Die Notwendigkeit, Gesetz und Evangelium zu verbinden (Härter)

Denn das Gesetz ist durch Moses gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden.

(Joh. 1, 17)

Eine Betrachtung über Matthäus 22, 34-46.

Zwei Fragen bilden den Inhalt dieses bekannten Abschnittes. Die erste ist gesetzlicher Art. Ein Schriftgelehrter fragt den Herrn: Welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz? – Jesus aber antwortet ihm mit den Worten, die das Gesetz in seiner Fülle und höchsten Vollendung darstellen: Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, und von ganzem Gemüt; dies ist das vornehmste und größte Gebot; das andere aber ist dem gleich: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst; in diesen zweien Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.

Nun aber kommt die Reihe zu fragen auch an den Herrn; er wendet sich zu den Pharisäern, die bei einander waren, und spricht: Wie dünket euch um Christo? Wessen Sohn ist er?!“ – Diese Frage ist nicht gesetzlicher, sondern evangelischer Art, denn sie bezieht sich ausschließlich auf das Gnadenwerk, welches die ewige Barmherzigkeit Gottes stiftete zur Erlösung des verlorenen Menschengeschlechtes. Die gelehrten Leute wußten aber auf diese Frage nichts Anders zu erwidern, als: Christus sei Davids Sohn. Da warf ihnen der Herr eine andere Frage in den Weg, die sie auf einmal verstummen machte: Wie geht es denn zu, daß David im Geist Christum einen Herrn nennt, da er sagt: Der Herr hat gesagt zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis dass ich lege deine Feinde zum Schemel deiner Füße? [1] So nun David ihn Herr nennt, wie ist er denn sein Sohn?“

[1] Ps. 110, 1

Das Gesetz ist Allen bekannt; es ist der Buchstabe [2], der in die Steine gebildet, einem Jeden, der nur lesen kann, ein unwiderrufliches Zeugnis gibt. Das Evangelium hingegen ist das Geheimnis Christi, das von der Welt her verschwiegen gewesen und nur dem Glauben offenbar ist [3] ; darum konnten die Gesetzlehrer die Psalmworte, welche der Herr ihnen vorlegte, nicht erklären, denn sie erkannten das Geheimnis der Gottheit Christi nicht.

[2] 2. Kor. 3, 7.8
[3] Röm. 16, 25-27

Gesetz und Evangelium sind beide göttlichen Ursprungs. Das Gesetz sagt, was Gott von uns nach seiner Heiligkeit fordern muß; das Evangelium, was Gott uns aus freier Gnade schenken will; jenes ist der Wille der göttlichen Gerechtigkeit zur Bestrafung des Sünders, dieses der Liebeswille Gottes zur Rettung des Sünders; beide scheinen einander entgegengesetzt und sind doch im Grunde innig und ewig eins. Dies zu fassen ist uns von höchster Wichtigkeit, denn in der Verbindung von Gesetz und Evangelium besteht das wahre Christentum. Laßt uns also sorgfältig erwägen:

Die Notwendigkeit, Gesetz und Evangelium zu verbinden.

Um diese Notwendigkeit darzutun, wollen wir betrachten:

1. Das Gesetz ohne das Evangelium.
2. Das Evangelium ohne das Gesetz.
3. Die Verbindung von Gesetz und Evangelium.

1. Das Gesetz ohne das Evangelium.

Das Gesetz ist ewige Wahrheit und tut sich dem Gewissen eines Jeglichen kund; aber die Menschen, in ihrer Verblendung, täuschen sich selbst, und ob sie gleich das Gesetz verstehen und hochstellen, wenden sie es doch nicht auf die rechte Weise an, nämlich nicht auf sich selber, um zur Erkenntnis ihrer Sünden zu gelangen, und einzusehen, daß sie einer Erlösung bedürfen. Dies ist bei den meisten Ungläubigen der Fall; wir treffen bei ihnen gewöhnlich das Gesetz ohne das Evangelium an, und zwar meist nur als Naturgesetz, doch oftmals auch als geoffenbartes Gesetz.

Das Naturgesetz ist der Überrest der göttlichen Wahrheit, welche sich noch bei den Heiden im Gewissen geltend macht [4]; denn so die Heiden, die das geschriebene Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, so sind die selbigen, obwohl sie das Gesetz nicht haben, ihnen selbst ein Gesetz, wodurch sie beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihren Herzen.

[4] Röm. 2, 14-16

Auch der roheste, versunkenste Mensch, der ganz ferne von Gott im natürlichen Tod dahin geht, hat doch noch eine Ahnung von dem, was er tun sollte in den Verhältnissen, worin er steht; er fühlt, dass eine Pflicht von höherer Hand ihm aufgelegt ist, und wird dadurch unwillkürlich an einen Gesetzgeber und Richter erinnert, vor dem er einst sich wird verantworten müssen. Daher kommt es auch, daß selbst unter den heidnischen Völkern der Begriff einer Fortdauer nach dem Tode und eines künftigen Vergeltungszustandes angetroffen wird; doch sind diese Einsichten gar getrübt durch die Sünde, welche verwüstend das Naturlicht umnebelt, so daß bei den Heiden, neben den Spuren der Rechtlichkeit, die größten Gräuel sich vorfinden; denn die Erfahrung lehrt, daß man niemals darf der Menschennatur zutrauen, sie könne auf eigener Spur die wahre Tugend erlangen, weil ein Abgott mit seiner finstern Macht alles Tun des natürlichen Menschen beherrscht, und dieser Abgott ist das Ich, welches tyrannisch seine Begierden zu befriedigen sucht und sich zu trösten pflegt mit dem Gedanken, daß, was im Dienste dieses Götzen geschieht, unvermeidlich und deswegen auch erlaubt sei.

Anders gestaltet sich das Bewußtsein derer, welche das geoffenbarte Gesetz haben, wie wir solches bei den Juden finden; diese erkennen den wahren Gott und seinen heiligen Willen im Licht des Sinai; die Donnerstimme des drohenden Zornes Gottes bezeugt einem Jeglichen, daß Gott sich nicht spotten läßt; aber das erschrockene Menschenherz findet sich bald wieder zurecht und weiß sich in seinen stolzen Gedanken auf eine verkehrte Weise zu beschwichtigen. Der Apostel Paulus sagt dieses den Juden mit nachdrücklichen Worten [5]: Siehe, du heißt ein Jude und verläßt dich auf das Gesetz und rühmt dich Gottes und weißt seinen Willen, und weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist, prüfest du, was das Beste zu tun sei und vermißt dich zu sein ein Leiter der Blinden, ein Licht derer, die in Finsternis sind, ein Züchtiger der Törichten, ein Lehrer der Einfältigen, hast die Form zu wissen, was recht ist im Gesetz. Nun lehrst du Andere und lehrst dich selbst nicht“.

[5] Röm. 2, 17-21

Es ist unbegreiflich, wie der Mensch darin sich selber täuschen kann, aber die Erfahrung zeigt es täglich, daß der Unglaube auch unter den Bekennern der wahren Religion das Gesetz künstlich zu umgehen weiß.

Die Hauptkunst bei diesem Selbstbetrug besteht darin, daß man Gesetzeswerk und Gesetzeserfüllung nicht von einander unterscheidet. Die heilige Schrift ist darin sehr klar; Sie nennt nämlich Gesetzeswerk, das was der Mensch nach äußerlichem Schein tut, in eigener natürlicher Kraft, um sich und Andere dadurch zu täuschen, als hätte er getan, was das Gesetz fordert. Die Heiden können nicht anders als Gesetzeswerk tun, wie wir vorhin gehört haben; die Juden aber begnügten sich auch damit; ja sie meinten sogar, sie könnten noch mehr leisten, als was das Gesetz vorschreibt, durch ihre äußerlichen Werke, durch Fasten, Zehntengeben und allerlei, was vor den Augen der Welt für Zeichen der Frömmigkeit und Heiligkeit gehalten wird. Dagegen tritt nun das Zeugnis des Heiligen Geistes mächtig auf und erklärt: Der Mensch kann mit des Gesetzes Werken nimmermehr vor Gott bestehen, „denn durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht“ [6].

[6] Gal. 2, 16

Die Gesetzeserfüllung unterscheidet sich von dem Gesetzeswerk hauptsächlich dadurch, daß sie aus dem Grunde eines gläubigen Herzens hervorgeht, welches Lust hat zu Gottes Gebot. Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung [1], kann sich aber nur in den Begnadigten finden, wo das göttliche Leben vorhanden ist, denn Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm [2]. Diese Liebesgemeinschaft mit Gott fehlt überall, wo das Evangelium fehlt; darum wird der Mensch, durch das Gesetz allein, weder gebessert noch getröstet. Er wird nicht gebessert, denn die Erfüllung des Gesetzes ist ihm nicht möglich, er hat dazu weder Lust noch Kraft und begnügt sich mit dem Schein, der am Tag des Gerichts wie ein Nebel vor der Sonne verschwindet. Er wird aber auch nicht wahrhaft getröstet, denn der sich selbst Betrügende wird in Augenblicken des Gerichts, die schon diesseits des Grabes kommen, aus seiner Ruhe aufgeschreckt, und die Täuschung hört endlich völlig auf, wenn ihm der Tod die Binde von den Augen reißt.

So sieht es aus, da wo das Gesetz getrieben wird ohne das Evangelium. Es ist der traurige Zustand des natürlichen Menschen, der stets darauf ausgeht, sich selbst zu rechtfertigen und dennoch keinen wahren Frieden finden kann, weder im Leben noch im Sterben.

Doch auch das Evangelium ohne das Gesetz ist nicht fähig, den Menschen zu Gott in das rechte Verhältnis zu bringen; zwar könnte man mit vollem Recht sagen: das Evangelium sei gar nicht vorhanden, wo das Gesetz nicht geachtet wird; allein es ist doch eine gewisse evangelische Erkenntnis manchen Seelen angelernt, die alsdann mit einem Wahn von Frömmigkeit sich begnügen, von ihrem Christentum viel Redens machen, und auf eine entsetzliche Weise sich selber täuschen über den gefährlichen Zustand, in dem sie stehen.

2. Das Evangelium ohne das Gesetz

finden wir bei manchen Wahngläubigen, welche zwar erweckt wurden, aber nicht willig zur Bekehrung waren. Die Erweckung ist ein Werk der zuvorkommenden Gnade des heiligen Geistes, der dem Menschen das Ohr und Auge der Seele öffnet, daß er die Wahrheit hören und den Weg des Lebens sehen kann und muß; doch nicht jeder, der den Ruf vernommen und den rechten Weg gesehen hat, ist auch entschlossen, ihn zu wandeln, die fleischlich gesinnten und hochmütigen Seelen schlagen Nebenwege ein, auf welchen sie behaupten, schneller zum Ziel zu kommen; die Demütigungen, welche mit der Buße verbunden sind, gefallen ihnen nicht, und unter dem Deckmantel christlicher Freiheit suchen sie nur, was ihrer Selbstsucht wohlgefällt. Das sind die, welche Rotten [3] machen, die hin und her in die Häuser schleichen, und führen die Weiblein gefangen [4]. Die Begabtesten unter ihnen treten als Propheten auf, verhüllen ihre reißende Wolfsnatur unter dem Schafskleid [5], versprechen den Menschen den Frieden und ausgezeichnete Förderung in der Vollkommenheit, und betören auf diese Weise manche Anfänger im Christentum, die in ihrer stolzen Ungeduld schnell möchten am Ziel stehen und den Frieden Gottes schon genießen, bevor sie recht gekämpft haben. Es ist unsäglich, wie viel Schaden dadurch an den Orten angerichtet wird, wo das Evangelium angefangen hat, die Seelen aus dem Schlaf der Sicherheit zu wecken; die Neulinge, die jungen Christen, welchen noch die nötige Erfahrung und gründliche Einsicht in die ewige Wahrheit mangelt, lassen sich leicht blenden durch die Art, wie solche Verführer ihnen die Schrift auslegen; da heißt es: Christus ist des Gesetzes Ende, wer an den glaubt, der ist gerecht [6]! –

Siehe, du glaubst ja, darum stehest du nicht mehr unter dem Zuchtmeister [7], das Gesetz geht dich also nichts mehr an, und was du tust ist auch nicht mehr Sünde; denn wer durch die Taufe aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde, ja er kann nicht sündigen, wie die Schrift sagt [8]! – Solche Worte, wenn sie von falschen Schriftauslegern den Unerfahrenen vorgelegt werden, schmeicheln gar sehr

[1] Röm. 13,10

[2] 1. Joh. 4,16

[3] Judas 19

[4] 2. Tim. 3,6

[5] Mat. 7,15 ff.

[6] Röm. 10,4

[7] Gal. 3,25

[8] 1. Joh. 3,9

den Wünschen des noch nicht erneuerten Herzens, und der Gedanke, auf eine leichte Weise von der dringenden Notwendigkeit täglich Buße zu tun sich zu entledigen, wird ihnen nahe gelegt; anstatt in dem Gesetz den heiligen Vaterwillen Gottes zu erkennen, wozu allein der wahre evangelische Glaube Licht und Kraft gibt, sehen sie das Gesetz nur als eine unangenehme Störung ihrer Ruhe an, und werden so die Beute jener falschen Propheten, die ihnen mit ihren Lehren den Sinn verwirren, dass sie auf dem breiten Wege abwärts gehen, sich immer einbildend, sie wären die Auserwählten Gottes und trügen das Siegel des Heiligen Geistes an sich, während sie ihre heiligsten Pflichten mit Füßen treten und selbst dasjenige versäumen, was mancher unerweckte Mensch in seinen häuslichen Verhältnissen gewissenhaft nach dem Naturgesetz beobachtet.

In welche Gefahr werden aber dadurch die armen Seelen gestürzt! Mit schwindelndem Hochmut verstocken sie sich gegen jede Warnung, und weil sie das Gesetz nicht mehr achten, fahren sie frevelnd dahin in leichtfertigem Wesen, das sie ganz dem Verderben preisgibt; sie hatten im Geist angefangen und enden im Fleische.

Heil denen, die noch zur Zeit mit Schrecken gewahr werden, wie sie vom Gehorsam des Glaubens und der Liebe Gottes abgekommen sind! Aber wie viele bleiben verstockt; leider steht für solche nichts Anderes zu erwarten, als das schreckliche Gericht, welches der Herr in seiner Bergpredigt denen ankündigt, die zwar Herr, Herr sagen, aber den Willen des Vaters im Himmel nicht tun [1]; ihnen wird Christus als Richter an jenem Tag zurufen: Ich habe euch noch nie erkannt, weicht alle von mir, ihr Übeltäter!“, und versinkend vor dem zürnenden Angesicht des Heiligen Gottessohnes, fliehen sie in die äußerste Finsternis, wo Heulen und Zähneklappern ist.

Wenn also das Gesetz ohne das Evangelium nicht weiter führt als zum fruchtlosen Gesetzeswerk, und das Evangelium ohne das Gesetz die größte Seelengefahr für die Getäuschten herbeiführt, so sehen wir deutlich, wie notwendig es ist, Gesetz und Evangelium stets zu verbinden.

3. Die Verbindung von Gesetz und Evangelium

liegt der ganzen Offenbarung der Heiligen Schrift zum Grunde, und zwar im alten und neuen Testament. Im alten Testament ist das Gesetz vorherrschend und das Evangelium verhüllt, weil Der noch nicht gekommen war, welcher voller Gnade und Wahrheit das Werk der Welterlösung in seinem Blut stiftete, indem er den Fluch des Gesetzes auf sich lud; dennoch ist auch in den Schriften des alten Bundes das Evangelium deutlich vorhanden, und jeder kann es erkennen, der den aufgeschlossenen Glaubenssinn Abrahams und seines Samens hat; denn die Verheißungen eines Erlösers ziehen sich von dem Anfang der Geschichte unseres gefallenen Geschlechtes, bis zur letzten Prophetenstimme der vorchristlichen Zeit, und die ganze Gottesverehrung des levitischen Tempeldienstes, mit seinen zahlreichen Zeremonien, ist eine fortlaufende Bilderschrift, worin das evangelische Geheimnis des weltversöhnenden Opfertodes Christi dargestellt wird.

In den Schriften des neuen Bundes aber treten erst Gesetz und Evangelium mit vollster Klarheit hervor, in der Person des Heilandes und in seinem ganzen Wort vom Kreuze. Viel schärfer als Moses hat Christus das Gesetz gepredigt; er enthüllte seine geistliche tiefe Bedeutung, und forderte dessen Erfüllung auf eine solche Weise, dass Jeder, der ihn hörte, davon ergriffen ward, und mancher wie Petrus ausrufen musste: „Herr, gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch!“ [2]

Doch Jesus Christus, der gewaltige Prediger des Gesetzes, wie er sich in seiner Bergpredigt darstellt, ist zugleich in seiner Person das Evangelium selber, und wer an Ihn glaubt, als an den eingebornen Gottessohn, und sein Herz ihm hingibt, bekommt die Versicherung des Anteils an dem teuren

[1] Mat. 7,21-23

[2] Luk. 5,8

Lösegeld, das Er, unser Bürge, für die ganze Menschheit bezahlte, als er sein Blut auf Golgatha vergoss.

Zugleich wird dem Gläubigen die Versicherung gegeben, dass der heilige Geist ihn nun in seine Schule nehmen wolle, um ihn zu erziehen zum Erfüller des Gesetzes, indem er die Liebe Gottes ausgießt in das gläubige Herz des Gnadenkindes, und ihm eine Freudigkeit und Kraft verleiht, den Willen des Vaters zu tun.

Dies ist der feste Grund, auf welchem alle wahren Bekenner Jesu Christi stehen, von der Apostel Zeit an bis an das Ende der Tage. Die ersten Christen hatten durch das Evangelium die selige Gewissheit ihrer Begnadigung, aber nicht um mit Beseitigung des Gesetzes leichtsinnig die Gnade auf Mutwillen zu ziehen; sie wurden die Heiligen genannt, weil als notwendige Folge ihrer Rechtfertigung durch den Glauben an Jesum Christum die ganze Aufgabe ihres Lebens in der Heiligung bestand, und ihr treuer Wandel vor Gott, in der Lust zu seinen Geboten, bewies es deutlich, dass durch der Apostel Lehre das Gesetz nicht aufgelöst, sondern hoch und herrlich aufgerichtet ward[1].

Alle lebendigen Glieder der evangelischen Kirche haben von jeher dasselbe getan.

Besonders deutlich tritt die Vereinigung von Gesetz und Evangelium in der merkwürdigen Reformationszeit hervor, wo alle wahren Reformatoren, welche das Evangelium wiederum auf den Leuchter stellten, dass es durch sein sanftes Licht den Menschen den Weg der Bekehrung und Begnadigung wies, auch die mächtige Predigt des Gesetzes damit verbanden, die Herzen zur Buße riefen und allen Gläubigen die Notwendigkeit, der Heiligung nachzujagen, ernstlich einschärften.

Nur Schwärmer waren es [2], die in jener Zeit die Ordnung der Obrigkeit und die Vorschriften der Sittlichkeit frevelnd verwarfen. Alles was Zucht und Ehrbarkeit heißt, wurde von den Gottesmännern in der erneuerten Kirche nachdrücklich gehandhabt.

Auch jetzt finden wir, dass jeder wahre evangelische Christ, dem es ein Ernst ist mit dem ewigen Heil seiner Seele, eben so fest an dem Gesetz als an dem Evangelium hält, weil er wohl weiß, dass nur durch die Vereinigung beider die Menschheit wahrhaft gesegnet wird.

Die wahre Kirche, oder die Gemeinschaft der Heiligen, hat die große Aufgabe, der Menschheit ein wohltätiges Salz zu bereiten, welches alles faule auflösende Wesen entfernt. Wo nun die echt evangelische Kirche Christi gepflanzt wird in den fernen Heidenländern, da sieht man die Sündengräuel verschwinden, Ordnung und Frieden in den Gemeinden einkehren, und einen stillen Segen von der Predigt des Wortes Gottes ausfließen gleich einer Lebensquelle, auf alle Verhältnisse in Staat und Familie.

Die Kinder ehren die Eltern; die Eltern versorgen und erziehen mit größerer Treue ihre Kindlein; das Band der Ehe wird geknüpft und geachtet und das gegenseitige Zutrauen der Glieder des Volkes auf einen festen Grund bürgerlicher Ordnung erbaut; die Obrigkeiten erkennen ihre Pflichten gegen die Untertanen, und diese erfüllen mit größerer Lust, was sie zum gemeinen Besten mitwirken sollen; das Alles ist die vereinte Wirkung des Evangeliums, welches die erweckten Herzen bekehrt, und des Gesetzes, welches den bekehrten Herzen die Richtschnur des Lebens vorschreibt.

Am herrlichsten zeigt sich aber die wohltätige Wirkung der innigen Verbindung von Gesetz und Evangelium in denen, die aufrichtig in der Nachfolge Christi wandeln; da erwächst aus dem

[1] Röm. 3,31

[2] z.B. die Wiedertäufer

Glaubensleben eine heilige Liebestat nach der andern, und immer schöner gedeiht das Reich Gottes, wie ein großer Lebensbaum in seinen mannigfaltigsten Verzweigungen; weil die gesunde Kraft sich darin ungehindert entfalten kann, und doch immer in den Schranken bleibt, welche für unsere gefallene Natur unentbehrlich sind, so lange wir nicht von dem Leib des Todes völlig frei, dorthin eingehen können, wo der Verführer keine Macht mehr hat, die Seelen mit seinen Lockungen zu blenden.

Dies ist, meine Geliebten, was wir auch an Christus selbst, dem großen Vorbild aller menschlichen Vollkommenheit, sehen; Er war dem Gesetz untertan, so lange er im Stand der Erniedrigung wandelte, und doch war er der Freieste, denn sein ganzes Wesen und Wirken stand im liebenden Gehorsam, der stets nur tat, was dem Vater wohlgefiel. Die wahre Freiheit des Christen ist die Freiwilligkeit, den Willen seines Gottes und Heilandes zu tun, und diese Freiwilligkeit gestaltet sich nur in einem erneuerten Herzen, welches Gesetz und Evangelium stets vereint; denn da waltet der Glaube, der durch die Liebe tätig ist, und der Mensch wird durch Gottes Gnade zu allem guten Werk geschickt, wie geschrieben steht: Wir sind sein Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, zu welchen Gott uns zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen [1].

Herr, führe uns Alle als freie Gotteskinder auf diesen schmalen Glaubenswege, durch deine Nachfolge, zur seligen Vollendung in der Liebe hinan [2]!

Amen.

[1] Eph. 2,10

[2] Eph. 4,12-18

Quelle: Glaubensstimme – Die Archive der Väter

Gesetz und Evangelium. Eine Betrachtung über Matthäus 22, 34-46, von F. Härter, Pfarrer an der Neuen=Kirche zu Straßburg. Gedruckt bei Witwe Berger=Levrault, Judengasse, 33. Straßburg 1855. [Digitalisat]

Eingestellt am 7. August 2022 – Letzte Überarbeitung am 22. August 2022