Römer 5, 20: Das Gesetz und die Gnade

„Das Gesetz aber ist neben eingekommen, auf daß die Sünde mächtiger würde. Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden.“ (Römer 5, 20)

Es gibt keinen Punkt, über den die Menschen sich mehr im Irrtum befinden, als über das Verhältnis zwischen dem Gesetz und dem Evangelium. Einige stellen das Gesetz an die Stelle des Evangeliums; andere stellen das Evangelium an die Stelle des Gesetzes; einige modifizieren Gesetz und Evangelium und predigen weder das Gesetz noch das Evangelium; und andere tun das Gesetz ganz ab, indem sie das Evangelium predigen. Viele gibt es, die da meinen, das Gesetz sei das Evangelium, und die lehren, daß die Menschen durch Werke der Mildtätigkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Mäßigkeit errettet werden können. Solche Menschen irren. Auf der anderen Seite lehren viele, daß das Evangelium ein Gesetz ist, daß die Menschen, wenn sie gewissenhaft, den darin enthaltenen Geboten gehorchen, auf verdienstliche Weise errettet werden; solche Menschen irren von der Wahrheit ab und verstehen sie nicht. Eine gewisse Klasse behauptet, daß das Gesetz und das Evangelium miteinander vermischt sind und daß die Menschen teils durch Beobachtung des Gesetzes und teils durch Gottes Gnade errettet werden. Diese Männer verstehen nicht die Wahrheit und sind falsche Lehrer.

Heute will ich mit Gottes Hilfe versuchen euch zu zeigen, was die Absicht des Gesetzes ist, und dann, was der Zweck des Evangeliums ist. Bezüglich der Absicht bei dem Kommen des Gesetzes wird gesagt: „Das Gesetz aber ist neben eingekommen, auf daß die Sünde mächtiger würde.“ Dann kommt die Mission des Evangeliums: „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden.“ Ich will diesen Text in zweifachem Sinn betrachten. Zuerst mit Rücksicht auf die Welt im allgemeinen und das Eintreten des Gesetzes in dieselbe; und zweitens in seiner Beziehung auf das Herz des überführten Sünders und das Hineinkommen des Gesetzes in das Gewissen.

Zuerst werden wir von dem Text sprechen in seiner Beziehung zu der Welt. Der Zweck Gottes bei der Sendung des Gesetzes in die Welt war, „daß die Sünde mächtiger würde“. Aber dann kommt das Evangelium, denn „wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden.“ Zuerst also mit Rücksicht auf die ganze Welt. Gott sandte das Gesetz in die Welt, „auf dass die Sünde mächtiger würde.“

Es war Sünde in der Welt lange, ehe Gott das Gesetz sandte. Gott gab sein Gesetz, damit die Sünde als Sünde gesehen würde; ja, damit die Sünde mächtiger würde, viel mehr als sie es ohne das Kommen desselben hätte werden können. Es war Sünde da, lange ehe der Sinai rauchte; lange ehe der Berg unter dem Gewicht der Gottheit zitterte und die furchtbare Posaune laut und stark ertönte, war Übertretung da gewesen. Und wo das Gesetz nie gehört worden ist, in heidnischen Ländern, wo dieses Wort nie erschallte, ist doch Sünde – weil die Menschen, obwohl sie nicht gegen das Gesetz sündigen können, das sie nie gesehen haben, sich dennoch alle gegen das Licht der Natur empören können, gegen die Aussprüche des Gewissens, gegen jene überlieferte Erinnerung an Recht und Unrecht, die der Menschheit von der Stelle, wo Gott sie erschuf, gefolgt ist. Alle Menschen in jedem Land haben ein Gewissen, und darum können alle Menschen sündigen. Der unwissende Hottentotte, der nie etwas von einem Gott gehört hat, besitzt gerade so viel von dem Licht der Natur, daß er in den Dingen, die äußerlich gut oder schlecht sind, den Unterschied wahrnehmen kann; und obgleich er törichterweise vor Stöcken und Steinen sich niederbeugt, hat er doch ein Urteil, das ihn, wenn er es gebrauchte, eines Bessern belehren würde. Wenn er seine Gaben gebrauchen wollte, könnte er wissen, daß es einen Gott gibt, denn der Apostel erklärt deutlich, wenn er von denen spricht, die nur das Licht der Natur haben,

„Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es wahrnimmt, ersehen an seinen Werken; so daß sie keine Entschuldigung haben“ (Röm. 1,20)

Ohne eine göttliche Offenbarung können die Menschen sündigen, und sehr sündigen – gegen Gewissen, Natur, Überlieferung und Vernunft. Jedes von diesen ist genügend, sie für ihr Brechen der Gebote zu verdammen.

Das Gesetz macht niemanden zum Sünder; alle Menschen sind solche in Adam, und waren es tatsächlich vor Einführung des Gesetzes. Es kam, „auf daß die Sünde mächtiger würde“. Nun scheint dies beim ersten Anblick ein sehr schrecklicher Gedanke, und viele Prediger würden diesen Text ganz vermieden haben. Aber wenn ich einen Vers finde, den ich nicht verstehe, so denke ich gewöhnlich, das ist ein Spruch, den ich studieren sollte; und ich versuche ihn zu erforschen vor meinem himmlischen Vater, und dann, wenn Er ihn meiner Seele eröffnet hat, so halte ich es für meine Pflicht, dies mit Hilfe des Heiligen Geistes euch mitzuteilen. „Das Gesetz ist neben eingekommen, auf daß die Sünde mächtiger würde.“ Ich will versuchen euch zu zeigen, wie das Gesetz die Sünde „mächtiger“ macht.

Zuallererst sagt uns das Gesetz, daß vieles Sünde ist, das wir ohne dieses hinzugekommene Licht niemals dafür gehalten haben würden. Selbst mit dem Licht der Natur und dem Licht des Gewissens und dem Licht der Überlieferung gibt es einige Dinge, die wir nie für Sünden gehalten haben würden, wenn das Gesetz es uns nicht gelehrt hätte. Welcher Mensch würde zum Beispiel nach dem Licht des Gewissens den siebten Tag heilig halten, gesetzt, er hätte nie die Bibel gelesen und nie davon gehört? Wenn er auf einer Südseeinsel lebte, so möchte er wissen, daß es einen Gott gibt, aber unmöglich könnte er herausfinden, daß der siebte Teil seiner Zeit für diesen Gott abgesondert werden sollte. Wir finden, daß es bei den Heiden gewisse Feste und Feierzeiten gibt, und daß sie zu Ehren ihrer eingebildeten Götter Tage aussondern; aber ich möchte wissen, wo sie hätten entdecken können, daß ein gewisser siebter Tag für Gott abgesondert werden sollte, damit dieser Tag in seinem Gebetshaus zugebracht würde. Wie konnten sie das, wenn nicht vielleicht durch die Überlieferung die Tatsache von der ursprünglichen Weihe dieses Tages durch den schaffenden Jahwe ihnen übermittelt war. Ich kann es mir nicht denken, daß das Gewissen oder die Vernunft sie ein solches Gebot gelehrt hätte wie dieses: „Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Dinge beschicken; aber am siebten Tag ist der Sabbat des Herrn deines Gottes. Da sollst du kein Werk tun, noch dein Sohn, noch deine Tochter, noch dein Knecht, noch deine Magd, noch dein Vieh, noch dein Fremdling, der in deinen Toren ist.“ Überdies, wenn wir in dem Ausdruck „Gesetz“ das zeremonielle Ritual mit einbegreifen, so können wir deutlich sehen, daß viele Dinge, die scheinbar ganz gleichgültig sind, dadurch zu Sünden gemacht wurden. Das Essen von Tieren, die nicht wiederkäuen und nicht die Klauen spalten, das Tragen von Kleidern, die aus Leinen und Wolle gemengt sind, das Sitzen auf einem Lager, das durch einen Aussätzigen verunreinigt war – mit tausend anderen Dingen: In all diesen scheint keine Sünde zu sein, aber das Gesetz machte sie zu Sünden, und so geschah es, daß die Sünde mächtig wurde.

Es ist eine Tatsache, die ihr wahrnehmen könnt, wenn ihr euer eigenes Gemüt beobachtet, daß das Gesetz eine Tendenz hat, die Menschen aufrührerisch zu machen. Die menschliche Natur lehnt sich gegen Einschränkung auf. Ich wußte nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht gesagt hätte: „Laß dich nicht gelüsten.“ Die Verderbtheit des Menschen wird zur Empörung, gereizt durch die Erlassung von Gesetzen. So böse sind wir, daß sofort der Wunsch in uns entsteht, eine Tat zu tun, einfach, weil sie verboten ist. Kinder, wissen wir alle, wünschen in der Regel immer das, was sie nicht haben dürfen, und wenn es ihnen verboten wird, etwas anzurühren, so werden sie es entweder tun, wenn die Gelegenheit sich bietet, oder sich danach sehnen, es tun zu können. Denselben Hang kann jeder Kenner der menschlichen Natur in der Menschheit im allgemeinen wahrnehmen. Ist denn dem Gesetz meine Sünde zur Last zu legen? Gott behüte.

„Da nahm aber die Sünde Ursache am Gebot und erregte in mir allerlei Lust. Denn die Sünde nahm Ursache am Gebot und betrog mich und tötete mich durch dieses Gebot“ (Röm. 7, 8.11)

„Das Gesetz ist heilig und gerecht und gut“, es ist nicht fehlerhaft, aber die Sünde gebraucht es als eine Ursache zur Übertretung und empört sich, wo sie gehorchen sollte. Augustinus stellte die Wahrheit in ein klares Licht, als er schrieb: „Das Gesetz ist nicht schuld, sondern unsere böse und schlechte Natur; eben wie ein Haufen Kalk still und ruhig ist, bis Wasser darauf gegossen wird, aber dann beginnt er zu rauchen und zu brennen, nicht durch Schuld des Wassers, sondern wegen der Natur und Art des Kalks, der es nicht ertragen will.“ So seht ihr, dies ist ein zweiter Sinn, in dem das Hineinkommen des Gesetzes die Sünde mächtiger werden läßt.

Doch ferner, das Gesetz vergrößert die Sündhaftigkeit der Sünde, indem es jede Entschuldigung der Unwissenheit hinwegnimmt. Bis die Menschen das Gesetz kennen, werden ihre Verbrechen wenigstens gemildert durch teilweise Unwissenheit, aber wenn das Gesetzbuch vor ihnen aufgeschlagen liegt, so werden ihre Sünden größer, da dieselben gegen Licht und Kenntnis begangen sind. Wer gegen das Gewissen sündigt, wird gerichtet werden; eine wie vielmals größere Strafe wird der verdienen, der die Stimme Jahwes verachtet, seiner heiligen Herrschermacht trotzt und eigenwillig seine Gebote mit Füßen tritt! Je mehr Licht, desto mehr Schuld – das Gesetz gewährt dieses Licht und macht uns so zu doppelten Übertretern. O, ihr Nationen der Erde, die ihr das Gesetz Jahwes gehört habt, eure Sünde ist vermehrt und ist mächtiger geworden!

Mich dünkt, ich höre jemanden sagen: „Wie unweise muß es gewesen sein, daß ein Gesetz kam, damit die Sünde mächtiger würde!“ Scheint es nicht beim ersten Anblick sehr hart, daß der große Urheber der Welt uns ein Gesetz gibt, das nicht rechtfertigt, sondern indirekt dazu beiträgt, unsere Verdammnis größer zu machen? Scheint es nicht etwas zu sein, was ein gnädiger Gott uns besser nicht offenbart, sondern vorenthalten haben würde? Aber, wißt ihr, daß die göttliche Torheit weiser ist als die Menschen; und versteht ihr, daß sogar hier ein gnädiger Zweck ist? Die natürlichen Menschen träumen davon, daß sie durch eine strenge Pflichterfüllung Gunst erlangen werden, aber Gott spricht so: „Ich will ihnen ihre Torheit zeigen, indem ich ein so hohes Gesetz verkünde, daß sie daran verzweifeln werden, es zu erfüllen. Sie denken, daß Werke genügen werden, sie zu retten. Sie denken etwas Falsches und werden durch ihren Irrtum ins Verderben kommen. Ich will ihnen ein Gesetz senden, das so furchtbar in seinem Tadel, so unnachgiebig in seinen Forderungen ist, daß es ihnen unmöglich ist, ihm zu gehorchen, und sie werden sogar zur Verzweiflung getrieben werden und dann kommen und meine Barmherzigkeit durch Jesus Christus annehmen. Sie können nicht durch das Gesetz errettet werden – nicht durch das Gesetz der Natur. Wie es jetzt ist, haben sie schon dagegen gesündigt. Aber sie haben doch törichterweise gehofft, mein Gesetz zu halten, und denken, daß sie durch des Gesetzes Werke gerecht werden könnten; während ich gesprochen habe: Durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht; deshalb will ich ein Gesetz schreiben – es soll ein schwarzes und schweres sein -, eine Bürde, die sie nicht tragen können; und dann werden sie sich abwenden und sagen: Ich will es nicht versuchen, dasselbe auszuführen; ich will meinen Heiland bitten, es für mich zu tragen.“ Stellt euch einen Fall vor. Einige junge Männer sind im Begriff zur See zu gehen, und ich sehe voraus, daß sie dort ein Sturm überfallen wird. Gesetzt, es stände in meiner Macht, einen Sturm zu erregen, ehe der andere sich erhebt. Nun, zu der Zeit, wo der natürliche Sturm kommt, werden diese jungen Männer schon weit ins Meer gefahren sein und Schiffbruch leiden, ehe sie zurückkehren und Schutz suchen können.

Aber was tue ich? Nun, gerade, wenn sie an der Mündung des Flusses sind, sende ich einen Sturm, der sie in die größte Gefahr bringt und sie schleunigst zum Ufer treibt, so daß sie gerettet sind. So tat Gott. Er sendet ein Gesetz, das ihnen das Gefährliche ihrer Reise zeigt. Der Sturm des Gesetzes zwingt sie, zum Hafen der freien Gnade zurückzukehren und rettet sie von einem furchtbaren Verderben, das sonst über sie kommen würde. Das Gesetz kam nie, die Menschen zu retten. Das war überhaupt niemals die Absicht desselben. Es kam zu dem Zweck, den Beweis vollständig zu machen, daß die Errettung durch Werke unmöglich ist und so die Erwählten Gottes dahin zutreiben, sich ganz auf die vollendete Errettung des Evangeliums zu verlassen.

Nun, um meine Meinung recht zu erläutern, laßt mich sie noch unter einem anderen Bild beschreiben. Ihr alle kennt jene hohen Berge, die man Alpen nennt. Nun, es würde sehr gut sein, wenn jene Alpen noch etwas höher wären. Jedenfalls wäre es für Napoleons Soldaten gut gewesen, als er seine große Armee hinüberführte, und Tausende bei dem Übergang umkamen. Wenn es möglich gewesen wäre, andere Alpen auf ihren Gipfel zu türmen und sie höher zu machen als den Himalaja, hätte ihn nicht dann die vermehrte Schwierigkeit von seinem Unternehmen abgeschreckt und so den Tod Tausender abgewandt? Napoleon fragte: „Ist es möglich?“ „Nur eben möglich“, war die Antwort. „Vorwärts Marsch!“, rief Bonaparte: und das Heer arbeitete sich bald den Abhang des Berges hinauf. Bei dem Licht der Natur scheint es für uns möglich, über diesen Berg der Werke zu gehen, aber alle Menschen würden bei dem Versuch umgekommen sein, da der Pfad sogar über diesen niederen Berg zu eng für sterbliche Fußtritte ist. Gott stellt darum ein anderes Gesetz wie einen Berg auf den Gipfel desselben; und nun sagt der Sünder: „Ich kann nicht darüber klimmen. Es ist eine Aufgabe, die ein Herkules mit seiner Riesenstärke nicht hätte ausführen können.

Ich sehe vor mir einen engen Paß, der Paß der Barmherzigkeit Jesu Christi genannt, der Paß des Kreuzes, ich denke ich will meinen Weg dahin nehmen.“ Aber wäre der Berg nicht zu hoch für ihn gewesen, so hätte er angefangen, ihn zu erklimmen, bis er in irgend eine Spalte gesunken oder unter einer mächtigen Lawine verschüttet oder in einer anderen Weise auf ewig verloren gegangen wäre. Aber das Gesetz kommt, damit die ganze Welt die Unmöglichkeit der Errettung durch Werke sehen möge.

Wir wollen uns nun zu dem angenehmeren Teil unseres Themas wenden – dem Reichtum der Gnade. Nachdem wir die Verheerungen und den durch die Sünde angerichteten Schaden beklagt haben, erfreut es unser Herz, versichert zu werden, daß die Gnade noch viel mächtiger geworden ist.

Die Gnade kommt der Sünde zuvor in der Anzahl, die sie unter ihre Herrschaft bringt. Es ist mein fester Glaube, daß die Zahl der Erretteten weit größer sein wird als die der Verdammten. Es steht geschrieben, daß Jesus in allen Dingen den Vorrang haben wird; und warum soll dieses ausgelassen werden? Können wir denken, daß Satan mehr Nachfolger haben sollte als Jesus? O nein; denn während es geschrieben steht, daß die Erlösten eine Zahl sind, die kein Mensch zählen kann, wird nirgends berichtet, daß die Verlorenen über die Zählung hinaus sind. Es ist wahr, daß die sichtbar Erwählten nur „Übriggebliebene“ sind, aber es sind noch andere, die hinzukommen! Denkt einen Augenblick an das Heer von Kinderseelen, das jetzt im Himmel ist. Diese alle fielen in Adam, aber da sie alle erwählt waren, wurden sie alle erlöst und wiedergeboren und hatten das Vorrecht, von ihrer Mutter Brust geradewegs zur Herrlichkeit zu gelangen. Glückliches Los, das wir, die am Leben geblieben sind, wohl beneiden möchten. Und laßt es auch nicht vergessen werden, daß die Menge der Bekehrten im Tausendjährigen Reich sehr dazu beitragen wird, den Ausschlag zu geben. Denn dann wird die Welt sehr bevölkert sein, und tausend Jahre einer Herrschaft Gnade mögen leicht genügen, die Mehrzahl, welche von der Sünde in sechstausend Jahren ihrer Tyrannei gewonnen ist, zu überwinden. In jener friedlichen Periode, wenn alle, vom Kleinsten bis zum Größten, Ihn kennen werden, sollen die Kinder Gottes wie Tauben zu ihren Löchern fliegen, und die Familie des Erlösers wird sich außerordentlich vermehren.

Wenn auch die, welche vom Aberglauben verführt und von den Lüsten verdorben sind, nach Tausenden gezählt werden müssen – so hat doch die Gnade noch immer den Vorrang. Saul hat seine Tausende geschlagen, aber David seine Zehntausende. Wir geben zu, daß die Zahl der Verdammten ungemein groß sein wird, aber wir denken, daß die beiden Stände der Kindheit und der tausendjährigen Herrlichkeit eine so große Reserve von Heiligen liefern werden, daß Christus das Feld behalten wird. Die Prozession der Verlorenen mag lang sein – es müssen Tausende und Abertausende sein, die verloren sind -, aber die größere Prozession des Königs aller Könige wird aus zahlreicheren Heeren bestehen als jene. „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden.“ Der Trophäen freier Gnade werden weit mehr sein als der Trophäen der Sünde.

Ferner noch. Die Gnade ist „viel mächtiger“, weil eine Zeit kommen wird, wo die Welt ganz voll Gnade sein wird; während es nie eine Periode in der Geschichte dieser Welt gegeben hat, wo sie ganz der Sünde hingegeben war. Als Adam und Eva sich gegen Gott empörten, war doch noch eine Gnadenentfaltung in der Welt, denn am Schluß des Tages sprach Gott in dem Garten: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.“ Und seit dieser ersten Übertretung ist nie ein Augenblick gewesen, wo die Gnade ganz ihren Halt auf der Erde verloren hätte. Gott hat stets seine Diener auf der Erde gehabt; zuweilen sind sie bei fünfzig in den Höhlen versteckt gewesen, aber sie sind nie völlig vertilgt worden. Die Gnade mag sehr niedrig stehen; der Strom mag sehr seicht sein, aber er ist nie ganz trocken gewesen. Es hat immer ein Salz der Gnade gegeben, um der Macht der Sünde entgegenzuwirken. Die Wolken sind nie so allgemein gewesen, daß sie den Tag verborgen hätten. Aber die Zeit naht rasch, wo die Gnade sich über unsere ganze arme Welt ausdehnen und allgemein sein wird. Nach dem Zeugnis der Bibel sehen wir aus nach dem großen Tag, wo die dunkle Wolke, welche diese Welt in Finsternis gehüllt hat, hinweggenommen wird und sie wiederum wie alle anderen Planeten leuchten wird. Sie ist viele lange Jahre durch die Sünde und Verderbnis umwölkt und verschleiert gewesen; aber das letzte Feuer soll ihr Lumpen und ihr Sackleinen verzehren. Nach diesem Feuer soll die Welt in Gerechtigkeit leuchten. Die große, geschmolzene Masse, die jetzt in den Eingeweiden unserer gemeinsamen Mutter schlummert, soll die Mittel zur Reinheit liefern. Paläste, Kronen, Völker und Reiche sollen alle geschmolzen werden, und wenn die jetzige Schöpfung wie ein Pesthaus ganz verbrannt sein wird, dann wird Gott seinen Hauch über die heiße Masse senden, und sie wird wieder abkühlen. Er wird sie anlächeln, wie Er es bei der ersten Schöpfung tat, und die Flüsse werden die neugemachten Berge hinabströmen, die Ozeane werden in neugemachten Betten ruhen; und ewig sein. Diese gefallene Welt wird wieder in ihre Bahn eingelenkt werden; der Edelstein, der aus Gottes Zepter verloren war, soll wiederum eingefaßt werden, ja. Er wird ihn wie ein Siegel an seinem Arm tragen. Christus starb für die Welt, und das, wofür er starb, will Er haben. Er starb für die ganze Welt, und die ganze Welt will Er haben, wenn Er sie gereinigt, geläutert und für sich selber bereitet hat. „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden.“ Denn die Gnade soll allgemein sein, was die Sünde niemals war.

Noch einen Gedanken mehr. Hat die Welt ihren Besitz durch die Sünde verloren? Sie hat viel mehr durch die Gnade gewonnen. Es ist wahr, wir sind aus einem Garten voll Wonne vertrieben , wo Friede, Liebe und Glückseligkeit eine herrliche Wohnung fanden. Es ist wahr, Eden ist nicht unser mit seinen köstlichen Früchten, seinen wonnigen Lauben und Strömen, die über Goldsand dahinflössen, aber wir haben durch Jesus eine schönere Wohnung. Er hat uns himmlische Stätten bereitet – die Ebenen des Himmels übertreffen die Auen des Paradieses an immer neuen Wonnen, die sie gewähren, während der Baum des Lebens und der Strom, der von dem Thron fließt die Bewohner der himmlischen Regionen noch glücklicher als im Paradies machen. Verloren wir das natürliche Leben und wurden wir einem schmerzvollen Tode unterworfen durch die Sünde? Hat nicht die Gnade eine Unsterblichkeit geoffenbart, um deretwillen wir nur zu gern sterben? Das in Adam verlorene Leben ist in Christus mehr als wiederhergestellt. Wir geben zu, daß unsere ursprünglichen Gewänder durch Adam in Stücke zerrissen wurden, aber Jesus hat uns mit einer göttlichen Gerechtigkeit bekleidet, die an Wert sogar die fleckenlosen Gewänder geschaffener Unschuld weit übertrifft. Wir trauern über unseren durch die Sünde so niedrig und elend gewordenen Zustand, aber wir wollen uns freuen in dem Gedanken, daß wir jetzt sicherer sind als vor unserem Fall und in engere Verbindung mit Jesu gebracht sind als wir es in unserem ungefallenen Zustand hätten sein können. O Jesus, Du hast uns ein ausgedehnteres Erbteil gewonnen als Adam je durch seine Torheit verlor. Du hast uns eine Schatzkammer mit größeren Reichtümern gefüllt als unsere Sünde je verschwendet hat. Deine Gnade hat unsere Sünden überragt. „Die Gnade ist viel mächtiger geworden.“

Nun kommen wir zum zweiten Teil des Themas, das Hineinkommen des Gesetzes in das Herz. Wir müssen behutsam sein, wenn wir es mit innerlichen Dingen zu tun haben; es ist nicht leicht, über dieses kleine Ding, das Herz, zu reden. Wenn wir beginnen, von dem Gesetz ihrer Seele zu sprechen, so werden viele unwillig, aber wir fürchten ihren Zorn nicht. Wir wollen den verborgenen Menschen heute angreifen. Das Gesetz kam in ihre Herzen hinein, damit die Sünde mächtiger würde: „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden.“

Das Gesetz läßt die Sünde mächtiger werden, indem es die Sünde der Seele enthüllt. Wenn Gott der Heilige Geist das Gesetz dem Gewissen vorhält, so werden geheime Sünden ans Licht gezogen, kleine Sünden zu ihrem wahren Umfang vergrößert und scheinbar harmlose Dinge werden außerordentlich sündig. Ehe jener furchtbare Erforscher der Herzen und Prüfer der Nieren in die Seele hineinkommt, erscheint sie gerecht, lieblich und heilig; aber wenn Er die verborgenen Übel enthüllt, so ist die Summe verändert. Übertretungen, die einst kleine Sünden, Geringfügigkeiten, jugendliche Einfälle, Torheiten, Nachgiebigkeiten oder kleine Fehltritte genannt wurden, erscheinen dann in ihrer wahren Farbe als ein Brechen des göttlichen Gesetzes, das angemessene Strafe verdient.

John Bunyan soll meine Meinung durch einen Auszug aus seiner berühmten Allegorie verdeutlichen: „Darauf nahm der Ausleger Christ bei der Hand und führte ihn in ein sehr großes Zimmer, welches voll Staub war, weil es nie gefegt wurde, und in welches der Ausleger, nachdem er sich ein wenig darin umgesehen hatte, einen Mann zum Fegen rief. Als dieser nun zu fegen begann, flog der Staub so reichlich umher, daß Christ fast erstickte. Da sagte der Ausleger zu einer Magd, die dabei stand: Bring Wasser her und besprenge das Zimmer; nachdem sie dies getan hatte, wurde es mit Vergnügen gefegt und gereinigt. Darauf fragte Christ: Was bedeutet das? Der Ausleger antwortete: Dieses Zimmer ist das Herz des Menschen, das nie von der lieblichen Gnade des Evangeliums geheiligt wurde. Der Staub ist die Erbsünde und die innere Verderbtheit, die den ganzen Menschen verunreinigt hat. Der, welcher zuerst zu fegen begann, ist das Gesetz; aber die, welche das Wasser brachte und sprengte, ist das Evangelium. Nun, du sahst, daß, sobald der erste zu fegen begann, der Staub so umherflog, daß das Zimmer nicht von ihm gereinigt werden konnte, sondern daß du fast dadurch ersticktest; dies ist, um dir zu zeigen, daß das Gesetz, statt das Herz (durch seine Wirksamkeit) von der Sünde zu reinigen, diese lebendig macht (Röm 7,9), Kraft hineinlegt (l. Kor 15,56) und sie mächtig werden läßt (Röm 5,20), eben weil es sie enthüllt und verbietet, denn dies gibt keine Kraft, sie zu bezwingen. Wiederum sahst du die Magd das Zimmer mit Wasser besprengen, worauf es mit Vergnügen gereinigt wurde; dies soll dir zeigen, daß, wenn das Evangelium mit seinen lieblichen und köstlichen Einflüssen in das Herz kommt, eben wie du die Magd den Staub legen sahst durch das Besprengen mit Wasser, so wird die Sünde besiegt und bezwungen, und die Seele wird durch den Glauben gereinigt und zu einer Wohnung für den König der Herrlichkeit tauglich gemacht.“

Das Herz ist wie ein dunkler Keller, voll Eidechsen, Käfern, Motten und allerlei Reptilien und Insekten, die wir im Dunkeln nicht sehen können, aber das Gesetz macht die Läden auf und läßt das Licht ein, und so sehen wir das Übel. Weil so die Sünde durch das Gesetz wahrnehmbar wird, steht geschrieben, daß sie durch dasselbe mächtig wird.

Noch eins. Das Gesetz, wenn es ins Herz kommt, zeigt uns. wie sehr schwarz wir sind. Einige von uns wissen, daß wir Sünder sind. Es ist sehr leicht, es zu sagen. Das Wort „Sünder“ hat nur zwei Silben, und es gibt viele, die es oft auf ihren Lippen haben, aber es nicht verstehen. Sie sehen ihre Sünde, aber sie erscheint ihnen nicht ungemein sündig, bis das Gesetz kommt. Wir denken, daß etwas Sündiges darin ist; aber wenn das Gesetz kommt, so sehen wir die Abscheulichkeit. Hat Gottes heiliges Licht je in eure Seelen geschienen? Wurden je die Brunnen eures großen Verderbens vor euch aufgedeckt und seid ihr genügend wach gewesen, um zu sagen: „0 Gott! ich habe gesündigt?“ Nun, wenn eure Herzen durch das Gesetz bloßgelegt worden sind, so werdet ihr das Herz trügerischer als den Teufel finden. Ich kann dies von mir selber sagen, ich bin sehr bang vor dem meinigen, es ist so schlecht. Die Bibel sagt: „Es ist das Herz überaus tückisch und ein heilloses Ding.“ Der Teufel ist eins der Dinge, deshalb ist es schlechter als der Teufel. Wie viele finden wir, die sprechen: „Nun, ich habe im Grunde ein sehr gutes Herz. Es mag obenauf ein bißchen fehlerhaft sein, aber im Grunde bin ich sehr gutherzig.“ Wenn ihr oben in einem Korb Obst sähet, das nicht ganz gut wäre, würdet ihr den Korb kaufen, weil man euch sagte: „Das gesunde Obst befindet sich unten im Korb.“ „Nein, nein“, würdet ihr sagen, „das Beste ist ohne Zweifel obenauf, und wenn es da schlecht ist, so ist es unten sicherlich verfault.“ Es gibt viele Leute, die ein wunderliches Leben führen, und einige Freunde sagen: „Er ist im Grunde gutherzig; er betrinkt sich zwar zuweilen, aber er ist im Grunde sehr gutherzig.“ Ah! Glaubt es nie. Die Menschen werden selten für besser geschätzt als sie zu sein scheinen. Wenn die Außenseite des Bechers oder der Schüssel rein ist, mag die innere Seite schmutzig sein, aber wenn die Außenseite unrein ist, so könnt ihr immer sicher sein, daß die innere Seite nicht besser ist. Die meisten von uns stellen ihre Vorräte ins Fenster – die besten vornan und das Schlechte dahinter. Anstatt Entschuldigungen für uns selber, für die Schlechtigkeit unserer Herzen zu machen, laßt uns, wenn das Gesetz in unsere Seele hineingekommen ist, uns niederbeugen und sprechen: „0, die Sünde, o, die Unreinheit, die Schwärze, die furchtbare Natur unserer Verbrechen.“ „Das Gesetz kam, auf daß die Sünde mächtig würde.“

Das Gesetz offenbart die überaus große Macht der Sünde, indem es uns die Verderbtheit unserer Natur enthüllt. Wir sind alle bereit, der Schlange die Schuld für unsere Sünde zu geben oder anzudeuten, daß wir irre gegangen sind durch die Macht des bösen Beispiels, aber der Heilige Geist verscheucht diese Träume dadurch, daß Er das Gesetz in unsere Herzen bringt. Dann sind die Brunnen der großen Tiefe aufgebrochen, die Kammern der Bildwerke (Hes. 8,12) sind geöffnet, das angeborene Böse in dem innersten Wesen des gefallenen Menschen ist entdeckt.

Das Gesetz schneidet in den Kern des Übels hinein, es offenbart den Sitz der Krankheit und belehrt uns, daß der Aussatz tief drinnen liegt. 0 wie der Mensch sich selbst verabscheut, wenn er all seine Wasserflüsse in Blut verwandelt und Ekelhaftigkeit über sein ganzes Wesen kriechen sieht! Er lernt, daß die Sünde keine Fleischwunde ist, sondern ein Stich ins Herz; er entdeckt, daß das Gift in seine Adern gedrungen ist, in seinem Mark liegt und seine Quelle im innersten Herzen hat. Nun verabscheut er sich und möchte gern geheilt werden. Tatsächliche Sünde scheint nicht halb so schrecklich wie angeborene Sünde, und bei dem Gedanken an das, was er ist, erbleicht er und gibt die Errettung durch Werke als eine Unmöglichkeit auf.

Nachdem das unnachgiebige Gesetz so die Maske abgerissen und den verzweifelten Zustand des Sünders gezeigt hat, macht es die Sünde noch mächtiger, indem es uns das Verdammungsurteil tief einprägt. Es setzt sich auf den Richterstuhl, bricht den Stab und spricht das Todesurteil aus. Mit harter, mitleidsloser Stimme donnert es die Worte aus: „Schon gerichtet.“ Es heißt die Seele ihre Verteidigung vorbereiten und weiß sehr wohl, daß ihr alle Entschuldigung durch sein früheres Werk der Überführung genommen ist. Der Sünder verstummt deshalb, und das Gesetz hebt mit finsterem Blick den Schleier der Hölle auf und läßt den Menschen in die Qualen hineinschauen. Die Seele fühlt, daß der Spruch gerecht ist, daß die Strafe nicht zu streng ist, und daß sie kein Recht hat, Barmherzigkeit zu erwarten; sie steht bebend, zitternd, ohnmächtig und voll Traurigkeit, bis sie in völliger Verzweiflung niederfällt. Der Sünder legt sich selbst den Strick um den Hals, kleidet sich in das Gewand der Verurteilten und wirft sich am Fuß des Throns seines Königs nieder mit nur einem Gedanken: „Ich bin schlecht“, und mit einem Gebet: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“

Das Gesetz hört nicht einmal hier mit seiner Wirkung auf, denn es macht die Missetat noch augenscheinlicher, indem es die durch die Sünde erzeugte Kraftlosigkeit enthüllt. Es verurteilt nicht nur, sondern es tötet tatsächlich. Wer einst dachte, daß er nach Gefallen Buße tun und glauben könnte, findet in sich weder zu dem einen noch zu dem anderen die Kraft.

Wenn Mose den Sünder schlägt, so zerstößt und zermalmt er ihn mit dem ersten Schlag, aber bei einem zweiten oder dritten fällt dieser wie ein Toter nieder. Ich habe mich selbst in einem solchen Zustand befunden, daß, wenn der Himmel mit einem einzigen Gebet zu erkaufen gewesen wäre, ich doch hätte verdammt werden müssen, denn ich konnte ebenso wenig beten wie ich fliegen konnte. Überdies, wenn wir in dem Grab sind, welches das Gesetz für uns gegraben hat, so fühlen wir, als wenn wir nicht fühlen könnten, und wir sind betrübt, weil wir nicht betrübt sein können. Der furchtbare Berg liegt auf uns, der es uns unmöglich macht, Hand oder Fuß zu rühren, und wenn wir um Hilfe schreien wollen, so versagt die Stimme uns den Gehorsam. Vergeblich ruft der Prediger: „Tut Buße.“ Unser hartes Herz will nicht schmelzen; vergeblich mahnt er uns zu glauben; dieser Glaube, von dem er spricht, scheint ebenso sehr über unsere Fähigkeit hinaus wie die Erschaffung eines Weltalls. Der Ruin ist nun in der Tat ein Ruin geworden. Der donnernde Spruch tönt uns in den Ohren: „Schon gerichtet“, ein anderer Ruf folgt ihm: „Tot in Übertretungen und Sünden“, und ein dritter, noch schrecklicherer und entsetzlicherer mischt seine grauenvolle Warnung hinein: „Der zukünftige Zorn – der zukünftige Zorn.“ Der Sünder ist seiner Meinung nach jetzt hinausgeworfen wie ein verwester Leichnam, er erwartet jeden Augenblick von dem Wurm, der niemals stirbt, gequält zu werden und seine Augen in der Hölle aufzuheben. Jetzt ist der Augenblick für die Barmherzigkeit da, und wir wenden uns von dem verdammenden Gesetz zu der mächtigen Gnade.

Hör zu, o du schwer beladener, verurteilter Sünder, während ich in meines Meisters Namen reichliche Gnade verkünde. Die Gnade übertrifft die Sünde an Maß und Wirksamkeit. Obgleich deiner Sünden viele sind, hat die Barmherzigkeit viel Vergebung. Ob sie die Sterne, die Sandkörner oder die Tautropfen an Zahl übertreffen, kann ein Akt der Vergebung sie alle austilgen. Deine Missetat soll wie ein Berg in die Mitte des Meeres geworfen werden. Deine Schwärze soll hinweggewaschen werden durch die reinigende Flut des Blutes deines Erlösers. Denk daran! Ich sagte, deine Sünden, und ich beabsichtigte das zu sagen, denn wenn du jetzt ein vom Gesetz verurteilter Sünder bist, so weiß ich gerade an diesem Zeichen, daß du ein Gefäß der Barmherzigkeit bist. O, höllische Sünder, verworfene Bösewichter, Ausgestoßene, sogar aus der Gesellschaft der Sünder, Ausgestoßene, wenn ihr eure Missetat anerkennt, so ist hier Barmherzigkeit, freie, reichliche, unermeßliche, unendliche. Denk daran, o Sünder: Wenn alle Sünden, die Menschen begangen haben in Willen und Worten, Gedanken und Taten, seit die Welt geschaffen wurde, auf eines armen Sünders Haupt gelegt würden, so würde doch der Strom des teuren Blutes Jesu die ganze schreckliche Last hinwegnehmen. Doch die Gnade übertrifft die Sünde noch in etwas anderem. Die Sünde zeigt uns ihren Vater und sagt uns, daß unser Herz ihr Vater ist, aber die Gnade übertrifft die Sünde hier und zeigt den Urheber der Gnade – den König aller Könige. Das Gesetz verfolgt die Spur der Sünde bis in unser Herz hinein; die Gnade verfolgt ihren eigenen Ursprung bis zu Gott.

„Da ich noch nicht geschaffen war,
Da reicht‘ Er mir schon Gnade dar.“

O Christ, was für ein gesegnetes Ding ist die Gnade, denn ihre Quelle ist in den ewigen Bergen. Sünder, wenn du der Schändlichste in der Welt bist, so wirst du doch, wenn Gott dir heute morgen vergibt, imstande sein, deinen Stammbaum bis zu Ihm hinauf zu verfolgen, denn du wirst eins der Kinder Gottes werden und Ihn immer zum Vater haben. Mich dünkt, ich sehe dich als einen elenden Verbrecher vor dem Richterstuhl, und ich höre die Barmherzigkeit rufen: „Sprich ihn frei!“ Er ist bleich, lahm, verstümmelt – heile ihn. Er ist von einer schändlichen Rasse – siehe, ich will ihn in meine Familie aufnehmen. Sünder! Gott nimmt dich als sein Kind an. Was tut es, wenn du auch arm bist, Gott sagt: „Ich will dich auf ewig als mein eigen annehmen, du sollst mein Erbe sein. Hier ist dein glorreicher Bruder. In Banden des Blutes ist Er eins mit dir – Jesus ist dein wirklicher Bruder! “ Doch, wie kam diese Veränderung? O, ist das nicht ein Akt der Barmherzigkeit? „Die Gnade ist viel mächtiger geworden.“

„O Wunderliebe, die mich wählte
Vor allem Anbeginn der Welt,
Und mich zu ihren Kindern zählte,
Für welche sie das Reich bestellt.“

Die Gnade kommt der Sünde zuvor, denn sie hebt uns höher als der Platz war, von dem wir fielen.

Und wiederum: „Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade viel mächtiger geworden“; weil der Spruch des Gesetzes aufgehoben werden kann, aber der der Gnade niemals. Ich stehe hier und fühle mich verurteilt, doch habe ich vielleicht eine Hoffnung, daß ich freigesprochen werden könnte. Es ist eine sterbende Hoffnung auf Freisprechung noch übrig. Aber wenn wir gerechtfertigt sind, so ist keine Furcht der Verdammung mehr da. Ich kann nicht verdammt werden, wenn ich einmal gerechtfertigt worden bin; völlig freigesprochen bin ich durch die Gnade. Ich biete dem Satan Trotz, Hand an mich zu legen, wenn ich ein Gerechtfertigter bin. Der Stand der Rechtfertigung ist ein unveränderlicher und ist unauflöslich mit der Herrlichkeit verbunden, „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und uns vertritt.

Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Aber in dem allen überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserem Herrn. (Römer 8, 35+37-39)

O, armer verdammter Sünder, reizt dies dich nicht und läßt dies dich nicht die freie Gnade lieben? Und all dieses ist dein. Deine Verbrechen sollen, wenn sie einmal ausgetilgt sind, dir nie wieder zur Last gelegt werden. Die Rechtfertigung des Evangeliums ist keine Arminianische, scheinbare, die wieder aufgehoben werden kann, wenn wir künftig abweichen sollten. Nein, die einmal bezahlte Schuld kann nicht zweimal gefordert werden – die einmal erduldete Strafe kann nicht wieder auferlegt werden. Errettet, errettet, errettet! Ganz errettet durch die göttliche Gnade, könnt ihr ohne Furcht durch die weite Welt gehen.

Und noch eins. Gerade wie die Sünde uns krank und kummervoll und traurig macht, so macht die Gnade uns viel freudiger und freier. Die Sünde läßt den Menschen mit Weh im Herzen umhergehen, bis er aussieht, als wenn die Welt ihn verschlingen wollte und Berge über ihm hingen, im Begriff, auf ihn zu fallen. Dies ist die Wirkung des Gesetzes. Das Gesetz macht uns traurig; das Gesetz macht uns elend. Aber, armer Sünder, die Gnade nimmt die bösen Wirkungen der Sünde auf dein Gemüt hinweg; wenn du an den Herrn Jesus Christus glaubst, so sollst du von diesem Ort mit einem strahlenden Auge und einem leichten Herzen weggehen. Ach, gut erinnere ich mich des Morgens, als ich in ein kleines Gotteshaus eintrat, fast so elend, wie die Hölle mich machen konnte – verderbt und verloren. Ich war oft in Kapellen gewesen, wo man vom Gesetz sprach, aber ich hatte nicht das Evangelium gehört. Ich setzte mich nieder wie ein gefesselter und gefangener Sünder; das Wort Gottes kam und ich ging frei hinaus: ein begnadigter Sünder. Obwohl ich elend wie die Hölle hineinging, kam ich freudig und erhoben heraus. Ich saß da schwarz; ich ging weg, weißer als frisch gefallener Schnee. Gott hatte gesprochen: „Wenn deine Sünden gleich blutrot sind, sollen sie doch weißer als Schnee werden.“ Warum sollte dies nicht dein Los sein, mein Bruder, wenn du dich jetzt als Sünder fühlst? Alles, was Er von dir verlangt, ist, daß du fühlst, daß du Ihn nötig hast, dies hast du getan, und nun liegt das Blut Jesu vor dir. „Das Gesetz ist neben eingekommen, daß die Sünde mächtiger würde.“ Dir ist vergeben, glaub es nur; du bist erwählt; glaub es nur; es ist die Wahrheit, daß du errettet bist.

Und nun zuletzt, armer Sünder, hat die Sünde dich untauglich für den Himmel gemacht? Die Gnade wird dich zu einem passenden Gefährten für Seraphim und für die vollkommenen Gerechten machen. Du, der du heute verloren und durch die Sünde zu Grunde gerichtet bist, sollst dich eines Tages finden mit einer Krone auf deinem Haupt und einer goldenen Harfe in deiner Hand, erhoben zu dem Thron des Höchsten. Denke, o Trunkenbold, wenn du Buße tust, so ist eine Krone für dich im Himmel aufbewahrt. Ihr Schuldigsten, Verlorensten und Entwürdigtsten, seid ihr in eurem Gewissen durch das Gesetz verdammt? Dann lade ich euch ein, in meines Meisters Namen, die Vergebung durch sein Blut anzunehmen. Er hat an eurer Statt gelitten. Er hat für eure Schuld gebüßt, und ihr seid freigesprochen. Er hat Dich von Ewigkeit her geliebt, das Gesetz ist nur ein Zuchtmeister, dich zu Christus zu bringen. Wirf dich auf Ihn. Falle in die Arme der rettenden Gnade. Keine Werke werden gefordert, keine Tauglichkeit, keine Gerechtigkeit, kein Tun. Ihr seid vollkommen in Ihm, der sprach: „Es ist vollbracht!“ Amen.

„Es ist das Heil uns kommen her
Aus lauter Gnad‘ und Güte,
Die Werke helfen nimmermehr
Zum Frieden dem Gemüte;
Der Glaub‘ sieht Jesus Christus an,
Der hat für alle g’nug getan;
Er ist der Mittler worden.

Daran ich keinen Zweifel trag‘,
Dein Wort kann nimmer lügen;
Du sprichst ja, daß kein Mensch verzag‘,
Und wirst fürwahr nicht trügen:
Wer glaubt an mich und wird getauft,
Dem ist der Himmel schon erkauft,
Daß er nicht werd‘ verloren.“

Quelle: Glaubensstimme

Charles Haddon Spurgeon, Das Gesetz und die Gnade