2. Thessalonicher 2, 11.12

Darum wird ihnen Gott kräftige Irrtümer senden, daß sie glauben der Lüge, auf daß gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glauben, sondern haben Lust an der Ungerechtigkeit. (2. Thess. 2, 11.12, LUT)

Der Apostel Paulus an die Thessalonicher über die Offenbarung des Antichrists, an die sich der Tag des Herrn unmittelbar anschließen wird.

Viele Aussprüche der Evangelien und der Apostel über das Jüngste Gericht Gottes muß ich übergehen, sonst würde das Buch einen viel zu großen Umfang annehmen; doch den Apostel Paulus muß ich jedenfalls noch zu Worte kommen lassen mit jener Stelle aus dem Brief an die Thessalonicher, wo er sagt (2. Thessalonicher 2, 1-12):

„Wir beschwören euch, Brüder, bei der Ankunft unseres Herrn Jesu Christi und unseres Kreises um ihn, daß ihr euch nicht so leicht aus der Fassung bringen und erschrecken lasset, weder durch Geisteseingebung noch durch Berufung auf ein Wort oder einen Brief von uns, als ob der Tag des Herrn schon vor der Türe stünde, damit euch nicht jemand irgendwie betöre; denn zuvor kommt erst noch der Abtrünnige und wird sich der Mensch der Sünde offenbaren, der Sohn des Verderbens, der Widersacher, der sich erhebt über alles, was Gott heißt oder verehrt wird, so daß er im Tempel Gottes sitzt, sich brüstend, als wäre er Gott. Entsinnt ihr euch nicht, daß euch dies gesagt wurde, als ich noch bei euch war? Und seht auf die Gegenwart: ihr wisset, was aufhält, bis er zu seiner Zeit sich offenbart. Denn schon ist das Geheimnis der Bosheit am Werk. Es halte nur fest, wer jetzt festhält, bis er aus dem Wege geschafft ist; und dann wird der Bösewicht offenbar werden, den der Herr Jesus töten wird mit dem Hauche seines Mundes; der wird durch die Klarheit seiner Gegenwart den vernichten, dessen Gegenwart kraft der Wirkung Satans sich äußern wird in lauter trügerischen Machttaten, Zeichen und Wundern und in lauter Verführung zur Bosheit für die, welche verloren gehen, darum, weil sie die Liebe zur Wahrheit nicht in sich aufgenommen haben, durch die sie hätten gerettet werden können. Deshalb wird Gott über sie eine Kraft schicken, die sie betört, so daß sie dem Truge glauben und gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern der Bosheit zugestimmt haben.“

Kein Zweifel, vom Antichrist macht Paulus diese Aussagen; der Tag des Gerichtes wird erst kommen, sagt er, nachdem zuvor der Antichrist gekommen ist, den er den Abtrünnigen nennt, abtrünnig natürlich von Gott dem Herrn. Kann man diesen Ausdruck mit Recht von jedem Gottlosen gebrauchen, wieviel mehr dann von ihm! Dagegen ist ungewiß, was für ein Tempel Gottes gemeint ist, worin der Antichrist sitzen wird, ob die Ruinen des Salomonischen Tempels oder aber die Kirche; denn ein Tempel irgendeines Götzen oder Dämons kommt nicht in Betracht; einen solchen würde der Apostel nicht Tempel genannt haben. Wegen dieser Schwierigkeit wollen manche als Antichrist an dieser Stelle nicht den Fürsten selbst verstanden wissen, sondern sozusagen seinen gesamten Leib, d. i. die ihm zugehörige Menschenmenge im Verein mit ihm als ihrem Fürsten; es würde dann im lateinischen Text statt „so daß er im Tempel Gottes sitzt“ richtiger heißen müssen „so daß er für den Tempel Gottes sitzt“, wie es im griechischen Texte heißt, also an Stelle des Tempels Gottes, gleich als wäre er der Tempel Gottes, d. i. die Kirche; wie wir sagen: „Er sitzt da für einen Freund“, d. i. als ein Freund, und was dergleichen übliche Redewendungen mehr sind. Wenn es dann weiter heißt: „Und seht auf die Gegenwart: ihr wisset, was aufhält“, d. i. ihr wisset, was verzögert, was die Ursache seines Zögerns ist, „bis er zu seiner Zeit sich offenbart“, so wollte Paulus das nicht ausdrücklich angeben, weil ja die Thessalonicher es ohnehin wußten.

Aber wir wissen es nicht und möchten so gern in die Gedanken des Apostels eindringen, ohne doch trotz aller Mühe dazu imstande zu sein, zumal da die folgenden Worte den Sinn noch mehr verdunkeln. Sie lauten: „Denn schon ist das Geheimnis der Bosheit am Werk. Es halte nur fest, wer jetzt festhält, bis er aus dem Wege geschafft ist.“ Was ist damit gemeint? Ich gestehe, daß ich mir völlig unklar bin, was der Apostel damit sagen wollte. Doch seien wenigstens die Vermutungen angeführt, die ich darüber zu hören oder zu lesen in der Lage war.

Manche vertreten die Ansicht, der Ausspruch beziehe sich auf das römische Reich, und der Apostel Paulus habe es nur deshalb nicht ausdrücklich nennen wollen, um sich nicht der falschen Beschuldigung auszusetzen, als habe er dem römischen Reich, das doch als ewig galt, Schlimmes gewünscht; er hätte also mit den Worten: „Denn schon ist das Geheimnis der Bosheit am Werk“ auf Nero angespielt, dessen Taten bereits die des Antichrists zu sein schienen. Im Zusammenhang mit dieser Anschauung vermutet man auch wohl, Nero werde sich wieder erheben und werde der Antichrist sein; oder er habe überhaupt nicht Selbstmord verübt, sondern sei nur in einer Weise beiseite gebracht worden, daß man ihn tot glaubte; in Wirklichkeit sei er lebendig verborgen gehalten und verharre in der Blüte der Jahre, worin er zur Zeit seines vermeintlichen Selbstmordes stand, bis er zu seiner Zeit erscheine und in die Herrschaft wieder eingesetzt werde. Aber diese Ansicht dünkt mich allzu absonderlich und abenteuerlich. Dagegen mag man die Worte: „Es halte nur fest, wer jetzt festhält, bis er aus dem Wege geschafft ist“ recht wohl auf das römische Reich beziehen, wie wenn es also hieße: „Es herrsche nur, wer jetzt herrscht, bis er aus dem Wege geschafft wird“, d. i. beseitigt wird. „Und dann wird der Bösewicht offenbar werden“, womit der Antichrist gemeint ist, wie niemand bezweifelt.

Andere jedoch legen sich die Sache so zurecht: sie beziehen beide Aussprüche: „Ihr wisset, was aufhält“ und „das Geheimnis der Bosheit“, das am Werk ist, ausschließlich auf jene Bösen und Heuchler, die es innerhalb der Kirche gibt bis zu dem Zeitpunkt, da ihre Zahl eine Höhe erreicht, die dem Antichrist ein großes Volk verschafft; und das sei das Geheimnis der Bosheit, weil es verborgen ist; zum treuen Ausharren im Glauben aber mahne der Apostel die Gläubigen, wenn er sage: „Es halte nur fest, wer jetzt festhält, bis er aus dem Wege geschafft ist“, nämlich bis das Geheimnis der Bosheit, das jetzt verborgen ist, aus der Kirche verschwindet. Diese Auslegung bezieht nämlich eben auf das hier erwähnte Geheimnis die Worte des Johannes in seinem Brief (1. Joh. 2, 18.19):

„Kinder, es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, daß der Antichrist kommen wird, so sind hinwieder gerade jetzt viele Antichriste aufgetreten; und daran erkennen wir, daß die letzte Stunde ist. Aus unserer Mitte sind sie ausgegangen, aber sie gehörten nicht zu uns. Hätten sie zu uns gehört, so wären sie ja bei uns geblieben.“

Wie also, so erklärt man, vor dem Ende, in der Stunde, die Johannes die letzte nennt, viele Häretiker, die er als Antichriste bezeichnet, aus der Mitte der Kirche ausgegangen sind, so werden seinerzeit alle aus ihr hinausgehen, die nicht zur Gefolgschaft Christi, sondern zu der des Antichrists gehören, und damit wird der Antichrist offenbar werden.

So vermutet also der eine dies, der andere das hinter den dunklen Worten des Apostels; über allem Zweifel fest steht jedoch, daß er gesagt hat: Christus wird zum Gericht über die Lebendigen und die Toten erst kommen, nachdem vorher sein Widersacher, der Antichrist, gekommen ist, die der Seele nach Toten zu betören; doch bildet es allerdings bereits einen Teil des Gerichtes, daß diese von ihm betört werden. Denn „dessen Gegenwart wird sich“, wie es heißt, „kraft der Wirkung des Satans äußern in lauter trügerischen Machttaten, Zeichen und Wundern, und in lauter Verführung zur Bosheit für die, welche verloren gehen.“ Jetzt wird nämlich der Satan losgelassen werden und durch jenen Antichrist mit all seiner Kraft eine zwar wunderbare, aber trügerische Wirksamkeit entfalten. Man ist indes darin nicht einig, warum diese Werke trügerische Zeichen und Wunder heißen. Der Trug kann nämlich auf Seiten der blöden Sinne liegen; dann würden es Blendwerke sein, die den Trug herbeiführen und die darin bestehen, daß der Teufel dem Anscheine nach Dinge vollbringt, die er in Wirklichkeit gar nicht vollbringt; es kann sich aber auch um wirkliche Wunder handeln, und dann wäre der Trug darin gelegen, daß man solche Werke nur göttlicher Macht zuschreiben zu dürfen glaubt und sich über die Kraft des Satans täuscht, was sehr leicht möglich ist in einer Zeit, da er eine Gewalt erlangt, wie er sie bis dahin nie besessen hat.

So war es ja auch zum Beispiel kein Blendwerk, als Feuer vom Himmel fiel und das ganze zahlreiche Gesinde des frommen Job (Hiob) mitsamt den großen Viehherden mit einem Schlag hinwegraffte und ein Sturmwind das Haus verschüttete und seine Kinder darin begrub; und doch war dies alles das Werk Satans, dem Gott die Gewalt dazu einräumte. Welche von den beiden Deutungen nun auf die trügerischen Wunder und Zeichen des Antichrists zutrifft, das wird sich wohl erst seinerzeit herausstellen. Ob aber so oder so, jedenfalls werden durch solche Zeichen und Wunder die betört werden, die es nicht anders verdienen, „darum, weil sie die Liebe zur Wahrheit nicht in sich aufgenommen haben, durch die sie hätten gerettet werden können“.

Ja, der Apostel nimmt keinen Anstand beizufügen: „Deshalb wird Gott über sie eine Kraft schicken, die sie betört, so daß sie dem Truge glauben.“ Gott nämlich wird schicken, da es seine Schickung ist, die dem Teufel solches zu tun verstattet, Gott seinerseits nach gerechtem Urteil, während Satan es freilich in schlechter und boshafter Absicht ausführt. „So daß alle“, schließt der Apostel, „gerichtet werden, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern der Bosheit zugestimmt haben.“ So werden sie also auf Grund eines Gerichtes betört und auf Grund der Betörung gerichtet werden. Jedoch auf Grund eines Gerichtes werden sie betört werden, nach jenen verborgen gerechten, gerecht verborgenen Gerichten Gottes, nach denen er seit der ersten Sünde der vernünftigen Schöpfung ohne Unterlaß richtet; auf Grund der Betörung aber werden sie gerichtet werden bei dem letzten und offenen Gerichte durch Christus Jesus, der ebenso gerecht richten wird, als er ungerecht gerichtet worden ist.

(Aurelius Augustinus: Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat, 20. Buch)

Quelle: Bibliothek der Kirchenväter, eine Auswahl patristischer Werke in deutscher Übersetzung