Pastor Wilhelm Gilbert (1868-1919)

P a s t o r  W i l h e l m  G i l b e r t
g e b o r e n  i n  H o f z u m b e r g e  24. Dezember 1868
e r m o r d e t  b e i  S i u x t  16./17. November 1919

Gilberts Eltern, schlichte lettische Landleute, waren tieffromme Menschen. Der Vater lehrte den hochbegabten fünfjährigen Knaben das Lesen, und als der Knabe diese Kunst erlernt hatte, kamen Bibel und Gesangbuch, die einzigen Bücher im Bauerngehöft, nicht aus seinen Händen.

Propst Rutkowsky, der Vater von Arnold Rutkowsky (s. S. 96), nahm den hoffnungsvollen lettischen Knaben in das Pastorat zur Erziehung. Hier erschlossen sich Gilbert die reichen geistigen Schätze eines alten, deutschen, evangelischen Pfarrhauses. Mit eiserner Energie
und treuestem Fleiß hat er dann sein Ziel, Theologie zu studieren, erreicht. Die Mittel schaffte er sich immer selbst durch Hauslehrerarbeit.

1893 bezog er die Landesuniversität, und schon 1894 machte er sich an die Lösung einer von der Fakultät gestellten wissenschaftlichen Preisaufgabe mit solchem Erfolge, daß ihm die goldene Medaille zugesprochen wurde. Die Studienzeit brachte ihm den schweren Kampf, sich den Glauben auch bei der wissenschaftlichen Forschung zu bewahren. Doch das feste Fundament, das die Mutter einst gelegt, ist nie zusammengestürzt. Seiner ganzen Anlage nach war Gilbert Wissenschaftler, und doch schlug er nicht die wissenschaftliche Karriereein. Seine Gewissenhaftigkeit verbot ihm, für seine weitere wissenschaftliche Ausbildung noch mehr Schulden zu machen, und nötigte ihn, nach Beendigung des Studiums in das praktische Amt zu treten.

Nach etlichen Wanderjahren wurde er 1904 Vikar in Setzen; hier erlebte er die erste lettische Revolution. Auch ihn, der seinen Gott bekannte, für das Recht mutig eintrat, verfolgte der Haß der Sozialisten. Am ersten Pfingsttage 1905 drang eine sozialistische Bande in die Kirche und störte, während der Pastor in der Sakristei war, den Gottesdienst. Als Gilbert aus der Sakristei in die Kirche trat, gab einer der Sozialisten sofort mehrere Schüsse auf ihn ab. Gilbert blieb wunderbarerweise unversehrt, nur ein Gemeindeglied wurde am Fuß verwundet. Gilbert stellte in der Kirche die Ruhe wieder her und feierte mit der Gemeinde den Gottesdienst zu Ende.

Bald darauf wurde er als Vikar nach Würzau versetzt, hier mußteer es am 27. November 1905 erleben, daß eine revolutionäre Bande in der Nacht das Pastorat überfiel. Das Pastorat wurde von Kugeln durchlöchert, Gilbert und die Seinen blieben durch ein Wunder wieder verschont. 1907 bekam er endlich seine eigene Pfarre in Siuxt. Die Gemeinde empfing ihren Volksgenossen mit Mißtrauen, weil er vom Konsistorium, nicht von der Gemeinde, gewählt war. Seine ernste, lautere Persönlichkeit rang das Mißtrauen beim größten Teile der Gemeinde nieder, — sein unbeugsames Eintreten für Recht und Wahrheit schaffte ihm aber auch viele persönliche Feinde. Um der Gerechtigkeit und der Wahrheit willen hat er, der Lette, auch die Achtung und Liebe, die er dem deutschen Volke entgegenbrachte, in dessen geistiger Welt er heimisch geworden war, nie verleugnet und den zur Mode gewordenen lettischen Chauvinismus immer abgelehnt. Diese Stellungnahme schuf ihm viel Feinde unter den Letten. Unbekümmert um Freundschaft und Feindschaft hat er sein Amt redlich ausgerichtet, sorgfältig in allem, besonders in seiner Predigtvorbereitung und in seinen Konfirmandenlehren. Er wußte, was er wollte, — ein Christentum der Tat sollte in seiner Gemeinde erblühen. Jede freie Stunde lebte
er seiner geliebten Wissenschaft, kein neueres theologisches Werk blieb unbearbeitet, seine große Sprachkenntnis kam ihm dabei sehr zustatten. Mutig kämpfte er den alten Kampf zwischen Glaube und Wissenschaft weiter, er war zwar eine Thomasseele, aber er blieb ein Bibelchrist, der täglich auch mit den Seinen die Bibel studierte.

Am Ende der deutschen Okkupationszeit bemerkte er mit Schrecken, daß bolschewistische Agitation auch in seiner Gemeinde Boden gewann, rücksichtslos trat er ihr entgegen, was ihm Haß und Feindschaft eintrug. Nach dem Zusammenbruche der deutschen Macht brachte er seine Lieben Weihnachten 1918 vor der herannahenden Bolschewikenflut nach Deutschland in Sicherheit, kehrte aber selbst bei erster sich darbietender Gelegenheit als Freiwilliger der Baltischen Landeswehr in die Heimat zurück, um ihr zu dienen. Er wurde einer ihrer Feldprediger.

Es gelang ihm mit vieler Mühe, endlich am 7. April auch seine Gemeinde zu erreichen, der er noch etliche Monate dienen konnte. Es war damals in Kurland eine wilde Zeit. Zwar wurde der Bolschewismus durch die Landeswehr niedergeworfen, aber nach kurzer Atempause gab es wieder Kampf. Es kämpfte die inzwischen erstarkte Macht der Letten gegen die Truppen des Abenteurers Awalow-Bermondt. Jedermanns Hand war gegen jedermann, alle niedrigen Instinkte waren lebendig, Gilbert, der mutig und fest gegen Lug und Betrug, Raub und Mord auftrat, wußte, daß er jederzeit ein Opfer des Hasses werden konnte. „Was tut es?“ sagte er einmal, „das Reich muß uns doch bleiben — und denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen“. Am 15. November warnte ihn ein treues Gemeindeglied: „Fahren Sie fort, Sie haben viele Feinde“. Gilbert antwortet fest: „Ich bleibe“ und hielt am 16. November den Gottesdienst in Siuxt. Nach dem Gottesdienste beerdigte er ein Gemeindeglied; als er eine zweite Beerdigung vollziehen wollte, rückte eine kleine Truppe lettischer Reiter vor, die eine Bermondtsche Truppe angriff. Der Pastor und die Beerdigungsgäste suchten Schutz in der Kirche; als eine Kampfpause eintrat, vollzog Gilbert die zweite Beerdigung, wollte darauf zu einer Trauung fahren, da wurde er verhaftet.

Beim Verhör warf das lettische Militär ihm vor, Landesverräter zu sein, man behauptete, er habe an seiner Feldmütze, die er schon seit Monaten nicht mehr benutzt hatte, den „Totenkopf“ getragen, — es war aber das kleine Kreuz des Feldpredigers. Mit Entschiedenheit wies Gilbert alle Anschuldigungen zurück, er sei nicht Landesverräter, er sei Pastor. Er verlangte, vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden, das wurde ihm gewährt. Er sollte nach Riga gebracht werden, — zwölf Werst hinter Siuxt hat man ihn erschossen.

Aus: Ev.-lutherisches Kirchenblatt für die deutschen Gemeinden Lettlands
XX. Jahrgang, Nr. 18

Man fand die Leiche mit einer Schußwunde im Rücken — vollständig ausgeraubt. Die gerichtliche Untersuchung hat festgestellt, daß der Soldat D. der Mörder war. Als solches 1920 festgestellt wurde, war D. nicht mehr unter den Lebenden. Die Kurländische Synode (1920) beschloß, Gilbert zu den Märtyrern der Kirche zu zählen.

Quelle: Oskar Schabert, Pastor zu St. Gertrud in Riga: Baltisches Märtyrerbuch, Furche-Verlag, Berlin 1926. S. 169-172 [Digitalisat, pdf]

Eingestellt am 17. Februar 2022