In seiner Studierstube hörte Gotthold einen Holzwurm im Balken nagen und fleißig genug arbeiten; dabei fiel ihm ein, was er unlängst gelesen, daß von gelehrten und berühmten Leuten eine sonderliche Meinung vom Tode auf die Bahn gebracht würde, daß nämlich derselbe ein kleiner und fast unsichtbarer Wurm sei, aus den verderbten Feuchtigkeiten bei dem Menschen erzeugt, der allmälig die Lebenskraft und Saft verzehre. Wenn sie verblümter Weise reden, sprach Gotthold bei sich selbst, so will ichs mit ihnen halten.
Der Tod ist aus den bösen Feuchtigkeiten der Sünde erwachsen und zehrt und nagt an dem Leben des Menschen von der Zeit seiner Geburt an, bis er dasselbe, wenn es Gott gefällt, zu Grunde richtet. Dieses Würmlein aber, welches ich hier bei meiner Arbeit hören muß, erinnert mich solcher Gedanken und ruft mir gleichsam zu, daß ich also arbeiten soll, als wollte ich lange leben, aber auch also beten und mich zum Tode bereiten, als wollt‘ ich morgen sterben.
Ach, Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß! (Psalm 39, 5 LUT)
Quelle:
M. Christian Scriver (Scriverius): Gottholds Zufällige Andachten: Hrsg. und Verl. vom Evangelischen Bücher-Verein, 4. Aufl., Berlin 1867. [S. 36f.; Digitalisat]