59. An einen wankelmütigen Schüler der Gnade (von Zinzendorf)

Wenn, vielgeliebter Freund! dein Diener wissen könnt‘,
Wie lange dir der Herr noch Lebens-Zeit vergönnt:
So könnt‘ er eher noch mit gleichen Augen sehen
Wie wenig bis daher zu deinem Heil geschehen.

Weil aber, der die Höll‘ und Tod in Händen hält,
Uns eine kurze Frist zur Gnaden-Zeit bestellt,
Und will, daß unser Geist nach Seinem Reiche ringe:
So halte mir zu gut, daß ich auf Eifer dringe.

Du hast das ewige, unwandelbare Wort,
Das weiset schlechterdings auf eine enge Pfort‘:
Das redet überall von einem schmalen Wege,
Und daß man seines Heils mit Furcht und Zittern pflege.

Die Menschen hindern uns! Allein, wo ist der Mann,
Der unsern armen Geist dereinst vertreten kann;
Wenn Jesus auf dem Stuhl nach unserm Ernste fragen,
Und unser eigen Herz nichts wissen wird zu sagen?

Gelobet sei der Herr, der dich gerühret hat!
Er gebe keiner Ruh‘ in deiner Seele Statt,
Bis du das wichtige und große Werk vollendet,
Um welches willen Er sich selbst bei Gott verpfändet.

Wohl dem, der diese Welt für lauter Spiel-Zeug hält.
Allein, wer kann doch das? Wer überwind’t die Welt? [166]
Nur einer, welchen Gott zu Christo hingezogen,
Und der sein teures Heil mit Redlichkeit erwogen.

Derselbe wirft sich bald vor Jesu Füße hin,
Und spricht: Mein Ursprung, ach! Hier liegt mein Geist und Sinn:
Ach! mache mich doch recht zu Deinem Untertanen,
Und sollt’st Du mir den Weg durch Dorn und Hecken bahnen.

Der Vorsatz aber muß nicht ohne Nachsatz sein:
Es treffe Wort und Sinn recht redlich überein;
So wird man allererst die Kraft des Herrn empfinden,
Da stutzt der Seelen-Feind und das Gesetz der Sünden.

Die Menschen dieser Welt sind nur ein bloß‘ Gespenst,
Wenn du sie, werter Freund! nach ihrem Wesen kennst;
So hältst du sie gewiß für unglücksel’ge Narren,
Mit allen heuchelnden und Lohn-begier’gen Pfarren.

Indessen, weil du selbst von N.N. angezeigt,
Daß er sein Herze Gott und Jesu zugeneigt:
So wolle neben ihm ja keine Zeit versäumen,
Dich eben so, wie er, dem Heiland einzuräumen.

Die Brüder dieses Orts sind allemal erfreut,
Wenn man von deiner Seits denselben Frieden beut:
Sie grüßen dich im Herrn, und wünschen dich im Segen
Und neben dir sich selbst dem Herrn zu Fuß zu legen!

(Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf)

Quelle:

Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften, Band 2, Hildesheim 1964, S. 166-167.

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 Eingestellt am 13. Juni 2024