Du umfingest mich, daß ich nicht in die Grube der Vernichtung fiele, denn Du warfest alle meine Sünden hinter Dich zurück. (Jesaja 38, 17)
Betrachtung zum 29. November (S. 338)
Alle Gnadenerweisungen gehen vom Kreuze Christi aus; ihre Quelle ist die Vergebung der Sünden. Wir haben immer die Versöhnung mit Gott durch das Blut Christi als die erste aller Gnadenerweisungen, als diejenige anzusehen, aus welcher alle andern herfließen; deshalb sollen wir vor Allem uns dieser vergewissern, indem wir „glauben an Den, der die Gottlosen gerecht macht“ (Röm 4, 5). Was kann man von Gott begehren, so lange man noch nicht mit Ihm versöhnt ist? Mit welcher Zuversicht kann man sich dagegen mit seinen Bitten an Ihn wenden, wenn man die Gewißheit hat, daß Er „alle unsere Sünden hinter Sich geworfen“ hat. Dann kann man fortwährend den einfachen Schluß machen „Welcher auch Seines eigenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat Ihn für uns Alle dahin gegeben, wie sollte Er uns mit Ihm nicht Alles schenken?“ (Röm. 8, 32.)
Erwägen wir hier die Kraft des Ausdrucks „Du warfest alle meine Sünden hinter Dich“. Das, was hinter uns liegt, sehen wir nicht mehr, und wie ekelhaft es auch sein möge, es erregt keinen Widerwillen mehr in uns. Diese Stellung will Gott nach Seiner Gnade uns gegenüber einnehmen. Er sieht uns als vollkommen gerecht an, weil „das Blut Jesu Christi uns von aller Sünde reinigt“ und also unsere Sünden vor Ihm verschwunden sind, denn Er selbst hat sie hinter Sich geworfen, und in diesem Sinne „schauet Er nichts Böses an Jakob und siehet kein Unrecht an Israel“ (4. Mose 23, 21). Seine Gemeine, die Er Sich selbst gereinigt hat, erscheint Ihm „herrlich, als die nicht habe einen Flecken oder Runzel oder des etwas“ (Eph. 5, 27), und Er sagt von ihr: „Du bist allerdinge schön meine Freundin und ist kein Flecken an dir“ (Hohel. 4, 7).
Betrachtung zum 30. November (S. 339)
Bemerken wir wohl, daß Hiskia sagt, der Herr habe „alle seine Sünden hinter sich geworfen“, alle, nicht bloß etliche, nicht bloß einen großen Teil derselben oder beinahe alle, nein, „alle“, alle ohne Ausnahme. Und das bestätigt das Wort Gottes allerwärts. Es sagt uns: „Beim Herrn ist die Gnade, und viel Erlösung bei Ihm. Und Er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden“. (Ps. 130, 7+8). David preist den Herrn, daß Er ihm alle seine Sünden vergibt (Ps. 103, 3), und ebenso heißt es beim Propheten Micha: „Er wird unsere Missetat tilgen und alle unsere Sünden in die Tiefe des Meeres werfen“ (Micha 7, 19). Der Apostel Paulus erklärt, daß diese Verheißungen in Christo erfüllt sind, indem er sagt: „Er hat uns geschenket alle Sünden“ etc. O, meine Brüder, meine armen Gefährten in der Sünde und dem Elende Adams, lassen wir es nicht zu daß unser Unglaube die Gnade unsers Gottes beschränke, daß er uns in irgend einer Weise den Trost verringere, den das Wörtlein „alle“ in Bezug auf die Vergebung unserer Sünden enthält. Alle meine Sünden, das heißt in der Sprache des wahrhaftigen Gottes so viel als: die Sünden meines ganzen Lebens, in Gedanken, Worten und Werken, offenbare und geheime Sünden, niederträchtige, entehrende, abscheuliche, unentschuldbare Sünden, Sünden, die meine eigene Verachtung erwecken, solche, die ich vielleicht Niemand gestehen möchte, wiederholte Sünden, öftere Rückfälle, grauenhafte Anhäufungen von Empörung, Selbstsucht, Heuchelei und Stolz, mit Einem Wort: Alles, was man sich Erschreckendes nach Anzahl und Schwere von Sünden denken mag. Alles, was die Einbildungskraft sich von Verworfenheit vorstellen was das Gewissen aufregen und was den verhärtesten Sünder selbst erschrecken kann: das Alles und nichts weniger als das, d. i. alle meine Sünden, hat Gott in Seiner unendlichen Barmherzigkeit hinter Sich geworfen. Er vergißt sie, Er erinnert sich derselben nicht mehr; Er vergibt sie, wenn ich sie mit aufrichtiger Reue zu den Füßen des Kreuzes niederlege. Das ist der Umfang der Gnade Gottes, das ist das Evangelium, das die Vergebung die Er mir bietet, und einer solchen bedarf ich.
Betrachtung zum 30. November (S. 339), aus:
Kurze Betrachtungen für alle Tage des Jahres, entnommen aus den erbaulichen Schriften von A. Rochat, weil. evang. Prediger zu Rolle am Genfer See. Aus dem Französischen übersetzt. Elberfeld, im Selbstverlag des evang. Brüdervereins. 1865.
[Digitalisat]