Nicht lange Zeit nach meiner Unterredung mit der Blinden wurde ich zu einer vierwöchentlichen Evangelisationsarbeit nach M. eingeladen, und zwar von vier vereinigten Gemeinden der Methodisten-, Kongregationalisten-, Baptisten- und Evangelischen Gemeinde.
Die Kapellen dieser Gemeinden, in welchen abwechselnd unsre Gottesdienste gehalten wurden, lagen sich gerade gegenüber. Die Leute erwarteten anscheinend eine Erweckung, und die verschiedenen Denominationen arbeiteten in harmonischer Weise zusammen.
Die Stadt war nicht groß. Es waren in derselben nur fünf Kirchen und Kapellen und vierzehn Schenken. Die Christen waren entschlossen, die Zahl der letzteren zu verringern. Eine Schenke war im Besiz eines Mannes, namens John Macgrath, der neben derselben eine große Tonnenfabrik hatte, in welcher neunzig bis hundert Arbeiter Beschäftigung fanden.
Der Wirt pflegte am Samstag Abend in seinem Wirtshause seinen Leuten den Wochenlohn auszuzahlen. Leider schuldeten die meisten ihm gewöhnlich schon soviel für starke Getränke, daß sie kaum noch die Hälfte ihres verdienten Lohnes bar erhielten.
Diese Schenke war fast unmittelbar neben der Methodistenkapelle gelegen, und nicht selten hetzte Macgrath seine Kunden auf, den Gottesdienst zu stören. Er pflegte Knaben mit kleinen Papierkugeln zu versehen, um dieselben an Türen und Fenstern der Kapelle zu werfen und auf diese Weise uns zu ärgern. Ja, er erklärte ohne Rückhalt, wer von seinen Arbeitern unsre Versammlungen besuche, werde augenblicklich entlassen. Sein Haß war so groß, daß er weder Bibel noch Gebet oder Gesangbuch in seinem Hause dulden wollte. Destomehr sehnten sich Frau und Kinder dieses Widersachers nach unsern Gottesdiensten, und kamen manchmal heimlich in unsre Versammlungen. Von den verschiedenen Kapellen aus vereinigten sich eine Anzahl Frauen, um von Haus zu Haus zu gehen und die Leute zu den Versammlungen einzuladen. Sie gingen auch nicht an den Wirtshäusern vorbei, sondern luden auch da die Gäste ein zur Predigt und zum Gebet. Als sie Macgraths Haus erreichten, stand der Besitzer am Ende des Schanktisches. Bei ihrem Eintritt nötigte er sie, einen Schluck zu nehmen, worauf eine der Frauen antwortete: „Wir sind nicht gekommen, um zu trinken, sondern um für Sie und Ihre Familie zu beten“. Darauf kniete sie mit ihren Freundinnen nieder und betete, während John Macgrath mit beiden Ellbogen den Kopf auf den Schanktisch stützend, sich die Ohren zuhielt und laut lachte.
An diesem selben Abend baten die Frau des Wirts und ihre älteste Tochter um die Fürbitte der Gemeinde. Einer seiner Freunde, der zufällig auch anwesend war, eilte hinaus, um John zu sagen, was Weib und Kind getan. Der Wüterich war über dieses Unerhörte so erbost, daß er in Hemdsärmeln, so wie er hinterm Schanktisch gestanden, in die Kapelle stürzte, seine Frau beim Arm, die Tochter bei den Haaren ergriff, und beide mit der Drohung vom Abendmahlstische schleppte: „Geht nach Hause und tut eure Arbeit. Ertappe ich euch wieder hier, so sollt ihr die Peitsche fühlen“.
Dieses alles war in solcher Geschwindigkeit geschehen, daß keine Zeit war, sich ins Mittel zu legen, und wäre das auch der Fall gewesen, es würde sehr fraglich gewesen sein, ob es geraten sei, dem groben, jähzornigen Menschen in den Weg zu treten. Hatte er doch schon manchmal Frau und Kind aufs unbarmherzigste geschlagen, wenn sie zur Kirche gegangen waren.
Diese unsre Versammlungen hatte jedoch einen so tiefen Eindruck auf die Mißhandelten gemacht, daß beide entschlossen waren, trotzz allen Widerstandes des Mannes und Vaters Gott zu dienen. Viele Gebete für die Familie Macgrath stiegen zum Herrn empor, und die Erhörung folgte bald. Nicht nur Frau und Tochter, sondern auch drei und zwanzig von den Leuten des Wirts wurden bekehrt. Letztere wurden zwar sofort von ihm entlassen, fanden aber bei christlichen Mitbürgern Arbeit und Verdienst. Frau Macgrath kaufte eines Abends, als sie von der Versammlung zurückkehrte, eine Bibel. „Was hast du da?“ rief ihr Mann ihr zu. Sie aber antwortete: „Bitte, John, sei nicht böse, sondern höre mich an! Seit unsrer Verheiratung hast du neun Bibeln verbrannt; ich bitte dich, laß mir diese! Beraube mich nicht dieser Freude!“
Ich möchte sie nicht verschließen, sondern sie in meiner Kammer auf dem Tische liegen haben. Willst du mir nicht diese Vergünstigung gewähren? Der Unerbittliche riß ihr jedoch das Buch aus der Hand und warf es mit der Drohung ins Feuer, alle Bücher,welche sie ins Haus brächte, würden denselben Weg gehen. Die arme Frau aber ging bis zum Tode betrübt in ihre Kammer warf sich auf die Kniee und flehte, der Herr möge sie entweder zu sich nehmen oder das Herz ihres Mannes bekehre, sie könne es nicht länger aushalten.
Trotz der Drohung des Mannes ließen sie und die Tochter sich indes nicht von dem Besuch der Versammlungen abhalten, und die Christen ließen dem Verfolger sagen, wenn er die Seinen wieder in einem Gotteshause störe oder sie zu Hause mishandle, so würden sie ihn gerichtlich belangen.
Inzwischen hatten drei Wirte ihre Schenke geschlossen und nahmen täglich teil an unsern Gottesdiensten; wir waren jedoch entschlossen, auch John Macgrath zu gewinnen. Unser Feldzug hatte ungefähr neun Tage gedauert, als ich zu John Macgrath gerufen wurde. Er war krank und wußte nicht, was ihm fehlte. Ich fand ihn mit kaltem Schweiß bedeckt im Bett.
„Was fehlt Ihnen, Herr Macgrath?“ fragte ich.
„Ich weiß nicht, ich fühle mich schlecht durch den ganzen Körper und fürchte, daß ich sterben muß“, war die Antwort.
„Sie werden noch nicht sterben! Freund, Ich denke vielmehr, die Gebete Ihrer Frau Tochter und Hunderter Christen in dieser Stadt sollen jetzt erhört werden. Ist’s Ihnen recht, daß meine Frau und ich mit Ihnen beten?“
Er flüsterte, ich möge die Tür schließen, und nachdem ich es getan, knieten wir zum Gebet nieder.
Den ganzen Tag über war ein Christ bei ihm, einer wechselte mit dem andern den Platz an seinem Bette, und es war auffallend, daß den ganzen Tag weder ein häßliches Wort noch ein Tropfen Branntwein über seine Lippen kam.
Ähnlich wie Saulus von Tarsen war der Verfolger in tiefer Überzeugung von seiner Sünde. Nachts kam kein Schlaf in seine Augen. Ungefähr ein Uhr nachts wurde seine Angst so groß daß er glaubte, etwas tun zu müssen. Um seine Frau nicht zu stören, stand er geräuschlos auf. Wie gern hätte er eine Bibel gehabt, aber es war keine zu finden; er hatte ja alle verbrannt. Später gestand er, er hätte gern tausend Mark für ein Exemplar gegeben, er hatte aber nicht das Herz, seine Frau zu bitten, ihm eine zu besorgen. Hatte er doch vor erst wenigen Tagen ungeachtet ihrer Bitten das letzte Eremplar, das sie ins Haus gebracht, ins Feuer geworfen.
Der arme Mann war wirklich in großer Bedrängnis. Er durchsuchte das ganze Haus, ob er nicht etwas finden möchte, das ihm Erleichterung verschaffe. Das einzige, was er fand, waren einige Blätter aus einem Sonntagsschulbuch, welche das Küchenmädchen aus Furcht, der Hausherr möchte sie finden und zerreißen, im Küchenschrank versteckt hiel.
Der Finder schloß die Küchentür, um zu lesen. Immer wieder las er die köstlichen Verheißungen aus dem Worte Gottes welche auf diesen Blättern gedruckt standen. Er hätte beten mögen, da er aber seit seinem sechsten Jahre, als die Mutter gestorben war, nicht gebetet hatte, wußte er gar nicht recht, wie er es machen solle. Endlich fiel er auf die Kniee und sprach das Bußgebet des Zöllners: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Er legte sich diese Nacht nicht wieder zum Schlafe nieder, sondern ging anscheinend in großem Kummer in der Kammer auf und ab Als seine Gattin ihn teilnehmend fragte, was ihm fehle, antwortete er: „Frau, ich bin in großer Not; aber laß dich nicht stören und sorge dich nicht um mich“.
„O John, kann ich dir nicht irgendwie behilflich sein?“, fragte die besorgte Frau, worauf der Bedrängte antwortete: „Nein, liebes Weib, nur Gott kann mir helfen“.
Am folgenden Morgen war John Macgrath in der Gebetstunde. Langsam ging er auf die Kanzel zu, warf sich vor derselben auf die Kniee und bedeckte sein Gesicht. Es waren diesmal nur sechs und zwanzig Personen zu der Gebetsversammlung erschienen. Als sie den ehemaligen Widersacher erblickten, fielen unwillkürlich alle auf die Kniee und lobten einer nach dem andern Gott. War es ihnen doch wie ein Telegramm vom Himmel, daß John Frieden gefunden habe. Und so war es in der Tat.
Nach beendigter Versammlung bat er mich, mit nach seinem Hause zu gehen. Unterwegs kaufte er eine Bibel und schrieb in dieselbe:
„Meiner lieben Frau am siebzehnten Februar, Ich habe die letzte Bibel verbrannt, will jedoch mit Gottes Hilfe diese lesen und studieren. John Macgrath“.
Und noch mehr. Noch an diesem selben Tage ließ er bis auf den letzten Tropfen alle geistigen Getränke aus seinen Fässern und Flaschen laufen und erklärte, er wolle nie wieder ein Glas an die Lippen bringen oder jemand in Arbeit nehmen, der es tue. John Macgrath ist jetzt ein glücklicher Mann und dient dem Herrn Jesus.
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Quelle:
Lebens=Erfahrungen des Evangelisten Dr. M. L. Roßvally,
Verfasser des „S t e r b e n d e n T a m b o u r“
Hamburg, Druck und Verlag von J.G. Oncken Nachfolger (Phil. Bickel), 1891.
[Digitalisat]