Die „Brüder Ignoranten“ (Julius Dammann)

Der Medizinprofessor und Parlamentarier Dr. Virchow hatte in einer Rede die Christen „Brüder Ignoranten“ genannt, das heißt auf Deutsch: „Nichtwisser“ oder „Dummköpfe“. Da eilte am Sonntag darauf Dammann auf die Kanzel der Pauluskirche und nahm als Thema „Wir wissen … wir wissen … wir wissen … wir wissen…“ (1. Johannes 5, 18—20) und führte dazu aus:

„Gott hat es gefallen, durch törichte Predigt selig zu machen alle, die daran glauben“. So schreibt Paulus an die Korinther. Nicht bloß heute, sondern zu allen Zeiten ist das Wort vom Kreuz der ungläubigen Welt eine Torheit gewesen. So sagt Paulus, der auch ein scharfer Denker war, wohlbewandert in der Weisheit seiner Zeit. Es ist nur merkwürdig, daß dieses Evangelium bald zweitausend Jahre lang die Probe bestanden, ungezählte Göttertempel gestürzt hat und immer noch stürzt, zu allen Zeiten nicht bloß »Ignoranten*, sondern auch Männer der Kunst und Wissenschaft, Große und Gewaltige mit unwiderstehlicher Kraft ergriffen hat und gerade heutzutage, wenn auch angegriffen, verhöhnt und verlacht von solchen, die sich Christen nennen, mit Kraft und Begeisterung gepredigt und angenommen wird. Spurgeon, der größte Prediger unseres Jahrhunderts, dem der Tod kürzlich das begeisterte und begeisternde Wort vom Munde und die unermüdliche Feder aus der Hand genommen, hat nie etwas anderes gepredigt und
geschrieben als dieses törichte Evangelium. Dreißig Jahre lang hat er Hunderttausende begeistert für dieses törichte Evangelium. Wenn Gott will, kann er zwölf Spurgeons geben für den einen, den er genommen hat. Welch eine Bewegung würde von solchen zwölf Herolden des angekündigten Immanuels ausgehen trotz der Bildung der heutigen Zeit, trotz der liberalen Redner im preußischen Abgeordnetenhause, trotz der christentumsfeindlichen Leitartikel der großen Tageszeitungen, trotz Dampf und Elektrizität, trotz Cholera- und Influenzabazillus! Merkwürdig und doch nicht. Warum nicht?

Weil dieses törichte Evangelium selig macht alle, die daran glauben. Selig von Sünden, selig im Leiden, Dulden, Hoffen, selig im Sterben, selig in Zeit und Ewigkeit. Und warum?
Weil dieses Evangelium das Herz mit einem Wissen erfüllt, vor dem das Wissen des gelehrten Professors die Segel streichen muß. Das beseligende Wissen geht nicht vom
Kopfe aus, sondern vom Herzen. Nicht, was der Mensch im Kopfe weiß, sondern im Herzen, erfüllt ihn mit Leben, mit seliger Genüge. ,Wir wissen‘, ,wir wissen‘, sagen die Weltweisen, und liberale Schwätzer schwatzen es nach in allen Tonarten. ,Ihr aber, ihr Gläubigen, ihr wißt nichts, ihr glaubt nur‘. Arme Brüder Ignoranten, ihr gelehrten, kulturseligen, aufgeklärten Leute, was wißt ihr denn? Ja, ihr wißt, wie viele Infusorien in einem Wassertropfen leben, ihr wißt, wie viele Ringgebirge und ausgebrannte Krater der Mond hat und nennt die mit Namen, ihr wißt, wie und wo die Kohlenflöze unter der Erdkruste liegen, ihr wißt die Gesetze des elektrischen Stromes und berechnet die Kraft der Dynamomaschinen.

Und was wißt ihr nicht alles? Aber das, was der Mensch wissen muß, weil er ein Mensch ist, wonach er dürstet, wonach er schreit wie der Hirsch nach lebendigem Wasser, was ihn beseligt und mit unbeschreiblicher Wonne erfüllt, was ihn begeistert, hebt, trägt, tröstet, was seine Tränen stillt, was ihm Kräfte verleiht, daß er auffliegt mit Flügeln wie ein Adler, was ein seliges Lächeln auf die erbleichenden Lippen legt — das wißt ihr nicht. Komm her, Professor, lege einen Augenblick deine Feder aus der Hand, mit der du zwanzig Foliobände mit staunenswertem Wissen gefüllt, ich will dich etwas fragen: Gibt es einen Gott? O, ich kenne deine Antwort: ,Ich weiß es nicht!‘ – Sage mir, ist die Seele unsterblich? — ,Ich weiß es nicht!‘ – ist die Antwort deiner spöttischen Lippen. Gelehrter Mann, sage mir, du mußt es doch wissen: Gibt es ein ewiges Leben? Wenn wir uns in jener Welt begegnen, werden wir uns erkennen? Gibt es eine Vergebung der Sünden? Immer dieselbe Antwort: ,Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Laß mich mit solchen Fragen in Ruhe. Ich bin eben dabei, ein wissenschaftliches Problem zu lösen, was meinen Namen groß machen wird.‘

Schreibt nur eure Bücher, ihr Gelehrten und Philosophen; malt eure Bilder, ihr Künstler; laßt harmonisch neue „Weisen zusammenklingen, ihr Musiker; erfindet neue Maschinen, ihr Techniker; macht neue Gesetze, ihr Parlamente. „Wir wollen euch nicht stören. Was
ihr Gutes, Schönes und Nützliches schafft, daran wollen wir uns erfreuen. Nur maßt euch nicht an, das Sehnen des nach Erlösung schreienden Menschenherzens zu befriedigen, geängstete Gewissen zu beruhigen, Tränen zu trocknen, Sterbende zu trösten. —

Wunderbares Wort! ,Dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben; denn die göttliche Torheit ist weiser, denn die Menschen sind.‘ In der göttlichen Torheit des Evangeliums liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis. O seliges Wissen der Kinder Gottes, deren Glaube an Jesum das Herz über alle Zweifel gewiß macht. Denn der Glaube ist ein Wissen des Herzens, viel überzeugungsvoller als das Wissen des Kopfes. Das tut es freilich nicht, daß man den Katechismus, einhundert Bibelsprüche und fünfzig Kirchenlieder auswendig kann. Auch das äußere Fürwahrhalten der Kirchenlehre erzeugt dies Wissen nicht. Wir wissen, wir wissen, schreibt Johannes ein über das andere Mal in seiner Epistel.

Was weiß denn der Gläubige mit tief innerlicher, überzeugungsvoller, durch den göttlichen Geist gewirkter Gewißheit? Er weiß, daß er in Wahrheit eines der erbärmlichsten Wesen ist. Er weiß, daß er schuldig ist am ganzen Gesetze. Er weiß, daß ihn Christus erlöst vom Fluche des Gesetzes, vom ewigen Verderben. Er weiß, daß Gott in Christo sein Vater ist. Er weiß, daß Gott alle seine Haare auf seinem Haupte gezählt. Er weiß, daß ihm alle Dinge zu seinem Besten dienen müssen. Er weiß, daß ein göttliches Auge und Ohr über ihm offen steht. Er weiß, daß sein Erlöser lebt. Er weiß, daß auch kein Todesbann ewig von ihm trennen kann. Er weiß, daß er Vergebung der Sünden hat, ewige Gerechtigkeit und Seligkeit. Er weiß, daß der Christus, mit dem er in Gott ein verborgenes Leben führt, offenbar werden wird. Aber ist das nicht alles eine Illusion, eine Einbildung, eine pietistische Schwärmerei? Nein, dies Wissen ist eine Herzensmacht, die das Gefühl, die Erkenntnis und den Willen des Menschen ganz und gar in Beschlag nimmt.

Kommt her, ihr Professoren und Weltweisen, was habt ihr uns für dieses Wissen zu bieten? Nichts, rein gar nichts. ,Nehmen wir an‘, sagt de Witt Talmage in einer Predigt, ,ein Mann wollte alle Medizin aus allen Apotheken und aus allen Hospitälern der Erde vernichten. Ein Kranker erwacht um Mitternacht unter großen Schmerzen und verlangt nach einer schmerzstillenden Arznei. ,Die Arzneien sind alle vernichtet‘, sagt die Pflegerin, ,wir haben keinen Tropfen mehr. Anstatt ihrer will ich Ihnen etwas aus einem Buche über den Unsinn der Arzneien vorlesen.‘ Der Kranke krümmt sich vor Schmerzen, und die Pflegerin sagt: ,Hier ist eine Dosis Witz, hier ein stärkendes Pflaster von Hohn und Spott, hier eine Flasche unzähliger Reden. Nehmt davon nach jeder Mahlzeit einen Löffel voll. Wenn das nicht hilft, so ist hier eine Mischung Lästerung, worin ihr baden könnt, und hier ist eine Verspottungstinktur‘.

Wir wissen, wir wissen! so sagt die trunkene Weltweisheit mit ihrem ganzen Troß, vom Professor der Medizin bis zum christusfeindlichen Arbeiter. Und sie wissen nichts, denn ihr Herz bleibt leer. Wir wissen, wir wissen, sagt der Apostel Johannes, und alle Christusgläubigen sagen Ja und Amen in unerschütterlicher Gewißheit und seliger Freude.

Wer sind die Brüder Ignoranten?“

(Julius Dammann)

Aus: Pfr. Busch, Wilhelm: Die von Herzen dir nachwandeln. Gestalten des rheinisch-westfälischen Pietismus: Gerhard Tersteegen/Johann Peter Diedrichs/Gottfried Daniel Krummacher/Tillmann Siebel/Jakob Gerhard Engels/Johann Heinrich Volkening/Theodor Christlieb/Julius Dammann. 2. Auflage, im Schriftenmissions-Verlag, Gladbeck 1938, S. 157-160. [Digitalisat]

Eingestellt am 13. Oktober 2023