Johannes 8, 31.32

„Jesus sprach nun zu den Juden, welche ihm geglaubt hatten: Wenn ihr in meinem Worte bleibet, so seid ihr wahrhaft meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh. 8, 31.32)

Wer scheidet Schein und Wahrheit? Wer ist dazu fähig? Wenn ich auf die Weise sehe, wie sich die anderen verhalten, was ist hier echt und was nachgemacht, was erlebt und was erlernt, was Wirklichkeit und Leben und was Theaterspiel? – Doch laß die anderen.

Es trägt jeder seine eigene Last, hat seine eigene Verantwortlichkeit und steht oder fällt seinem Herrn. Frage dich, was ist an dir Wahrheit und was Einbildung, was ist in dir gewurzelt und gewachsen und was ist fremdes Eigentum, das du als Schaustück in dir trägst, als wäre es dein? Es gibt unter uns nicht wenige, die die Frage quält: ist nicht alles, was man Christentum nennt, Einbildung, „Autosuggestion“, nicht nur die Geschichte Jesu mit ihren Wundern, sondern auch das eigene religiöse Empfinden, das, was wir unsere Erfahrung heißen, unsere Gegenwehr gegen unseren boshaften Willen, unser Gott hingegebener Glaube bleibt, unsere zum Dienst bereite Liebe, ist nicht alles Schein, alles nur der natürliche Trieb der Eigensucht, hier nur verhüllt in einer phantastischen Tracht?

Weil uns diese Sorge quälen kann, wollen wir Jesus dafür danken, da er uns einen Maßstab gegeben hat, der das Echte vom Unechten trennt und uns die Wahrheit erkennbar macht. Dieser Maßstab ist das Bleiben in seinem Wort. Wenn sein Wort klar wie die Tageshelle, durchdringend wie ein Sonnenstrahl, mächtig wie der Hieb eines zweischneidigen Schwerts in mich hineintritt, dann flüchtet sich alles, was nur Schein und Farbe und Traumbild ist. Was sein Wort aushält und an seinem Wort sich bewährt, das ist echt, hat Wirklichkeit und ist von Gott gepflanzt.

Erforsche mich, Herr, und prüfe mich. Vertreibe den Schein, befreie mich vom Lügen und stelle mich auf den Felsen der Wahrheit. Dein Wort ist die Schule der Wahrhaftigkeit. In der Schule der Menschen lerne ich Verstellung und Falschheit. Du aber bist der Weg für mich, weil du die Wahrheit bist. Amen.

 

 

 

 

 

(Adolf Schlatter)

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Jede neue Wahrheit ruft zuerst einen scharfen Widerstand wach: Ohne Kampf mit dem Gegensatz kommt’s zu keinem Erkennen der Wahrheit. So geht’s im Herzen des Einzelnen und so in der Geschichte der Völker. Darum hat es bei mir so lange gedauert, daß ich die Wahrheit des Werkes Jesu an meiner Seele bekämpfte. Mein Stolz und mein Leichtsinn bäumten sich dagegen auf. Dadurch war die Wahrheit gezwungen, sich immer stärker zu entfalten. Plötzlich merkte ich, daß ich keinen vernünftigen Grund, sondern bloß Trotz und Widerstand dagegen aufbot. Wie schämte ich mich meines blinden kindischen Trotzes! Jetzt gab ich nach, und im selben Augenblick erkannte ich erst die ganze Größe und Schönheit der Wahrheit: aus Gnaden selig!

Man erkennt sie nur durch völliges Nachgeben. Jetzt erst, wo ich ihr gehorchen wollte, konnte sie meinen gebundenen Willen befreien und mich in den neuen Fesseln ihrer Freiheit gehen lehren. Mit jedem Schritt wurde die befreiende Macht stärker und mein Tritt gewisser. Wohl hat diese Freiheit auch ihre Formen und ihre Art, auf die man selbstverständlich Rücksicht nimmt, aber diese Gebundenheit der Freiheit ist die Macht der neuen Überzeugung, und diese wirkt befreiend bei allem Drang.

Lieber Heiland, ich bitte dich, lehre mich jede neue Wahrheit aus deinem Wort im Zusammenhang mit den früher erfahrenen Gnaden erkennen, damit jeder Widerstand bei mir aufhört und du mich ganz frei machen kannst! Amen.

(Samuel Keller)


Bildnachweise:

Adolf Schlatter: PD-alt
Keller, Samuel, Pfarrer in Düsseldorf; aus Bestand: AEKR Bibliothek BK3005

Tagesvers zum 28. November 2023


Eingestellt am 19. April 2022 – Letzte Überarbeitung am 28. November 2023