188. Wie es bei der Bekehrung vom Gröbern ins Feinere gehe (Kolb)

_ Ob wir nach Gottes Willen an dem rechten Platz sind, können wir merken, wenn Gott mit uns ist, besonders in den Leiden und Anfechtungen; denn nirgends ist man ohne solche.  Wenn einer dann die gegenwärtigen Uebungen aushalten kann, so ist es ein Beweis, daß er in den vorherigen gelernt hat.  Hält er nicht aus, und macht eine Veränderung, so häufen sich seine Leiden. Das beste Kennzeichen, daß Gott mit einem ist, ist das, wenn er einen in seiner Zucht hält und im Leiden tröstet, wenn man einen freien Zutritt zu ihm behält und alle Sorgen auf ihn werfen kann.  Kann man das nicht, so sucht man eine Veränderung, denn weil es nach dem Fleisch einem nicht wohl geht, so meint man, man sei nicht nach Gottes Willen an dem bisherigen Platz.

_ Wenn man die drei Hauptsachen 1) Nahrung und Kleidung, 2) Arbeit und 3) Kreuz hat, so muß man nicht ohne besondern Grund verändern. Ich bin jetzt schon über fünfzig Jahre hier und habe das überwunden, was im Verändern Reizendes für mich lag; und jetzt hat mir Gott alles das reichlich gegeben, was mich damals reizen wollte.  Also was hilft alles Wissen, wenn ich die Liebe nicht habe, die an Gott hangt und bei Gott bleibt?  ─ Gott hat alles haarklein in meinen Lauf verordnet, auch das Reizende; er hält mir ja dafür den himmlischen Beruf vor.  Ich darf aber nicht meinen, es sollte mich keine Uebung angreifen; sondern wenn mich die Uebung grämt, muß ich mich fragen: was ist schuld?  Antw.: mein Zustand.  So lange der äußere Durcheinander einen Durcheinander  i n  m i r  macht, so ist Inneres und Aeußeres noch nicht geschieden.

_ Aber unter solchen Umständen, wenn wir sie recht anwenden, wird die lautere Selbsterkenntniß und Jesuserkenntniß geboren. Es geht durch lauter Qual in der innern Hölle und durch Widerstände in der kleinen Welt, bis man wieder hell wird und merkt, was Gott will.

_ Unter solchen Erfahrungen fangt bei manchen die geistliche Auszehrung an, wenn sie nicht das in sich überwinden, was diese Uebungen erwecken.  Wenn ein Mensch nicht treu ist im Beten und Verleugnen, so artet er aus und sucht für die Natur einen leichtern Weg.  Bete vielmehr auch für die, die dich üben; denn alles das ist ein Beweis für die Annäherung zur Vollendung, wenn ich leiden und verleugnen kann nach dem Sinn Jesu. So werden wir dann auch nützlich in der Welt und können, was auch dazu gehört, zu seiner Zeit Worte reden, die da sind wie goldene Aepfel in silbernen Schalen ─ aber nicht aus dem Wissen durch Bücherlesen oder Nachmachen anderer, sondern aus dem Prozeß heraus. So werde ich dann ein Licht und ein Salz und ein Priester für andere und zubereitet für die andere Welt.  Dann fällt der kurzsichtige Gedanke zu Boden: wenn ich nur selig werde! –  Nein, nicht nur selig werden, sondern auch Früchte tragen sollst du als ein guter Baum.  Unser Leben hat auf diese Weise einen großen Zweck. ─ Das Gesuch, es gut zu bekommen für die Natur und doch ein Ueberwinder werden wollen, ist so widersprechend, wie wenn man nicht ins Wasser will, bis man schwimmen kann.  Thorheit! Gott gibt ja Kraft, wende sie an!  Ich hatte einst große Lust, ein Einsiedler zu werden, aber ich habe gefunden, daß Schonung meiner Natur zu Grunde lag, ob ich’s schon nicht meinte. Als Einsiedler wäre mir mein Herz nicht so herausgestellt und ich wäre nicht so Heilands=bedürftig geworden, wie es jetzt der Fall ist.

_ Wo muß ich anfangen, wenn ich Heilands-ähnlich werden will? Bei der Krippe. Und hat Jesus denn eine große Figur in der Welt gemacht? ─ Nein, er hat sich in der Stille üben lassen bis ins dreißigste Jahr. Also ihm hat man nachzuwandeln, wenn man Ihm ähnlich werden will.

_ Bei mir sind nun viele Uebungen vorbei, und ich habe jetzt nur mit dem Feineren zu thun.  Aber des Wachens und Betens muß je länger je mehr werden. Wer das Feinere in sich nicht überwindet, kann zuerst innerlich in Unreinigkeit, in Eigenliebe, in Aergerniß versinken, und dann noch in alles hineinkommen.  Die Leute, die  i h r e  Sachen groß und anderer Sachen klein anschlagen, die können sehr in sich selbst verderben. Umgekehrt muß es sein. Deßhalb stelle dich täglich ins Licht, überdenke deinen Lauf, erkenne das Restirende, dann kommst du fort!  du handelst nach der Zucht und bleibst an derselben, du bekommst Weisheit und den Geist einer verständigen Aufführung, und wirst dem Heiland ähnlich.

(1857)

Immanuel Gottlieb Kolb

Nachgeschriebene Gedanken.
Aus: Kurzer Lebensabriss von Immanuel Gottlieb Kolb, Schulmeister in Dagersheim, nebst einer Sammlung von Betrachtungen, Briefen etc., S. 643-646. Von seinen Freunden herausgegeben. Vierte Auflage, Dagersheim, zu haben bei Gebrüder Ziegler, 1865.

[Digitalisat]

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert, und dringt durch, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. (Hebräer 4, 12)


Eingestellt am 17. November 2024