Palmarum.
3) F r e i e r T e x t
Wir sind mit dem heutigen Tage in die stille Woche eingetreten, in die Woche, die uns das Bild des leidenden und gekreuzigten Heilands vor Augen hält. Da ziemt es sich wohl, daß auch unsre Herzen stille seien und sich in heiliger Andacht in die Schmerzensstunden des Herrn versenken. Die heilige Schrift erinnert uns öfter an die Nothwendigkeit einer heiligen Stille; diese muß also doch für die rechte Gottseligkeit von großem Werthe sein. David, der heilige Sänger, beruhigte im Hinblick auf die Gnade des Herrn sein in den Wirren der Zeit oft sehr erregtes Gemüth und sprach: „Meine Seele sei stille zu Gott, der mir hilft“ (Psalm 62, 1). Der Prophet Jesaias lehrt zu seiner Zeit (Jesaja 32, 17.18): „Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein und der Gerechtigkeit Nutzen wird ewige Stille und Sicherheit sein, daß mein Volk in Häusern des Friedens wohnen wird in sicheren Wohnungen und in stolzer Ruhe“. Der Prophet Habakuk erinnert (Habakuk 2, 20): „Der Herr ist in seinem Tempel, es sei vor ihm stille alle Welt“, und ähnlich Sacharja: „Alles Fleisch sei stille vor dem Herrn, denn er hat sich aufgemacht aus seiner heiligen Stätte“ (Sacharja 2, 13). Als das Volk Israel unter Esra und Nehemia die von den Chaldäern zerstörte Stadt wieder aufgebaut das Heiligthum wieder hergestellt und in dem neuen Tempel die alten Gottesdienste wieder eingerichtet hatte, da stilleten Leviten alles Volk und sprachen: „Seid stille, denn der Tag ist heilig“ (Nehemia 8, 11).
Dazu haben wir besonders auch an das Vorbild Jesu Christi in der Zeit seiner Passion zu gedenken. Als die gedungenen falschen Zeugen allerlei Unwahrheiten wider ihn vorgebracht und der Hohepriester ihn darauf gefragt hatte: „Antwortest Du nichts zu dem, was diese wider Dich zeugen?“, da heißt es: „Aber Jesus schwieg stille“. Und so sollen auch wir stille sein in dieser Zeit. Ich erinnere auch an das Beispiel der ersten Christengemeinde. Als die Apostel nach der Bekehrung der ersten Heiden ihre gemeinsame Versammlung und Berathung zu Jerusalem hielten, und Petrus dabei das schöne Bekenntniß aussprach: „Wir glauben, durch die Gnade des Herrn Jesu Christi selig zu werden, gleicherweise wie auch sie“, da schwieg die ganze Gemeinde still, innerlich beruhigt durch das köstliche Glaubenszeugniß, das in diesen Worten lag. So schreibt denn auch Paulus gleich in seinem ältesten Brief, in der ersten Epistel an die Thessalonicher: „Wir ermahnen euch, liebe Brüder, daß ihr immer völliger werdet, und ringet darnach, daß ihr stille seid!“ – Also die heilige Stille des Herzens ist ein Beweis vom völligen Christenthum von geförderter Glaubensstärke. Wenn das aber zu allen Zeiten das Ziel unseres Lebens und Strebens sein soll, wie viel mehr in diesen Passionstagen in der Woche, die wir vorzugsweise die stille Woche nennen! Wovon wir in dieser Zeit schweigen, wovon wir stille sein sollen, das erfahren wir aus dem Text, den wir unsrer heutigen Betrachtung zu Grunde legen.
Herr, für die stille Woche
Gib mir ein stilles Herz!
Das muß jetzt unser Ringen und Flehen sein, nämlich:
I. Still von dem Geräusch der Weltlust,
II. still von dem Toben des Zornes und Streites,
III. still von dem Murren wider Gottes Wege.
I.
S t i l l von dem G e r ä u s c h d e r W e l t l u s t.
Text: „Ich bin verstummt und stille und schweige der Freuden.“ – „Der du stillest das Toben der Völker“.
Die Welt liebt rauschende Lustbarkeiten, auch wohl in dieser Zeit, ohne Verständniß des Kreuzes Christi, das eine Thorheit ist Denen, die verloren werden. Der Christ versenkt sich in Jesu Leiden und Sterben, in die Ursache desselben, die eigene Sünde. Da vergehen ihm die Gedanken an den Jubel der Weltlust.
II.
S t i l l von dem T o b e n des Z o r n e s und S t r e i t e s.
Text: „Ich habe mir vorgesetzt, ich will mich hüten, daß ich nicht sündige mit meiner Zunge; ich will meinen Mund zähmen, weil ich muß den Gottlosen so vor mir sehen“,
nämlich so tobend, zankend, streitsüchtig. Die Welt ist selbstsüchtig, eigennützig, daher streitsüchtig, zornig, kann auch wohl in dieser Zeit nicht davon lassen. Der Christ denkt an den ungerecht verurtheilten Heiland, der doch sanftmüthig blieb und von Herzen demüthig, der nicht wieder schalt, da er gescholten ward. Wie viel mehr müssen wir stille sein, die wir so mannigfache Fehler und Blößen darbieten! Die Liebe eifert nicht, stellet sich nicht ungebärdig, suchet nicht das Ihre, läßt sich nicht erbittern, verträgt Alles, duldet Alles.
III.
S t i l l vor dem M u r r e n w i d e r G o t t e s W e g e und F ü h r u n g e n.
Text: „Ich bin verstummt und stille und muß mein Leid in mich fressen.“ – „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft“.
Die Welt mag das Kreuz nicht tragen und klagt wie Gott, so den Nächsten an, nur sich selbst nicht, ist auch ohne Verständniß der Gnadenwege Gottes. Der Christ denkt an die Liebe des Vaters, der seinen eingebornen für uns hingab, an die Liebe des Sohnes, der sein Leben für uns hingab, und betet diese göttliche Liebe an. Er ergibt sich in Gottes Schickungen weiß, daß Denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen; weiß, daß dieser Zeit Leiden nicht werth sind der Herrlichkeit, die an uns soll offenbar werden.
Lic. N e s s e l m a n n,
Pastor in Elbing
Quelle:
Predigt: Mancherlei Gaben und Ein Geist. Eine homiletische Vierteljahrsschrift für das evangelische Deutschland. Unter Besonderer Mitwirkung vieler namhafter Prediger herausgegeben von Emil Ohly, evang. Pfarrer in Sinsheim, Prov. Starkenburg (Hessen). Zwanzigster Jahrgang.
Wiesbaden, Julius Niedner Verlagshandlung, 1881.
Philadelphia, bei Schäfer & Koradi.
Palmarum 3) – Freier Text (Seite 299f.) [Digitalisat]
Roderich Nesselmann (* 27. April 1815 in Fürstenau, heute Ortschaft der Gmina Nowy Dwór Gdański; † 12. Juni 1881 in Elbing) war ein deutscher lutherischer Theologe und Geistlicher.
Emil Ohly (1820-1890) war ein deutscher evangelischer Theologe (Vikariat in Langsdorf, Pfarrer in Ermenrod und Kriegsheim bei Worms, später in Mommenheim und Sinsheim) und Herausgeber mehrerer religiöser Sammlungen.
Verweise
GEDBAS: Eintrag Emil Georg Friedrich Christian Ohly
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