Gottlob Baumann: Am Sonntag Judica

Predigttext: Johannes 12, 20-32

20 Es waren aber etliche Griechen unter denen, die hinaufgekommen waren, daß sie anbeteten auf dem Fest. 21 Die traten zu Philippus, der von Bethsaida aus Galiläa war, baten ihn und sprachen: HERR, wir wollten Jesum gerne sehen. 22 Philippus kommt und sagt es Andreas, und Philippus und Andreas sagten’s weiter Jesus. 23 Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Zeit ist gekommen, daß des Menschen Sohn verklärt werde. 24 Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt’s allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte. 25 Wer sein Leben liebhat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt haßt, der wird’s erhalten zum ewigen Leben.  26 Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.
27 Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde! Doch darum bin ich in die Welt gekommen. 28 Vater, verkläre deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn verklärt und will ihn abermals verklären.
29 Da sprach das Volk, das dabeistand und zuhörte: Es donnerte. Die andern sprachen: Es redete ein Engel mit ihm. 30 Jesus antwortete und sprach: Diese Stimme ist nicht um meinetwillen geschehen, sondern um euretwillen. 31 Jetzt geht das Gericht über die Welt; nun wird der Fürst dieser Welt ausgestoßen werden. 32 Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.

„Wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen“. Wir wissen wohl, wie die Erhöhung unsres Herrn geschehen ist, nämlich dadurch, daß er auf dem Wege des  K r e u z e s  zu seiner Herrlichkeit eingegangen ist. Aus den Worten Jesu ist abzunehmen, daß uns der  n ä m l i c h e  Weg vorgezeichnet ist.

Das wird auch durch andere Stellen des Evangeliums bestätigt. Aber das ist tröstlich, daß der Heiland sagt, er wolle die Seinigen zu sich ziehen. Es ist eine köstliche Sache um den Zug des Herrn vom Throne Gottes herab. D e m  haben wir allein unser Durchkommen, unsere Vollendung am Ende zu verdanken. Freilich, wir müssen auch dabei sein; wir müssen uns ziehen lassen, und zwar von Stufe zu Stufe immer weiter zu ihm hin. Im unsrem Evangelium finden wir diese verschiedenen Stufen angedeutet. Wir wollen nun in der Furcht Gottes näher betrachten

den Gang in die Höhe:

  1. den Umgang mit Jesu;
  2. die Annahme dessen, was er uns hauptsächlich zu sagen hat;
  3. das Verlieren des eigenen Lebens um seinetwillen;
  4. das Zusammentreffen mit ihm in der Herrlichkeit

O Jesu, du mußt ziehen, unser Bemühen ist zu mangelhaft. Wo ihr’s fehle, spürt die Seele, aber du hast Kraft. O so laß doch deinen Zug auch an uns kommen und sich kräftig erweisen an unsern Seelen von Stufe zu Stufe! Dabei mache uns willig, diesem deinem Liebeszug uns hinzugeben und zu überlassen, bis wir da angekommen sind, wo du bist!
Amen.

1) Zu den Griechen, von denen unser Evangelium erzählt, war die Kunde von Jesu auch gekommen. Da haben sie alsbald auch den Zug verspürt, womit Jesus die Menschen ziehen will. Denn wo sein Name genannt wird, da wird auch dieser Zug verspürt. Dieser Jesusname ist ein Magnet für alle heilsbegierigen Seelen, die Gott suchen. Das erfuhren auch jene Griechen; sie fühlten sich von dem Herrn Jesu angezogen. Zuerst kommen sie nur zu Philippus, mit dem sie vielleicht schon vorher bekannt waren. Dieser sagt es Andreas, und die beiden Apostel sagen es weiter Jesu. Er, der Herr, weist keinen ab, der nach ihm fragt; er stößt keinen hinaus, Joh. 6, 37. Kommt es doch von ihm her, daß die Leute nach ihm fragen und ihn suchen. Wer ihn dann sucht, findet ihn auch, Jer. 29, 13.14.

Diesen Zug zu ihm übt nun der Heiland, seitdem er verklärt und erhöht ist, noch viel kräftiger und mächtiger aus. Wo sein Name genannt wird, wo sein Wort, sein Evangelium bekannt ist, da wirkt auch sein heiliger Zug. Und wohin zieht uns denn dieser Zug? Zu Ihm, in seine Ruhe, in seinen Umgang hinein.

Es geht aber wie zu Zeiten des Evangeliums durch Mittel hindurch. Man kennt etwa auch einen Philippus, von dem man weiß, daß er ein Vertrauter des Herrn Jesu ist. Dieser ist wieder mit einem andern Freund Jesu verbunden, der dem Herrn noch näher steht und ihn noch besser kennt. Und diese beiden führen uns dann zu Jesu und machen uns mit den Schätzen bekannt, die in diesem Namen verborgen liegen; sie sagen es auch selbst dem Herrn Jesu, empfehlen uns ihm und bitten für uns. Und so lernen wir dann Jesum ganz in der Nähe kennen; wir blicken in sein Angesicht hinein, wir hören aus seinem Munde holdselige Worte. Alles kommt also darauf an, ob man dem Zuge, der an unser Herz kommt, nachgeht und ob es einem drum zu tun ist, wie den Griechen unsres Evangeliums, Jesum selber zu sehen, ihn aus Erfahrung kennen zu lernen in unmittelbarem Umgang. Dazu müssen uns auch die Mittelspersonen behilflich sein.

Denn wer die Mittel verachtet, der ist wie einer, der die fünfte und sechste Sprosse einer Leiter betreten will, ohne die ersten Sprossen zu benützen.

2) Hat man nun den Herrn gefunden, ihn kennen und mit ihm umgehen gelernt, so gilt es jetzt, zu  h ö r e n  und  a n z u n e h m e n,  was er zu sagen hat. Bei jenen Griechen in unsrem Evangelium geht der Heiland sogleich auf die Hauptsache los. Die Zeit ist kurz, die Welt ist im Sturz; also  s c h n e l l  zur Hauptsache! Nichts für den Fürwitz [va., Vorwitz], nichts für das Wissen! Nicht lange sich bei Nebendingen aufhalten! Dem Nikodemus dort hält es der Heiland sogleich vor, daß er müsse von neuem geboren werden. Bei der Geschichte unsres Evangeliums war der Heiland beim Abschiednehmen, im Weggehen von dieser Welt begriffen; deshalb wollte er schnell und kurz jene Leute in die Hauptsache hineinführen. Er mußte jetzt seinen letzten Verklärungsgang antreten, als das edle „Weizenkorn in die Erde fallen und ersterben, auf daß es viele Frucht bringe“ (Vers 24).

Wenn sie wollten von ihm Nutzen ziehen, wenn sie wollten durch ihn selig werden und an seiner Herrlichkeit Anteil bekommen, so mußten sie sich glaubig mit ihm vereinigen, „in die Gemeinschaft seiner Leiden eingehen“ (Phil. 3, 10) und sich „zu gleichem Tode pflanzen lassen“ (Römer 6, 5); wenn sie das eigene Leben in seiner Nachfolge verlieren konnten, so sollten sie bedenken, sie würden bald da sein, wo er ist, und sein himmlischer Vater würde sie ehren, wie er ihn ehren und verklären werde. Das war die große Hauptsache für jene Griechen, das ist es, was auch uns der Herr vor allem zu sagen hat. In diese Wahrheit hinein zieht uns der Zug Jesu. O, man kann sich so lange bei Nebendingen aufhalten; man kann so lange beim Wissen stehen bleiben! Das Wichtigste, Nötigste umgeht man; es will einem bitter und schwer vorkommen; man meint, es leichter haben zu können. Aber am Ende findet man, daß das der  e i n z i g e  Weg ist; man sieht, daß man sich aufgehalten, sich geschadet, sich verkürzt oder sich gar ganz um sein Heil gebracht hat. Wir sollen uns doch ja von Jesu sagen lassen, daß wir  s e i n e  Worte hören, sein süßes Evangelium, seinen Eindruck genießen, seinen Zug an unsern Herzen erfahren. Da werden uns diese Wahrheiten nicht schwer und bitter vorkommen, sondern leicht und süß. Darum willig und frisch sie angenommen, den Nacken hinuntergebogen unter das „sanfte Joch Jesu, und seine leichte Last“ (Matth. 11, 30) fröhlich auf den Rücken genommen!

3) Jetzt geht es zur  A u s f ü h r u n g.  Das ist nun freilich wieder etwas anderes. Da wird es uns gehen wie dem Johannes mit seinem Prophetenamt: im Munde ist die Sache süß, im Bauche aber macht sie Grimmen. Doch hilft der Zug Jesu, dieser starke Zug, auch da hindurch. Also zur Ausführung, zum Gehorsam der Wahrheit, zum ausharrenden Gehorsam! Wir wollen nicht nur einmal gehorsam sein, sondern fort und fort bis zum Ziel, bis wir Jesum auf dem Berge Zion von Angesicht zu Angesicht schauen dürfen, um ihn anzubeten un ihm zu sagen:  D e i n  Zug, dein heilsamer Zug hat uns hierher gebracht!

Jesus ist gestorben, daß er viele Frucht bringe, daß er sich in vieler edler Frucht vermehre. Daß nun dieses edle Weizenkorn auch in unser eigenes Herz falle und auch da einen Ableger bilde, eine Ähre mit vieler Lebenskraft, das bedarf schon auch Fleiß und Anstrengung auf unserer Seite. Das Christentum ist nicht nur ein Hören und Lernen des Katechismus, sondern darin besteht es, daß man eine Frucht werde, die aus dem Weizenkorn Christi herausgewachsen ist. Da gilt es. das eigene Leben zu verlieren, seine Faulheit zu überwinden; da darf man das Beten nicht sparen; da muß man sich für einen Sünder, für einen Gottlosen, für totes Fleisch halten. Ist man aber eine Frucht, die aus dem Weizenkorn herausgewachsen ist, dann darf man den Zug Jesu, damit er uns in die Höhe zieht, um so kräftiger und seliger erfahren. Wie ein Gewächs in die Höhe treibt und gezogen wird, so geht’s bei einem Menschen, dem Christus zum Leben geworden ist: eine geheime göttliche Kraft zieht ihn nach oben. Aber es geht fort und fort durch das Sterben hindurch.

Und wenn einer nicht mehr sterben und das eigene Leben verlieren will, dann ist’s gefehlt; es gibt einen Stillstand, oder es geht sogar rückwärts. Ein Christ wächst und gedeiht nur in der Gemeinschaft der Leiden Jesu. Wer den eigenen Willen dem Willen Gottes unterordnet und alles Leiden, das ihm in der Nachfolge Jesu begegnet, still hinnimmt und Jesu sein Kreuz geduldig nachträgt, der gedeiht, der wächst immer mehr in die Höhe; in dem wächst Jesu Zug fort, wie er wirken will. Selten ist der Wille Gottes mit unserem Willen eins; selten fehlt es bei einem Christen an allem Leiden. Ja, wenn uns einmal der Wille Gottes zur süßen Speise geworden ist, und wenn auch im Leiden die Liebe Christi Überschwang bekommen hat, daß wir vom Sterben und Verlieren unsres Lebens nicht mehr viel empfinden.

4) Das ist also der Weg, auf dem uns Jesus nach sich zieht. Wer sich so ziehen läßt, fort und fort ziehen läßt, täglich, stündlich, bis in den letzten Lebenshauch hinein, und wer, wenn er in einen Stillstand geraten, sich alsbald wieder erneuern und von dem Zug Jesu sich wieder frisch anfassen läßt und ausharrt bis ans Ende, der kommt gewiß da an, wo Jesus ist. Wenn er uns zu sich zieht und wir uns ziehen lassen, so müssen wir doch endlich zu ihm kommen. Und er hat es ja in unsrem Evangelium gesagt:

„Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren“ (V. 26)

Wer aber bei Jesu sein darf, wer ihm dort dienen und sein Angesicht schauen darf, – o was wird das sein! Da wird man allen Schmerz der Nachfolge Jesu, allen Schmerz, den das Verlieren des eigenen Lebens bereitet hat, nicht mehr anschlagen. So gewiß der Vater seinen Sohn geehrt, so gewiß er den Namen seines Sohnes und damit seinen eigenen Namen verklärt hat, so gewiß wird er alle die auch ehren, die ihn in dem Sohne geehrt haben; er wird auch an ihnen seinen großen Namen verklären. „Wer mich ehret,“ sagt er (1. Sam. 2, 30), „den will ich auch ehren; wer aber mich verachtet, der soll wieder verachtet werden.“

Amen.

(gehalten 1838)

Gottlob Baumann
(1794-1856)

M. Gottlob Baumann, Pfarrer in Kemnat bei Stuttgart: Neunundsiebenzig Predigten über die Evangelien des zweiten württ. Jahrgangs auf alle Sonn-, Fest- und Feiertage. Dritte Auflage, Unveränderter Abdruck. Quell-Verlag der Ev. Gesellschaft, Stuttgart.

Eingestellt am 13. Oktober 2020 – Letzte Überarbeitung am 15. April 2023