Hypnotismus

Hypnotismus (griech.), die Wissenschaft, die sich mit den dem Schlafe verwandten Zuständen befaßt, bei denen die Willenstätigkeit eine Hemmung erfährt und oft eine deutliche Störung (Ausschaltung oder Einengung) des Bewußtseins besteht.

Einen hypnotischen Zustand (Hypnose) wußten bereits die alten indischen Fakire und mittelalterliche religiöse Extatiker durch Konzentration ihres Blickes oder ihrer Gedanken zu erzeugen. Der durch gewisse Striche erzeugte magnetische Schlaf (s. Magnetische Kuren) sowie der Somnambulismus mit dem angeblichen Hellsehen (Clairvoyance, s. Somnambulismus) stellen analoge Erscheinungen dar. Aber erst der englische Arzt James Braid (1795-1860) machte seit 1841 den Hypnotismus zum Gegenstand eines genauern Studiums. Seine Beobachtungen gerieten fast in völlige Vergessenheit, obwohl einige Chirurgen die Hypnose, um Schmerzlosigkeit bei Operationen zu erzeugen, verwerteten. Ebensowenig wurden die Untersuchungen Liebeaults, eines Arztes in Nancy, genauer bekannt. Erst in neuerer Zeit haben die auffallenden öffentlichen Schaustellungen des Dänen Hansen das Interesse für den H. von neuem wachgerufen und Untersuchungen durch Weinhold, Heidenhain, Berger, Preyer, Binswanger u. a. veranlaßt. Gleichzeitig und unabhängig beschäftigte sich in Paris Charcot mit dem H. und in Nancy im Anschluß an Liébeault Professor Bernheim. Die Nancyer zeigten besonders den großen Einfluß der Suggestion in der Hypnose. Sie sind der Ansicht, daß alle Erscheinungen der Hypnose durch Suggestion zustande kommen, d. h. dadurch, daß man in der Versuchsperson die Vorstellung und die Überzeugung von dem Eintritt der betreffenden Erscheinungen erweckt. Unter den neuesten Vertretern des wissenschaftlichen H. sind zu nennen Forel, Moll, Dessoir, v. Schrenk-Notzing, Vogt, Wetterstrand u. a.

Zur Hypnosigenese, d. h. zur Erzeugung der Hypnose, bedient man sich zahlreicher, anscheinend verschieden wirkender Mittel, die man am besten in somatische (körperliche) und psychische einteilt. Während man früher jene für wesentlich hielt, schreibt man jetzt den psychischen Mitteln die Hauptwirkung zu. Früher bediente man sich z. B. vielfach der längern Fixation eines glänzenden Punktes, um Hypnose herbeizuführen, wie es auch Braid tat. Heute erzeugt man die Hypnose gewöhnlich so, daß man die Vorstellung von derselben möglichst lebhaft der Versuchsperson einpflanzt, etwa durch Worte wie: »Denken Sie nur an den Schlaf! Versuchen Sie zu schlafen! Ihre Augen werden immer müder; die Augenlider schließen sich etc.« (Verbalsuggestion).

Das Erwecken geschieht entweder durch starke Sinnesreize, z. B. Anblasen, elektrische Reizung, oder durch einfachen Befehl, zu erwachen. Zur Herbeiführung der Hypnose und zu deren Beendigung ist nicht immer ein Experimentator notwendig, da manche sich selbst in Hypnose versetzen (Autohypnose), ebenso wie sie spontan aus ihr erwachen. Was die Empfänglichkeit anlangt, so wird der Prozentsatz der hypnotisierbaren Personen verschieden angegeben (zwischen 30 und 100 Prozent). Geistig beschränkte und geisteskranke Personen sind schwer zu hypnotisieren. Bezüglich der Kinder schwanken die Angaben erheblich. Daß Nervöse oder Hysterische besonders empfänglich seien, ist ein Irrtum. Personen, die die feste Überzeugung haben, daß sie nicht hypnotisierbar sind, sowie solche, die ihren Willen dahin richten, nicht in Hypnose zu kommen, sind in der Regel unempfänglich. Die Veränderungen, die in dem seelischen Zustand eines Menschen durch die hypnotische Beeinflussung herbeigeführt werden, sind sehr verschieden.

Man hat die Tiefe der Hypnose eingeteilt in:

1) Somnolenz, der leichteste Grad eben merkbarer Hypnose;
2) Hypotaxis, d. h. der Hypnotisierte gehorcht allen Suggestionen, behält aber für alle Vorgänge nach dem Erwachen die Erinnerung;
3) Somnambulismus, tiefe Hypnose mit Amnesie (Erinnerungsmangel) nach dem Erwachen und posthypnotischen Erscheinungen (s. unten).

Zu den Erscheinungen der normalen Hypnose gehört eine starke Einengung der assoziativen Tätigkeit des Gehirns. Der Hypnotisierte nimmt Sinneseindrücke wahr, aber er verwendet sie nicht in so ausgedehntem Maße wie im wachen Zustande. Die Willenstätigkeit ist in der Hypnose herabgesetzt. Die Empfänglichkeit für hypnotische Beeinflussung, die nicht der Tiefe der Hypnose proportional ist, heißt Suggestibilität. Die Grundbedingung hierfür ist, daß der zu Hypnotisierende mit dem Hypnotiseur in Rapport bleibt, d. h. ihn hört und versteht.

Die Hypnose bildet einen Zustand gesteigerter Erinnerungsfähigkeit. In der Hypnose gelingt es, Erinnerungen zu erwecken, die dem Gedächtnis in wachem Zustand längst entschwunden sind oder, weil in abnormen Bewußtseinszuständen erlebt, dem Individuum in normalem Bewußtsein nie gekommen waren (hypnotische Hypermnesie). Während man früher annahm, daß nach Aufhören der Hypnose die Erinnerung an das während derselben Vorgefallene fehle, hat man später erkannt, daß in den meisten Fällen keine Erinnerungslosigkeit (Amnesie) besteht; von der vollkommenen Erinnerung bis zur Amnesie gibt es allerdings zahlreiche Zwischenstufen. Wenn auch im wachen Leben Amnesie besteht, so erinnert sich die Versuchsperson in einer spätern Hypnose fast stets dessen, was in frühern Hypnosen vorgegangen ist. In dieser besteht aber auch Erinnerung an das, was während des wachen Lebens vorfiel, so daß der hypnotische und der nichthypnotische Zustand einen verschiedenen Bewußtseinsinhalt hat. Man nennt diese Erscheinung Doppelbewußtsein. Man kann den Hypnotischen einzelne Vorgänge vergessen lassen, andre fälschlicherweise an deren Stelle setzen, wodurch Erinnerungstäuschungen, die retroaktiven Suggestionen, entstehen.

Die posthypnotische Suggestion besteht darin, daß während der Hypnose eine Suggestion eingepflanzt wird, deren Wirkung sich erst nach dem Erwachen zeigt: ein Hypnotischer erhält [z.B.] den Befehl, nach drei Tagen zu A zu gehen und beim Eintritt in dessen Zimmer ein Glas Wasser zu verlangen. Derartige Aufträge werden pünktlich ausgeführt, obschon die Erinnerung an den Auftrag fehlt. Die posthypnotischen Suggestionen realisieren sich bei geeigneten Versuchspersonen selbst längere Zeit nach dem Erwachen; noch nach Monaten, ja nach einem Jahre, wurden sie verwirklicht. Ebenso wie Handlungen kann man auch posthypnotische Sinnestäuschungen suggerieren.

Während man früher annahm, das Bewußsein sei in der Hynose erloschen, mußte dies als irrtümlich erkannt werden, sobald man im wachen Zustand oder in der neuen Hypnose die Erinnerung wieder auftreten sah. Denn wenn man sich gewisser Vorgänge aus einer frühern Zeit erinnert, so muß in dieser Bewußtsein bestanden haben. Ebensowenig wie die Hypnose ein Zustand von Bewußtlosigkeit ist, besteht in ihr absolute Willenslosigkeit, wenn auch der Wille herabgesetzt ist. Viele Suggestionen gelingen nur dann, wenn zahlreiche Versuche gemacht worden sind und der Hypnotische der Dressur unterworfen war. Aber selbst nach vielen Versuchen können Handlungen, die dem Charakter der Person widersprechen, meistens nicht suggeriert werden.

Quelle (auszugsweise): Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 710-713. Lexikalischer Artikel.

Zu den Hintergründen und Gefahren des Hypnotismus: siehe Artikel Hypnose