Von dem hohen Wert jeder einzelnen Menschenseele

Ludwig Hofacker

55. Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis

Bibeltext: Matth. 18, 1-11  (Übersetzung: LUTHER 1912).

Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größte im Himmelreich? Jesus rief ein Kind zu sich und stellte das mitten unter sie und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich. Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf. Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft werde im Meer, da es am tiefsten ist.

Weh der Welt der Ärgernisse halben! Es muß ja Ärgernis kommen; doch weh dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt! So aber deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so haue ihn ab und wirf ihn von dir. Es ist besser, daß du zum Leben lahm oder als Krüppel eingehst, denn daß du zwei Hände oder zwei Füße hast und wirst in das höllische Feuer geworfen. Und so dich dein Auge ärgert, reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist dir besser, daß du einäugig zum Leben eingehest, denn daß du zwei Augen habest und wirst in das höllische Feuer geworfen. Sehet zu, daß ihr nicht jemand von diesen Kleinen verachtet. Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit in das Angesicht meines Vaters im Himmel. Denn des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu machen, das verloren ist.

Die Jünger JEsu, als ungeschminkte Leute, stritten sich in Seiner Gegenwart um das Großsein im Himmelreich, was auch sonst einige Male einen Zwist unter ihnen veranlaßte, weil das Großsein-Wollen dem Menschen gar tief im Herzen steckt. Damit kann denn die Liebe und die brüderliche Wertschätzung des Nächsten nicht bestehen; darum weist der Heiland seine Jünger auf die Kinder hin, und bezeugt ihnen, wer nicht werde wie ein Kind, der könne nicht in das Himmelreich kommen.

Der Hochmut ist der Liebe durchaus hinderlich, und schließt sie völlig aus; der Hochmütige sieht bloß auf das Große, und übersieht das Kleine; die Liebe aber sieht mehr auf das Kleine und Niedrige, und darum hat sich auch der Heiland der Ärmsten, Verlassensten und Geringsten am meisten angenommen, und feierlich erklärt, wie es auch Seines Vaters Wille sei, keines der Geringsten verloren gehen zu lassen. Diesen Sinn, der sich selbst der geringsten Menschenseele hilfreich und erbarmend annimmt, fordert Er auch von uns; die Sorge für die Seelen unserer Mitmenschen, die Ihm die wichtigste war, soll auch uns die wichtigste sein. Darum will ich heute zeigen, wie viel an einer einzigen Seele gelegen sei, und reden

Von dem hohen Wert jeder einzelnen Menschenseele.

I. Dies ist zu beweisen;

II. Welche Folgerungen ergeben sich daraus für uns?

I.

Jeder einzelne Mensch, sei er alt oder jung, sei er zur Klarheit des Glaubens hindurchgedrungen oder nicht, sei er reich oder ein Bettler, sei er gebildet oder ungebildet, berühmt oder unberühmt, kenne man seinen Namen in der ganzen Welt, oder sei er ungenannt und unbekannt, – wir Alle, die wir hier versammelt sind, also Du, und Du, und Du, – ein Jeder von uns insbesondere ohne irgend eine Ausnahme, – ich sage: jeder einzelne Mensch hat einen unbeschreiblich hohen Wert. In jedem Menschen sind göttliche Kräfte und Anlagen; jeder hat einen Funken des ewigen Lebens in sich; die Natur eines jeden weist auf eine ewige Bestimmung hin; in jedem Menschen ist eine kleine Welt, und was er in dieser Welt lebt, das hat seine Beziehung auf die Ewigkeit, eine ewige Bedeutung. Wenn ein Mensch aus diesem Leben hinausstirbt, so ist es, wie wenn die ganze Welt ihm stürbe; und wenn ein Mensch in diese Welt hereingeboren wird, so wird ihm, daß ich mich so ausdrücke, die Welt geboren; denn sie wäre für ihn nicht da, wenn er nicht geboren würde. Darum sage ich: eine jede einzelne Menschenseele hat, für sich betrachtet, einen unbeschreiblich hohen, göttlichen, ewigen Wert und Bedeutung. Es besteht jede Seele für sich; wenn die ganze Welt glücklich ist, und du bist unglücklich, – was hast du davon? Ist dir dann nicht die ganze Welt unglücklich, weil du es bist? Wenn die ganze Welt selig wäre, und ich würde in die Hölle geworfen; was hätte ich von der Seligkeit der Andern? Ich, ich, d.h. mein Alles, wäre eben unselig. –

Diese tiefe Wahrheit aber, welche uns so stark zur Wertschätzung eines jeden unserer Mitmenschen auffordert, wird in der Welt oder von der Welt wenig oder nicht geachtet. In der Welt pflegt man alles so in’s Große und Ganze zu nehmen; auf das Einzelne, Unscheinbare nimmt man fast nicht Bedacht, das läßt man so in’s Allgemeine verschwimmen, und sich darin verlieren, als ob es keinen Wert hätte. Man führt Kriege, wo die Menschen zu Tausenden umkommen, und nur, wenn der Verlust an Toten sich auf viele Tausende erstreckt, hält man ihn für einen namhaften Verlust. Man ist, zur Schande dieses Zeitalters muß es gesagt werden, nicht zufrieden, wenn die öffentlichen Nachrichten nur von Etlichen, oder gar nur von Einem schreiben, der in diesem oder jenem Treffen geblieben sei; das, meint man, sei ja gar nicht der Mühe wert, daß man davon rede und schreibe, das lohne sich ja nicht, gelesen zu werden. – – Lieber! wenn ein Mensch stirbt, stirbt denn da nicht die ganze Welt für ihn? Ist der Verlust eines Lebens und einer Welt nicht ein unberechenbarer Verlust, – wenn auch nicht für dich, doch für ihn, für ihn, der sterben muß? – Aber dies ist’s gerade, was der Heiland gesagt hat: „die Liebe wird in Vielen erkalten.“ Wenn die einzelne Seele nicht mehr in Anschlag genommen wird, sondern, wenn man nach Haufen, nach Hunderten und Tausenden zu rechnen anfängt, und gegen Hunderte und Tausende, die unglücklich werden, erst kein Mitleiden hat, weil man keines mit dem Einzelnen hat: dann ist ja die Liebe kalt, dann sind die Herzen fühllos und erbarmungslos geworden! Man hört von einem bedeutenden Unglücksfall, der da oder dort sich ereignet habe. Der Vornehme fragt: „was ist’s für ein Mensch, dem dieses Unglück widerfahren ist?“ Man antwortet: „es ist der und der, von niedriger Herkunft, ein Taglöhner, ein Armer“ – nun heißt es: „nur ein Solcher?“ und dann schlägt man sich’s aus dem Sinne. So macht es der Reiche gegen den Armen, der Gelehrte gegen den Ungelehrten, der Gebildete gegen den Ungebildeten; nicht Alle, aber Viele, die keine Liebe haben, und deren sind leider Viele. Aber ist denn dein armer, geringer, ungebildeter Mitbruder nicht ein Mensch so gut als du? Ist er nicht ein für sich bestehendes Wesen, das für sich denkt, will und empfindet, und in welchem eine ganze, ganze Hölle, oder auch ein ganzer, ganzer Himmel aufgehen kann?

Wie ganz anders, o wie ganz anders sieht Gott die Menschen an! Der HErr, der die Liebe ist, sieht auf’s Einzelne, auf Jeden insbesondere; Er hat Sein ewiges Absehen auf dich und mich, auf uns Alle, Er habe uns nun in diesen oder jenen Stand, in diese oder jene äußeren Verhältnisse hereingesetzt. Es ist keine Seele unter uns, an welche Er nicht schon von Ewigkeit gedacht, welche Er nicht schon von Ewigkeit in den großen Weltplan hineingerechnet hätte, auf die Er nicht mit Wohlgefallen, oder aber mit Mitleiden und Barmherzigkeit herabblickte, deren Er sich nicht annähme; vor Ihm ist keines Seiner Geschöpfe vergessen; „Du sahest mich, da ich noch unbereitet war, – alle meine Tage sind in Dein Buch geschrieben, als derselben noch keiner da war“ (Ps. 139.). Es ist keine Seele, welcher Er nicht Sein heiliges, göttliches Bild eingeprägt und eingesenkt hätte, und jeglicher hat Er zu einer unendlichen Seligkeit bestimmt.

Er hat ja dieses uns’rer Seele,
Der treue Schöpfer, eingesenkt,
Daß sie in dieser Leibeshöhle,
Nach was Unendlichem sich lenkt;
Sie sucht und wünschet immerzu,
Und findet nirgends Ruh’.

Und so ist es mit jeder Seele wieder insbesondere. –

Und als wir das Bild Gottes verloren hatten durch Adam’s und durch unsere eigene Schuld, als jede Seele für sich gefallen, für sich sündig geworden war, als jede Seele unter die Obrigkeit der Finsternis geriet: da hat Er für Alle und für jeden Einzelnen den Sohn in die Welt gesandt. „Des Menschen Sohn“ – sagt der Heiland im heutigen Evangelium – „ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“, und „es ist vor eurem Vater im Himmel nicht der Wille, daß Jemand von diesen Kleinen verloren gehe.“ – – Wenn man die Welt oberflächlich ansieht, so könnte man denken, der HErr lasse die Menschen gehen wie Fische im Meer, Er bekümmere sich fast nicht um sie, wenig um das Ganze, nichts um das Einzelne; wer aber in die innere Welt, die in jedem Menschen ist, hineinsehen könnte, der würde sehen, mit welcher Treue der HErr dem Einzelnen, dem Verlornen, dem Kleinen, um das sich kein Mensch bekümmert, nachgeht und nachgegangen ist; ja, der große Tag der Offenbarung alles Fleisches wird einst auch das, was in diesen innern Welten, vor aller Menschen Augen verborgen, vorgegangen ist, an’s Licht bringen, und insofern zum Preise der unendlichen Treue Gottes alle Seine Heiligen erwecken; bis dahin müssen wir es glauben, was der Heiland gesagt hat; wie es der Wille des himmlischen Vaters sei, daß keines, auch nicht ein einziges von diesen Kleinen, von diesen Verirrten, von diesen Verlornen, von diesen Elenden und Verdorbenen, von diesen, um die kein Mensch sich bekümmert, verloren gehe, sondern daß des Menschen Sohn sich in diese Welt hereingegeben habe, um zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Bekümmert sich doch ein guter Hirte, wie der HErr im nämlichen Kapitel unsers Evangeliums sagt, auch um jedes einzelne seiner Schafe; sieht Er’s doch sogleich, wenn es verirrt ist; fehlt ihm dieses oder jenes Schaf – geschwinde macht Er sich auf, und geht dem Verirrten nach. Ja, das ist das Eigentümliche der göttlichen Liebe, daß sie das, was nichts ist, das Kleinste, das Unbedeutendste, das Verirrteste, das Elendeste in ihre Pflege nimmt, so gut als das Gesunde und Starke, daß sie sich jedes einzelnen ihrer Geschöpfe wie Aller erbarmt.

Der Heiland, liebe Zuhörer! ist in diese Welt gekommen für alle Menschen, für die ganze Welt. Gott hat in Ihm die Welt geliebt; Er sollte der Welt das Leben geben; Seine Sendung ging die ganze gefallene Menschheit an. Wenn wir aber mit unserem Glauben nur so im Allgemeinen stehen bleiben, und denken: „Er hat die Welt erlöset, also auch mich“ – so kann dieses zwar in bangen Stunden der Anfechtung ein Trost sein, und ein Halt für die Seele; und es ist ein rechter Halt; aber der wahre, der lebendige, der durchgebrochene und in der Klarheit stehende Glaube begnügt sich nicht mit solch’ etwas Allgemeinem; er ergreift das ganze Verdienst Christi für sich; ihm ist es, wie wenn der Sohn Gottes um seinetwillen allein in die Welt gekommen wäre, bloß um seinetwillen am Stamme des Kreuzes geblutet hätte; – all’ Sein Schmerz und Seine Plage, all’ die Schmach, die auf den HErrn fiel, ist für die gläubige Seele ihre Schmach, ihr Schmerz, ihre Plage; sie ist mit Ihm gekreuzigt, mit Ihm auferstanden.

Ich bin Dein, weil Du Dein Leben
Und Dein Blut mir zu gut
In den Tod gegeben.

Hat Er es denn nicht für der ganzen Welt Sünde dahingegeben? Ja, gewiß; aber jeder Christ hat in dem Weltheiland auch seinen Heiland; das Verdienst Christi ist für die ganze Menschheit, aber es gehört doch namentlich und ganz dem Glauben des Einzelnen. Wie sie in Adam Alle sterben, wie der Fall Adams alle Menschen angeht, – aber jeder Einzelne ist doch in Adam ganz gefallen, – so werden sie in Christo Alle lebendig gemacht; sie haben Alle den gleichen, aber doch ein Jeglicher Christum für sich selbst; es ist, wie wenn ein Jeder in Christo gekreuzigt wäre, und wir halten dafür, daß so Einer für Alle gestorben ist, so sind sie Alle gestorben, und Jeder insbesondere für sich selbst. –

Das sind große, das sind erhebende und beugende, aber wahre Gedanken! Für dich also, lieber Zuhörer, – ich bitte, daß ein Jeder an sich selbst denke, – für dich ist Christus erschienen, um dich Verlornen zu suchen und selig zu machen; dich hat Er geliebt, für dich hat Er sich dahin gegeben, zu deiner Rechtfertigung ist Er von den Toten auferstanden, – für dich sitzt Er zur Rechten des Vaters, und vertritt dich. Du bist ein Gegenstand Seiner Liebe, Seiner Aufsicht, Seiner Pflege; an dich denkt Er, dir geht Er nach – Tag und Nacht, dich trägt Er auf Seinem Herzen, für dich wartet Er auf die rechte Stunde, wo Er deiner Seele nahe kommen, und dich in Sein Erbarmen hineinziehen kann. Er ist der Ewigkeiten König, der König aller Könige, der HErrn aller Herren, Fürstentümer, Gewalten, der Mächte, die die Thronwacht halten; Alles legt Ihm Gott zu Füßen; unermeßlich, unendlich sind die Grenzen Seiner Herrschaft; „Ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“; – und in diesen unermeßlich weiten Gebieten ist ein kleiner Punkt, die Erde, und auf diesem kleinen Punkt ist ein Plätzlein, wo ich mich befinde, ich, der ich vor der ganzen Welt als ein Stäublein, ein Nichts bin, – und meiner, meiner gedenkt der Allmächtige! „Er versetzt Berge, ehe sie es inne werden, die Er in Seinem Zorn umkehrt; Er bewegt ein Land aus seinem Ort, daß seine Pfeiler zitterten, Er spricht zur Sonne, so geht sie nicht auf; Er versiegelt die Sterne und breitet den Himmel aus allein, und geht auf den Wogen des Meeres; Er macht den Wagen am Himmel, und Orion und die Glucke, und die Sterne gegen Mittag; Er tut große Dinge, die nicht zu erforschen sind, und Wunder, deren Zahl keine ist“ – und doch bin ich armes, elendes, gefallenes, sündenvolles Geschöpf nicht vergessen vor Ihm, sondern Sein Verdienst, Sein Todeskampf, Sein blutiger Schweiß, Seine heiligen Wunden, Seine ganze JEsusliebe ist mein, ganz mein; für mich ist Er in diese Welt gekommen, für mich sorgt Er, und sieht auf mich herab vom Throne des Vaters! –

Und wie Er meiner gedenkt, so gedenkt Er auch meines Nebenmenschen; des Verachtetsten und Niedrigsten, deines Gesindes, deines Knechtes, deiner Magd, des Bettlers, der an deiner Türe klopft; diese Seelen sind Ihm so teuer als die deinige, namentlich, wenn Er einigen, ob auch noch so geringen Glauben in sie legen konnte; denn Er spricht: „wer ärgert dieser Geringsten Einen, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meere, wo es am tiefsten ist.“ Und am jüngsten Tage heißt es: „was ihr getan habt dem Geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr Mir getan.“ Ja, Er hat deinen Nächsten, der im Sichtbaren vielleicht tief unter dir steht, ob er wohl noch ganz klein und schwach im Glauben ist, doch in die innigste Verbindung mit der Geisterwelt gesetzt. „Sehet zu“ – spricht Er – „daß ihr nicht Jemand von diesen Kleinen verachtet; denn ich sage euch: ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel.“ – O wie weit ist der große Gott von uns kleinen Menschen verschieden! Denn wir kleinen Menschen in unserem Hochmut stehen auf das Große! der große Gott aber in Seiner Erbarmung sieht auf das Kleine, und ist im Kleinen groß!

Einen solchen Wert hat vor den Augen Gottes, unseres Heilandes, jede einzelne Menschenseele.

II.

Was sollen wir daraus lernen? –

Wenn wir diese große Wahrheit, daß die Seelen teuer geachtet sind vor Gott, in Beziehung auf uns selbst betrachten, so hat sie viel Ermunterndes und Tröstendes für uns. Liebe Zuhörer! das muß Jeder von uns, der nur ein wenig nüchtern ist, zugestehen, daß wir Solches nicht verdienen, daß wir nicht würdig sind, daß der ewige, gnadenreiche Gott und HErr mit so viel Sorgfalt, Treue und Liebe sich um das Ganze der Menschheit (was noch begreiflicher für uns wäre), und auch um das Einzelne, um unsere einzelnen Angelegenheiten bekümmert. Was sind wir vor Ihm? wie klein sind wir gegen Ihn! wie verschwinden wir in der zahllosen Menge von Wesen, die Seine Allmacht an’s Licht gerufen hat! Wie unrein sind wir vor Ihm, dem allein Reinen und Heiligen! Was ist der Mensch, die Made, das Menschenkind, der Wurm, vor Ihm, der über den Cherubim sitzet, vor Ihm, dessen Herrlichkeit alle Himmel erfüllet? Er bedarf unser nicht im Geringsten; Er kann wohl ohne uns sein, und doch sollen wir, doch soll unsere arme, sündenvolle, verunreinigte Seele so hoch und teuer geachtet sein vor Ihm, so teuer, daß des Menschen Sohn gekommen ist, sie, die Verlornen, zu suchen, daß Er uns erkaufen wollte, nicht mit vergänglichem Gold oder Silber, sondern mit Seinem eigenen, kostbaren Blute. Ja, das ist demjenigen, der sich selbst kennt, unbegreiflich, das beugt in den Staub vor dieser allwissenden Liebe, das ist eine Sache, daran wir in der Ewigkeit zu lernen haben, die wir nie auslernen werden. Ach, warum sind wir oft so träge zum Lobe Gottes, warum lassen wir’s so oft an einer gründlichen Betrachtung dieser Wahrheit fehlen! Woher kommt das anders als aus dem unkindlichen Sinne und aus dem Unglauben? –

Hat uns der HErr so teuer und wert geachtet, so sollten wir uns auch teuer und wert achten; wir sollten uns selbst mit einer gewissen heiligen Scheu betrachten als solche Gegenstände der treuen Aufsicht und Pflege Gottes, unsers Heilandes; wir sollten ja unsere Seelen selber, wenn auch nicht wegen uns, doch wegen des Erbarmens Gottes, das auf uns ruht, bewahren, in Acht nehmen, und auf unsern Händen tragen, um sie nicht zu verunreinigen und zu beflecken, oder gar zu verlieren; wir sollten Alles anwenden, um uns rein zu erhalten von der Welt und von allen Befleckungen des Fleisches und des Geistes. Darauf bezieht sich die Ermahnung des Heilandes in unserm heutigen Evangelium: „so dich deine Hand oder dein Fuß ärgert, so haue sie ab und wirf sie von dir; es ist dir besser, daß du zum Leben lahm – oder als ein Krüppel eingehest, denn daß du zwo Hände oder zween Füße habest, und werdest in das ewige Feuer geworfen.“ Nicht von unseren natürlichen Händen und Füßen ist hier die Rede, sondern von der Sünde, die in unsern Gliedern wohnt. Lassen wir diese in unseren Gliedern herrschen, so können wir, ungeachtet des hohen Wertes unserer Seelen, dem höllischen Feuer anheimfallen, und ach, was wäre das! – so viel Treue Gottes, so viel Gnade und Pflege und Barmherzigkeit, – und doch zuletzt das ewige Feuer! Ja, lieber Zuhörer, das, daß deine Seele so teuer geachtet ist vor Gott, das wird dich dereinst, so du nicht mit ganzem Ernst umkehrst, und deine geheimsten Neigungen, Triebe und Lieblingssünden, und was du haben magst, als einen Schaden, als unnütz, hinderlich, verunreinigend von dir wirfst, – das wird dich einst verdammen, empfindlicher, schwerer verdammen als alle deine übrigen Sünden. Lasset uns doch den HErrn um ein göttliches Gemüt, um einen königlichen Geist bitten, daß wir Alles, was uns im Laufe hindern mag, für Kot, für Auskehricht achten, weil wir vor Gott so teuer geachtet sind, weil Er solch’ eine besondere Aufsicht auf uns gerichtet hat! –

Man kommt auf dem Glaubenswege bisweilen in Lagen, wo man mit der Schrift ausrufen möchte: hat denn der HErr meiner vergessen? hat denn Seine Barmherzigkeit ein Ende? will Er denn nicht auch das Fünklein Glaubens, das in meiner Seele am Erlöschen ist, wieder anfachen? – O wie wohl tut in solchen schweren Stunden der Gedanke, daß wir teuer geachtet sind in Seinen Augen, und daß dieser Sein Sinn gegen uns sich nicht verändert! Welch’ ein Trost fließet in’s bekümmerte Herz, wenn es glauben darf: der HErr, mein Gott, ist größer als ich; Er hat mich lieber, als ich mich selber habe; ich bin teurer von Ihm gehalten, als ich mich selbst halten kann! Sein unaussprechliches Erbarmen geht über meine Gedanken hinaus, und will nicht, daß ich verloren gehe. Wenn ich auch mich selbst aufgeben wollte, so will Er doch mich nicht aufgeben, denn Seine Schöpferliebe, Sein teures Blut, das auch an mich gewendet, für mich geflossen ist, ruht auf mir: Er kann es nicht vergessen, was ich Ihm gekostet habe, wie teuer ich erkauft bin! – Ja, fürwahr, liebe Zuhörer, solche Gedanken können ja wohl ein zerschlagenes Herz wieder stärken und aufrichten, und sind, je tiefer die Seele ihre Unwürdigkeit und Verdammlichkeit erkennt, desto mehr vermögend, sie mit unauflöslichen Banden der Liebe und Dankbarkeit an den Heiland zu ketten, in dessen Barmherzigkeit sie sich wie in ein Meer versenken darf, und um dessen willen sie mit all’ ihrem Elend doch angenehm gemacht ist in den Augen Seines Vaters. –

Aber auch unserer Brüder und Schwestern Seelen sind teuer geachtet in den Augen des HErrn, und wir sollen sie auch teuer achten. „Sehet zu“, sagt Er, „daß ihr nicht Jemand von diesen Kleinen verachtet, und ärgert nicht dieser Geringsten Einen, die an mich glauben!“ – Aber haben wir denn die Seelen unserer Brüder und Schwestern auch immer so geachtet, wie wir sollten? Ach, liebe Zuhörer, ich komme hier auf Sünden zu reden, auf meist unerkannte, unbereute, schreckliche Sünden gegen die Seelen unserer Brüder, auf Sünden, die uns dem Satan, dem Verderber ähnlich machen, auf Sünden, welche der HErr an jenem Tage besonders an’s Licht bringen, und mit besonderer Schärfe richten wird, – auf die Sünden des Ärgernisses! „Wehe der Welt der Ärgerniß halben! Es muß ja ein Ärgernis kommen; doch wehe demselben Menschen, durch welchen Ärgernis kommt! es wäre ihm besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt, und er ersäuft würde im Meere, da es am tiefsten ist!“ Welch’ etwas Schreckliches muß es doch sein, wenn der HErr, der Erbarmende, solche Worte gebraucht, und ein solch’ schauerliches Weh’ ausruft! – Es ist wohl keine Seele unter uns, die, wenn sie diesen Ausspruch des Heilandes in Seinem göttlichen Licht auffaßt, nicht in ihren innersten Tiefen erbeben, und zum Rufe: „Gott, sei mir Sünder gnädig, und tilge meine Missetat, und führe mich nicht in’s Gericht darob!“ müßte gebracht werden. Unsere alte Kinderlehre hat in der Lehre vom fünften Gebot die Frage: „kann man denn auch Jemand an der Seele morden?“ – und die Antwort ist: „ja freilich, durch Aergernis.“ – Solche Mörder sind wir. Ich will nichts sagen von denjenigen, welche vorsätzlich darauf ausgehen, unschuldige Seelen zu verführen, und in sie das Gift dieser oder jener Sünde, wie z.B. der Unzucht, des Lügens, Fluchens, der Untreue und des Diebstahls, und des Leichtsinns hineinzulegen; solche Knechte des Teufels haben ihre Verdammnis in sich selber, und der große Offenbarungstag wird sie einst in ihrer teuflischen Bosheit darstellen, daß sie lieber hätten, die Berge fielen über sie, und die Hügel bedeckten sie, wenn die von ihnen dem HErrn JEsu entrissenen, verderbten, vergifteten, gemordeten Seelen, die durch ihre Verführung der Hölle anheimfallen, ein Wehe um das andere über ihre Mörder herabrufen werden, die sie um ihre Seligkeit betrogen haben. – Wehe, wehe, wehe über diese! Sollten unter uns solche Verführer, solche Werber für das Reich der Finsterniß sein, – diesen sage ich: „es wäre euch besser, daß ein Mühlstein an euren Hals gehänget würde, und ihr ersäuft würdet im Meere, da es am tiefsten ist!“ Ihr habt Todschulden, mehr als Todschulden auf eurem Gewissen, und so ihr nicht Buße tut, und in die Wunden des Sohnes Gottes, als in eine Freistätte, flieht, so werdet ihr, ich sage es zum Zeugnis über euch, in das höllische Feuer geworfen werden, wo der Rauch eurer Qual aufgehen wird von Ewigkeit zu Ewigkeit! –

Wir brauchen aber diese Sünden des Ärgernisses nicht so weit zu suchen, wir Alle, ach, wir Alle sind solche Seelenverderber durch ungöttlichen Wandel, durch faule Worte, durch schandbares Geschwätz, wodurch Einer den Andern zu argen Lüsten entzündet, durch falsche Blicke, durch zuchtlose, sündliche Gebärden; – der Eine mehr, der Andere weniger, durch Verachtung oder nicht hinlängliche Hochschätzung des Wortes Gottes, dadurch, daß man nicht mit und in JEsu lebt, und dem fleischlichen Sinn auf diese und jene Art Raum und Nahrung gibt; durch Hochmut, Eitelkeit, Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Leben. Dadurch werden die jungen, unerfahrenen, unschuldigen Seelen verführt und geblendet und gewürgt, dem HErrn JEsu entrissen, und dem Teufel zugeführt. Prüfe sich doch ein Jeder selbst, namentlich Solche, die in dergleichen Lüsten wandeln, wie ihnen ihr Gewissen wohl sagen wird. Wahrlich, unsere Sünden schreien zum Himmel, und wir können uns noch mit unserer Tugend brüsten? Ach, siehe, der Richter ist vor der Türe! Lasset uns Buße tun! –

Wie manches Haus gibt es, wo Gott nicht angebetet, kein Wort Gottes gelesen und betrachtet, kein Hausgottesdienst gehalten wird, wo der Name JEsus nicht in den Mund genommen werden darf, ohne daß widrige Worte und Blicke dagegen sich erheben, wo Eitelkeit, oder Hoffart, oder Geiz, oder Unzucht, oder Ehrsucht, oder Verleumdung, Geschwätz, Richten, Afterreden fast das Einzige ist, was das Gesinde von der Herrschaft, oder die armen, unschuldigen Kinder von ihren Eltern zu hören bekommen! Und auch da, wo noch einige Gottesfurcht herrscht, kommt denn Alles aus der Liebe zu JEsu, wie es doch sein soll, werden denn die Geringen und Kleinen durch Wort und Beispiel, durch Wandel in der Gegenwart Gottes, den sie bei ihren Vorgesetzten, Lehrern und Eltern sehen sollten, wirklich und mit dem heiligen Ernst, wie sich’s gebührt, für den Heiland und Sein Reich erzogen? Wie selten geschieht das! Und siehe, dies Alles sind auch Ärgernisse; – glaubt ihr, solche Versäumnisse und Untreuen und Verwahrlosungen werden ungestraft bleiben? Ach, siehe, die geringste Seele ist hoch, hoch und teuer geachtet vor Gott, unserem Heilande, – jegliche solle Ihm zugeführt werden; eine Löwin pflegt ihre Jungen, und wehrt sich für sie bis zum Tode: was wird der HErr, der die Liebe selbst ist, an Denen tun, die Ihm Seine Kleinen, die Ihm diejenigen gestohlen oder verwahrlost haben durch ihr schlechtes Beispiel, in welchen Er Sein Werk hat, für welche Er gekommen ist, um sie zu suchen und selig zu machen? –

Ich hätte noch Vieles hierüber zu sagen, aber ich will lieber das Übrige eurem eigenen Gewissen überlassen, und euch noch den Ausspruch des HErrn in’s Herz hineinrufen:

„Hütet euch, ach, hütet euch, daß ihr Keinen von diesen Kleinen verachtet, denn ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel!“

Amen!

Quelle:

Ludwig Hofacker: Von dem hohen Werthe jeder einzelnen Menschenseele. Predigt am fünfzehnten Sonntage nach Trinitatis.

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Eine aktualisierte Fassung dieser Predigt findet sich im Hänssler-Buch:

Ludwig Hofacker, Predigten für alle Sonn- und Festtage, Band 2, Seite 300 (ISBN 3-7751-3178-7)