. In dieser großen Zeit sehen wir, welch eine besonders eindringende Wucht jedes Gotteswort hat, das in Begleitung von gewaltigen Gottestaten und Gottesschlägen kommt! Gerade bei allen, denen es so sehr auf das Wachsen und Reifen der inneren Welt aus Gott ankommt, daß sie schon dankbar wären, wenn solches der einzige Ertrag unserer Zeit wäre, darf man am ehesten hoffen, dasß Gott ihnen schliesslich auch geben wird eine sichtbare äußere Erhörung in kaum geahnter Herrlichkeit.

Doch da besteht noch eine andere Gefahr, selbst für solche, in denen alles bisher Gezeigte schon keimt. Die Trübsal hält schon so lange an und will nicht enden. Da werden sie müde. Aber nur ja nicht müde werden! Auch demgegenüber gibt uns Paulus hier ein wunderstarkes Wort:

«Unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schaffet eine ewige und über alle Massen wichtige – genauer gewichtige – Herrlichkeit».

Auch wir sollen – so will es der Apostel – die Tapferkeit finden, unsere gesamte Trübsal eine «kurze und leichte» zu nennen. Wie kann das möglich werden? Seien wir weitblickend. Lernen wir, nie nur auf die schweren Augenblicke, Wochen, Monate,
ja Jahre zu blicken, sondern schauen wir immer auch zugleich darüber hinaus auf das ganze lange Leben, in dem es nun einmal auch solche scharfe Zeiten des Aufpflügens geben muß. Denken wir immer ebenfalls an die danach getrost zu erwartenden Jahre des Wachsens und Blühens, wie an die in der Geisteswelt oft viel länger währenden Jahre des Fruchttragens, die umso reicher und besser zu erhoffen sind, je gründlicher das qualvolle, verletzende Pflügen war. – In außerordentlich schwerer Trübsalszeit denken wir auch an unsere Kinder, ja an viele kommende Generationen, auch an die Langlebigkeit eines Volkes. Was die Väter im Unglück – das doch dann kein Unglück war – geworden und an inneren Gütern erworben, ihre edelsten Tränensaaten – das sollen nach Gottes Ordnung die Nachkommen erben; ja nach einer sonderlichen Trübsalsgeneration, die jedoch
nimmer ermüdete, sollen mehrere Generationen, wohl gar Jahrhunderte, die edelsten Früchte, eben die Leidensfrüchte, im Frieden geniessen und weiterpflegen.

Merken wir nur unter Trübsalen in uns das Keimen einer neuen Gottessaat, es wird uns dann nicht mehr zu lang vorkommen. – Liegt es uns dazu wirklich daran, daß für das Ganze jetzt etwas Großes erreicht wird, müssen wir dann nicht bei wahrhaftiger Prüfung zum Schluß gelangen: Gottes Trübsalspflug ist noch nicht tief genug gedrungen, noch längst nicht! – Gingen uns nur die Augen dafür auf, wie über alle Maßen wichtig und herrlich die Welt des Reiches Gottes schon auf Erden ist, die religiös-sittliche, die Glaubens- und Liebeswelt, verglichen mit aller materiellen, aber auch der nur ästhetischen
Glückskultur! Erkennten wir dazu, daß diese Gotteswelt in der sündigen Menschheit eigentlich nur unter langen, schweren Trübsalen begründet und herausgearbeitet wird, dann werden wir es vermögen, auch unter Zittern zu beten: Herr Gott, höre mit deinen heiligen, gnädigen Gerichten nicht zu früh auf; nicht früher, als bis wirklich mein Volk, mein Reich, meine evangelische Kirche, überhaupt die eine christliche Kirche, ja meine Menschheit für Jahrhunderte wieder geläutert und gestählt wird!

Aber Paulus will heute noch viel mehr. Wir wollen die Augen über diese Erde hinaus erheben und in ewige Weiten richten. Gott hat es sich ja vorgesetzt, der Menschheit wie den Einzelnen eine Ewigkeit zu bereiten, uns für ein ewiges Bleiben, eine ewige Herrlichkeit reif zu machen. Wie fliehen doch all die Jahre, ja Jahrzehnte so rasend schnell dahin, je älter man wird, umso mehr empfindet man das. Wie schnell wird der letzte Erdenabend da sein! Welch ein befreiendes Evangelium ist da heute die Botschaft von der Ewigkeit, die Gott uns geben will! Welch ein Evangelium, das für viele glauben zu dürfen, die als jugendliche Opfer auf dem Wege zur kommenden Zeit gefallen! Erst wenn es mir gegeben wird, wirklich zu glauben an eine große, große, über alle Maßen herrliche Ewigkeit vor jenen und vor mir, dann werde ich imstande sein, immer wieder
tapfer zu sprechen: Gegenüber dieser Ewigkeit ist meine Trübsal kurz und leicht. Und dann wird die Seele nimmer müde werden.

Amen.