Ich behalte dein Wort in meinem Herzen, auf daß ich nicht wieder dich sündige. (Ps. 119, 11)
Es gibt Zeiten, wo die Einsamkeit uns zuträglicher ist als Gesellschaft, und Schweigen weiser ist als Reden. Wir wären bessere Christen, wenn wir öfter allein wären und auf den Herrn harrten, und durch die Betrachtung seines Wortes geistliche Kräfte zur Arbeit in seinem Dienste sammelten. Wir sollten schon deshalb über die göttlichen Dinge nachdenken, weil wir nur auf diese Weise wahrhafte Nahrung aus ihnen schöpfen können. Die Wahrheit gleicht der Weintraube: wenn wir Wein aus ihr bereiten wollen, so müssen wir sie zerstoßen; wir müssen sie keltern und wiederholt pressen. Des Kelterers Füße müssen kräftig auf die Beeren treten, sonst fließt der Most nicht heraus; sie müssen die Trauben tüchtig zerstampfen, sonst geht viel des köstlichen Getränks verloren. So müssen wir mit forschender Betrachtung die Trauben der Wahrheit treten, wenn wir den Wein des Trostes daraus empfangen wollen. Unser Leib lebt nicht allein davon, daß er Speise in den Mund nimmt, sondern erst durch die Verdauung werden Muskeln und Sehnen, Nerven und Knochen recht gestärkt und gekräftigt. Durch die Verdauung erst wird die äußerliche Nahrung zu einem Erhaltungsmittel des innerlichen Lebens. Unsre Seelen werden nicht bloß dadurch genährt, daß sie eine Zeitlang dies, dann das hören, was auf die göttliche Wahrheit Bezug hat; sondern das Hören und das Lesen, das Aufmerken und das Lernen verlangt eine innere Verarbeitung, damit sich dadurch ihre gesegnete Wirksamkeit in völligem Maße vollziehe; und diese innerliche Verarbeitung der Wahrheit beruht zum größten Teil darauf, daß dieselbe im Herzen bewegt wird. Woher kommt’s, daß manche Christen trotz vieler Predigten, die sie hören, so langsame Fortschritte in einem göttlichen Leben machen? Weil sie das Gebet in ihrem Kämmerlein vernachlässigen, und nicht mit Ernst und Eifer sich der Betrachtung des Wortes Gottes hingeben. Sie lieben den Weizen, aber sie reinigen ihn nicht; sie möchten gern das Korn haben, aber sie mögen nicht aufs Feld gehen, um das Korn zu schneiden; die Frucht hängt am Baum, aber sie wollen sie nicht pflücken; das Wasser fließt zu ihren Füßen, aber sie wollen sich nicht bücken, es zu trinken. Von solcher Torheit mache uns frei, o Herr, und unser heutiger Entschluß sei:
„Ich behalte Dein Wort in meinem Herzen.“
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