Hélène Preiswerk, Rufname Helly (geboren 1881 in Basel, verstorben 1911) war ein Schweizer Medium und die Cousine des Tiefenpsychologen und Psychiaters Carl Gustav Jung.
Herkunft
Jungs Cousine mütterlicherseits, Helly, war das elfte Kind einer fünfzehnköpfigen Familie, die aus Rudolf Johannes Preiswerk, dem Bruder von Jungs Mutter Emilie, und Celestine Allensbach bestand [1, 2, 7]. Helly und Carl Gustav hatten als gemeinsamen Großvater den Basler Antistes (Kirchenführer) Samuel Preiswerk (1799-1871), der ebenfalls medial veranlagt war [Lit. 2, 7].
Biographie
Obwohl Jung in seiner Autobiographie angibt, daß er erst im Spätsommer 1898 mit dem Medium in Kontakt gekommen sein will, verweist seine Sekretärin und Biographin Aniela Jaffé dagegen auf ein früheres Datum, nämlich 1895, als Helly vierzehn Jahre alt war [2]. In seiner 1902 bei Oswald Mutze in Leipzig erschienenen Doktorarbeit Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene [9] verwendet Jung die Ergebnisse der medialen Séancen mit seiner Cousine Hélène, ohne anzugeben, daß er mit ihr verwandt ist. Hélène Preiswerk wird in Jungs Dissertation unter dem Pseudonym „Fräulein S. W.“ geführt [3]. Die Berichte über die spiritistischen Experimente, welche einen beträchtlichen Textumfang in der Dissertation einnehmen, wurden von ihm auf die Zeit zwischen 1899 und 1900 datiert, und das Alter der Probandin mit 15½ Jahren angegeben*, obwohl Hélène bereits 18 Jahre alt war [9, S. 21*), obwohl die ersten spiritistischen Sitzungen, wie erwähnt, bereits 1895 stattgefunden hatten.
*) Zitat aus [9, S. 21]: Nachstehenden Fall habe ich in den Jahren 1899 und 1900 beobachtet. Da ich in keonem ärztlichen Verhältnis zu Frl. S.W. stand, konnte eine körperliche Untersuchung auf hysterische Stigmata leider nicht vorgenommen werden. Über die Sitzugen führte ich ein ausführliches Tagebuch, das ich jeweils nach den Sitzungen ergänzte… […] …Frl. S. W. , 15½ Jahre alt, reformiert. Der Grossvater väterlicherseits war sehr intelligent, Geistlicher, hatte häufig Wachhallucinationen. (Meist waren es Visionen, oft auch ganze dramatische Szenen mit Gesprächen u.s.w.). Ein Bruder des Grossvaters imbecil, verschroben, ebenfalls Geisterseher… […] …Vater eigentümliche, originelle Persönlichkeit mit bizarren Ideen. Zwei seiner Brüder ähnlich. Alle drei haben Wachhallucinationen (Zweites Gesicht, Ahnungen etc.)
Laut dem Biographen Gerhard Wehr kam es Jung durch dieses Vorgehen darauf an, „seine eigene Rolle, vor allem seine enge verwandtschaftliche Beziehung zu vertuschen und so irgendwelche kritische Rückfragen, die die Wissenschaftlichkeit der ganzen Arbeit in Zweifel ziehen könnten, von vornherein zu unterbinden“ [2, S. 70].
Els Nannen gibt in seinem Buch „C.G Jung – Der getriebene Visionär“ einen Einblick in die Hintergründe der Angelegenheit [5, S. 53f.]:
„Im November 1896 schenkte Jung seiner Kusine zum 15. Geburtstag das damals viel gelesene Buch »Die Seherin von Prevorst« des genannten Spiritisten Justinus Kerner, was er in seiner Dissertation verschweigt. Die darin geschilderte Visionärin Friederike Hauffe war von Kerner, der selbst als Junge von einem Hypnotiseur von einer Nervenkrankheit geheilt worden sei, heilmagnetisch behandelt worden. Nach dem Essen fiel Helly, das Geburtstagskind, plötzlich in Trance, redete mit der Baßstimme ihres Großvaters Samuel Preiswerk und von sich selbst in der dritten Person [6, S. 68]. Neben Schule und Konfirmandenunterricht beschäftigte sich Helly während jenes Winters 1896-1897 intensiv mit Kerners Buch. »Die religiöse Besessenheit und die Leiden der Seherin hatten deutlich auf sie abgefärbt, und sie betrug sich so würdevoll wie ihr Vorbild« [6, S. 72]. Wenn Helly in ihren Träumen von Stern zu Stern durchs Weltall flog, beschrieb sie die Bilder aus dem populärwissenschaftlichen Buch über Astronomie des an Okkultismus interessierten Astronomen Camille Flammarion. Sie hatte es im Sommer verschlungen. Im Herbst 1897 fragte Jung bei den Mädchen an, ob sie wieder Lust hätten, mit ihm spiritistische Experimente durchzuführen. »Mit Begeisterung« sagten sie zu [6, S. 73]. Seit dem letzten Spiritismus war ein Jahr vergangen; Helly und ihre Freundin waren nun konfirmiert. Helly meinte, daß das Verbot ihres Konfirmators, Onkel Samuel Gottlieb, das er fürs Tischrücken gegeben hatte, nun nicht mehr für sie gälte. »Von den anderen Seancen oder von Hellys Weissagungen hatte er keine Ahnung« [6, S. 74].
Analog der »Seherin von Prevorst« versuchte Helly »schwarze Geister« zu belehren und zu bessern – etwa 19 Jahre später »belehrte« Jung selbst Geister! [5, S. 54]
Später, im Spätherbst 1902, trifft Jung in Paris seine Cousine wieder, mit der er über die Rue Royal und den Place de la Concorde schlendert. Hélène arbeitet jetzt als Damenschneiderin in der Modewelt, und Jung stellt fest, daß sie sich ihres eigenen Wertes bewußt zu sein scheint. Ihre spiritistische Betätigung war offenbar – im Gegensatz zu derjenigen Jungs – vorbei. Die „kleine Helly“, deren intellektuelle Fähigkeiten im Urteil Jungs unterdurchschnittlich zu sein schienen, ist nun eine aktive und erfolgreiche junge Frau in ihrem Beruf geworden [4, p. 88; 7].
Hélène Preiswerk starb im Jahr 1911 sehr früh im Alter von 29 oder 30 Jahren (das genaue Datum ist nicht überliefert).
Quellen und Literaturhinweise
[1] Historisches Familienbuch der Schweiz (Eintrag vom 20. Juli 2020, abgerufen am 23. August 2024 im Web Archive)
[2] Wehr, Gerhard: Carl Gustav Jung – Leben, Werk, Wirkung (Kösel-Verlag GmbH & Co., München 1985 [ISBN 3-466-34112-4]
[3] Jung, Carl Gustav (1999). Obra Completa, volumen 1: Estudios psiquiátricos, Presentación e introducción Enrique Galán Santamaría. Madrid: Editorial Trotta. pp. XXXVIII [ISBN 978-84-8164-341-1]
[4] Wehr, Gerhard (1991). Carl Gustav Jung. Su vida, su obra, su influencia. Colección Testimonios. Traducción Alfredo Eduardo Sinnot, rústica, 582 páginas. Ediciones Paidós.
[5] Nannen, Els: C. G. Jung – der getriebene Visionär. CLV – Christliche Literatur-Verbreitung e.V., Bielefeld 2003 [ISBN 3-89397-298-6, Download als pdf]
[6] Zumstein-Preiswerk, Stefanie: C.G. Jungs Medium. Die Geschichte der Helly Preiswerk. München (1975)
[7] Seite „Hélène Preiswerk„, in: Wikipedia – la enciclopedia de contenido libre
[8] Ellenberger, H. F. (1991). The story of Helene Preiswerk: A critical study with new documents (englischsprachig).
[9] Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene: eine psychiatrische Studie von Dr. med. C. G. Jung, I. Assistenzarzt der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. Leipzig, Druck und Verlag von Oswald Mutze, 1902.
Source: Wellcome Collection. Downloadbar im PDF-Format. Public Domain Mark (Liz.: PDM 1.0).
[10] Shamdasani, Shonu (University College, London): ‘S. W.’ and C. G. Jung: mediumship, psychiatry and serial exemplarity. History of Psychiatry, 26 (3), pp. 288-302. Englischsprachiger Artikel, downloadbar im PDF-Format bei discovery.ucl.ac.uk
Bildnachweis Portrait: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons
Siehe auch die Stichworte:
Medialität – Mesmerismus – Okkultismus – Spiritismus – Hypnose – Trance