Lukas 9, 23 (Tholuck)

Worin das Kreuztragen des Christen besteht und warum es bis an unser Ende ein tägliches bleibt.

Es gab einst eine Zeit in der Kirche, wo nichts mehr im Bewußtsein der Gläubigen lebte, als der Gedanke, daß der Weg zur Seligkeit ein Dornenweg sei. „Hat unser Herr“, sagt Luther, „eine Dornenkrone getragen, mit welchem Rechte dürfen wir eine Rosenkrone verlangen?“

Des Christen Herz auf Rosen geht,
Wenn’s mitten unterm Kreuze steht!

hat derselbe Gottesmann gesungen. Unter den drei Schulen, in denen, nach Melanchthon’s Wort, der Theologe gebildet werden soll: Gebet, Betrachtung, Anfechtung, ist die Anfechtung, das Kreuz, als eine der vornehmsten genannt; Kreuzesweg, Lichtweg! so schrieb Melanchthon’s Schüler Chyträus in die Stammbücher der Theologen. Warum doch, saget mir, ist die Meinung hierüber so sehr eine andere geworden? Heiteres Christentum, heiteres Christentum verlangt die Zeit! Daß dieses Verlangen eine gewisse Berechtigung habe, das, meine Geliebten, haben wir schon in anderen Stunden unserer Andacht erkannt. Es gibt ein sauersehendes, kopfhängerisches Christentum, das wir nicht zu dem unsrigen machen wollen. Es giebt ein Christentum, das nur von den Schmerzen des Glaubens, und nicht von seinen Freuden, nur von dem, was man lassen muß, und nicht von dem, was man empfängt, predigt, das nur niederschlägt, ohne aufzurichten, lähmt, ohne zu stählen.

Und doch sind jene Männer Gottes, die das Kreuz und die Dornenkrone so empfehlen, und doch sind ein Luther, ein Melanchthon, ein Paulus wahrhaftig keine Prediger eines kopfhängerischen Christentums gewesen! So gehört denn auch ohne Zweifel das Kreuz und die Dornenkrone zu den Insignien, welche wir Söhne des Königs aller Könige an uns tragen müssen, und wir werden uns nicht irren, wenn wir sagen, daß jenes Geschrei nach heiterem Christentum, wenn auch zum Teil in gerechter Besorgnis, zum großen Teile in Nichts anderem seinen Grund hat, als in der Weichlichkeit, in der Welt- und Genußsucht unserer Tage. Das Wort Entsagung ist ein fürchterliches Wort für Viele in unsern Tagen, und auch dann schrecken die Menschen noch davor zusammen, wenn an die Entsagung die Krone geknüpft ist. Ihr Nachfolger dessen, der sein Kreuz getragen hat auf die Schädelstätte, scheuet euch denn nicht, eine Predigt zu vernehmen, welche diese ernste Seite hervorkehrt, eine Predigt von der täglichen Notwendigkeit des Kreuztragens der Christen.

Der Ausspruch des Herrn, auf den wir diese Predigt gründen, findet sich Lukas 9, 23 und lautet also:

„Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich täglich, und folge mir nach.“

Die Notwendigkeit des täglichen Kreuztragens im Christenleben spricht unser Herr hier aus. Lasset denn zuerst uns fragen, worin dieses tägliche Kreuztragen bestehe, lasset zweitens uns fragen, warum es bis zum Ende unseres Lebens ein tägliches bleibt.

I.

Kreuz, das ist ein Wort, das auch unsere deutsche Sprache kennt im Sinne von Not und Prüfung; erst aus der Bibel ist es in unsere Sprache übergegangen, und so wird selbst unsere Umgangssprache uns zu einem Denkmale an den, der für uns am Kreuze gestorben ist. Dieweil nun in unserer Umgangssprache das Wort in der Regel gebraucht wird von allerlei äußerer Not, so ist auch dieses der Sinn, den wir gewöhnlich mit dem Worte verbinden. Und in der Tat scheint der Herr bei jenem Ausspruche äußeres Leid vor Augen gehabt zu haben; ja nicht nur dies, sondern im eigentlichsten Sinne den Kreuzgang, den Todesweg, den er selber gewandelt ist. Lesen wir nämlich jenen Ausspruch in dem Abschnitte des Evangelii Matthäi nach, so heißt es, daß der Herr seinen Jüngern verkündigt hat, daß er den Schmerzensweg nach Jerusalem anzutreten im Begriff stehe.

Da tritt in fleischlichem Wohlmeinen der rasche Jünger zu ihm heran: „Herr, schone deiner selbst, ruft er aus, das widerfahre dir nur nicht!“ Das ist der Augenblick, wo Jesus zu seinen Jüngern gesagt hat: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich, und folge mir nach; denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren, wer aber sein Leben verlieret um meinetwillen, der wird es finden.“

Auf was Anderes weist nun in diesem Zusammenhange das traurig ernste Worte hin, als auf das dunkle Kreuz, dem seine Jünger, gleich wie der Meister, entgegen zu gehen sich bereit halten sollen um Seinetwillen, d. h. in seiner Sache? Und etwas anderes ist es denn doch auch nicht, was bei Johannes der Heiland spricht, als in Kap. 13. Simon Petrus in der beginnenden Leidensstunde ihn fragt: „Herr, wo gehest du hin?“ und Jesus ihm antwortet: „Da ich hingehe, kannst du diesmal nicht folgen, aber du wirst mir hernachmals folgen.“ Welcher Meister hat das je seinen Jüngern zum Gesetz gemacht? Was muß der Meister seinen Jüngern zu geben im Stande gewesen sein, der so viel fordern konnte? Wer ihm nachfolgen will, der soll in seiner Sache bereit sein, auch den letzten Schmerzensweg zu wandeln, den er gewandelt ist.  ̶

Könnt ihr das?! Christen, könnt ihr das?! Können wir’s Alle?! Und wenn der Widerchrist am heutigen Tage käme, und wenn er mit Macht seine Banner entfaltete, und wenn aufs Neue das Kreuz aufgepflanzt würde für Alle, die auf den Namen des Gekreuzigten getauft sind: wie viel werden unter dem deutschen Volke, wie Viele in dieser Stadt sich finden, wie Viele, sagt mir, finden sich unter uns, denen jetzt ihr innerstes Gewissen Zeugnis gibt: ich gehe mit meinem Heilande, ich gehe mit meinem Heilande auch den letzten Schmerzensweg: wie ich stark genug war, mit ihm zu leben, so bin ich stark genug, mit ihm zu sterben!  ̶

Ich glaube es wohl, ein Flor der Wehmut mag um unser inneres Auge sich ziehen, wenn wir solchen Gedanken uns hingeben. Ein Gedanke an den Jünger, der gesagt hat: „Und wenn sie sich alle an dir ärgerten, so will ich mich nimmermehr an dir ärgern,“ läßt uns die Augen niederschlagen, und mit niedergeschlagenem Auge rufen wir aus: „Wer ist dazu mächtig?“ ̶    Ja, Viele unter uns, Geliebte, dürften der Meinung sein, daß das Zeitalter der Blutzeugen Jesu Christi auf immer dahin sei, und daß, wenn es Gott auf’s Neue gefiele, seine Kirche mit solcher Prüfung heimzusuchen, das Geschlecht jener alten Christen sich nicht mehr finden werde, die das Zeugnis ihres Glaubens mit ihrem Blute geschrieben haben. Solche Befürchtungen teile ich aber nicht. Wohl mag ein Bewußtsein der Schwäche uns Allen jetzt gegenwärtig sein, und die Weichlichkeit und Leidensscheu dieser Zeit mag uns zusammen schaudern lassen bei dem Worte Kreuz, und dennoch, dennoch habe ich die freudige Gewißheit, daß hier in dieser Stadt, ja selbst in dieser Gemeinde, noch Hunderte vorhanden sind, die das Zeugnis ihres Glaubens an den eingebornen Sohn Gottes mit ihrem Blute versiegeln würden, wie die Zeugen vor Alters. O ihr zagenden Gemüter, ihr wißt es nur noch nicht, wie die Liebesflamme im Sturme wächst; gerade derselbige Petrus, dessen Erinnerung euch niedergeschlagen hat, gerade der richtet euch auf, denn der Petrus ist nachgefolgt seinem Herrn, wie es sein Wort gesagt hat, und ist – wie die Geschichte uns sagt – am Kreuze gestorben mit seinem Herrn! ̶

Ist nun dieses der Sinn der Rede des Herrn, ist die Bereitwilligkeit der Seinigen, ihm nachzufolgen bis in den Kreuzestod, die Anforderung seiner Rede, wie mag nach dem Berichte des Lukas von einem täglichen Kreuztragen die Rede sein? Es stimmt beides, meine Geliebten, wohl zusammen. Wie wir oftmals in der Rede des Herrn einen Vordergrund bemerken, einen nächsten allgemeineren Sinn, und einen Hintergrund, einen ferneren speciellern Sinn, so hat auch diese Rede des Herrn einen Vordergrund und einen Hintergrund. Was sie in dem Vordergrund meine: das macht uns der Zusatz Lukas‘ von dem täglichen Kreuztragen bemerklich. Was dieses sei, es wird deutlicher bestimmt durch das andere Wort: „der verleugne sich selbst,“ und durch das Wort, daß wir „unser Leben verlieren müssen, um es zu gewinnen.“ Dieses Selbst und dieses Leben, das wir verlieren müssen, es ist nach dem tiefsinnigen Sprachgebrauche unserer deutschen Uebersetzung das natürliche Selbst, das natürliche Leben. Mit tiefem Sinne stellt die Schrift gegenüber das natürliche und das geistige Leben des Menschen; dieses natürliche Selbst und Leben, es ist unser Leben, wie wir es führen von unserer Geburt her aus den uns einwohnenden Neigungen und Trieben, es ist das Leben, wie der Mensch es führt, so lange noch nicht der Geist von oben, der Heilige Geist, unser Denken, Fühlen und Wollen durchdrungen und verkläret hat. Seht da den Sinn des großen Wortes des Heilandes, daß der Mensch, wie er von Natur geboren ist, nimmermehr in’s Reich Gottes eingehen kann, sondern durch eine neue Geburt verklärt werden muß! Was aus uns werden würde, wenn wir allesamt nur hinlebten nach diesem natürlichen Denken, Dichten und Trachten – was aus all‘ den zährenden und tobenden Elementen in der Menschenbrust werden würde, wenn sie entfesselt sich allesamt hinaus drängen dürften, und zur Tat werden auf dem Schauplatze der Welt – wenn kein Geist Gottes darüber schwebte, und kein ewig bindendes Gesetz! – O ihr ahnet es wohl. Dorthin den Blick gerichtet, auf jenes Land, welches vor drei Jahrzehnten die Kreuze gestürzt hatte, und von keinem andern Gotte mehr beherrscht sein wollte, als dem des blinden Triebes der Natur, seine Gräuel können unsere Lehrmeister werden!

Verderblich ist’s, den Leu zu wecken,
Verderblich ist des Tigers Zahn,
Jedoch der schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn!

Dies Wort des Dichters* sprechen wir nach mit Erbeben vor der wilden Gewalt, die im Menschenherzen wohnt, und mit Sehnsucht nach dem heiligen stillen Geiste des Lichtes, in dessen Geleite der Friede einzieht in die einzelne Menschenbrust und in das gesamte gefallene Geschlecht.

* Friedrich Schiller: Das Lied von der Glocke

Sieh da, Gemeinde der Erlösten, das Selbst und das Leben, das in uns Allen in den Tod gegeben werden muß, soll das wahre Leben und das wahre Selbst, soll der Mensch, nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen, in uns zur Kraft kommen. Ist dies nun der Vordergrund der Rede des Herrn, daß nämlich dieses natürliche Leben in täglicher Verleugnung um seinetwillen in den Tod gegeben werden muß, so seht ihr aber auch, wie es von selbst in seinem Hintergrunde auf die letzte und größte aller Verleugnungen hinweist, auf die, wenn auch das leibliche Leben samt allen Banden, die uns daran knüpfen, preis gegeben werden muß in der Sache der Wahrheit um des Sohnes Gottes willen. Ja, und muß sie nicht vorangegangen sein in einem langen, kampfvollen Leben, diese tägliche Verleugnung alles dessen, was in uns gegen das ewige Gesetz Gottes streitet, wenn in dem entscheidenden Augenblicke, wo das irdische Leben selbst mit seinen süßen Banden auf dem Altar der Wahrheit niedergelegt werden soll, wenn da die gläubige Kraft, der demütige Mut und die himmlische Gelassenheit uns nicht verlassen soll?

II.

So haben wir denn erkannt, was unter diesem täglichen Kreuz, das wir dem Heilande nachzutragen haben, zu verstehen sei, aber warum dieses als ein tägliches verordnet ist, das dürfen wir wohl noch fragen. Denn wie? steht nicht geschrieben: „Siehe, ich mache Alles neu? Ist Jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur: das Alte ist vergangen, siehe, es ist Alles neu geworden!“ Und wo der Geist der Gnaden Alles neu gemacht hat, da sollte es noch neuen Streit geben mit dem alten Menschen – täglichen Streit? O meine Freunde, lasset uns nicht mißverstehen! Was an dem Menschen, wenn er durch die Wiedergeburt in das Reich Gottes aufgenommen, neu geworden ist, das ist sein Glauben, Lieben, Hoffen. Das ist neu geworden; das alte Selbst, und das alte Leben aber soll erst neu werden in dem Maße, als das Glauben, Lieben, Hoffen neu geworden ist. Ich sage, wenn dort der Saulus, der zu einem Paulus geworden ist, begeisterungsvoll ausruft: „siehe, es ist Alles neu geworden,“ so ist die neue Welt, in welcher er fröhlich umherblickt, wie das neugeborne Kindlein, sein neugewordenes Glauben, Lieben und Hoffen. Er glaubte einst an den Gott der Väter, der im Schattenbilde und Rätsel die Geheimnisse seiner Ratschlüsse seinem Volke mitgeteilt hatte; er glaubt jetzt an den eingebornen Sohn, in dessen Antlitze er den offenbaren Gott schaut, und die Rätsel der Welt gelöst sind. Er liebte einst über Alles die Lust, die in seinem innersten Wesen wohnte; er liebt jetzt über Alles den, der dieser Lust den Tod gibt. Er hoffte einst auf eine Ehrenkrone, aber er zitterte, wenn Moses als sein Ankläger aufträte; er hofft jetzt auf eine Ehrenkrone, und kann fröhlich rufen: „Wer will verdammen? Christus ist hie, der gerecht macht!“ So ist Saulus zu einem Paulus geworden, das Alte ist vergangen, das Glauben, Lieben und Hoffen ist neu worden. Der alte Mensch aber, er ist noch da, ja er ist noch da. Wie hat ein Paulus nicht seine Schläge gefühlt, als er ausrief: „Ich betäube meinen Leib, und schlage ihn mit Fäusten, auf daß nicht, während ich Anderen predige, ich selber verwerflich werde.“ Wie hat er ihn gefühlt, wenn ihr euch an jenes dreimalige Gebet erinnert, daß des Satans Engel möchte von ihm genommen werden!“

Gleicherweise verhält es sich denn auch mit uns Allen, die wir mit Johannes sagen können: „Wir wissen, daß wir aus dem Tode zum Leben hindurchgedrungen sind.“ Wir sind zum Leben hindurchgedrungen, denn wir werden es inne, daß wir bei einer Lebensquelle stehen; wir sind zum Leben hindurchgedrungen, denn wir glauben fest an den, welcher gesagt hat: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben;“ wir sind zum Leben hindurchgedrungen, denn wir spüren eine neue Liebe in uns, in der wir der Welt zurufen können:

Welt, du bist mir zu klein!
Ich dien‘ allein dem König,
Dem Alles untertänig;

wir sind zum Leben hindurchgedrungen, denn mit einer neuen Hoffnung singen wir:

Weicht, ihr Trauergeister!
Jesus ist mein Meister,
Warum sollt‘ ich traurig sein?

Aber noch tragen wir mit uns herum den alten, natürlichen Menschen, der mit uns aufgewachsen ist, und wie in dem Frühlinge nicht mit einem Male die starren Banden des Winters sich lösen, sondern nur allmählich das Leben seine Schwingen entfaltet, hier nur ein schüchternes Hälmlein aus der Erde hervorblickt, und dort ein Knösplein sich ansetzt, hier ein milder Sonnenstrahl die Schläfer des Waldes und der Wiesen zu wecken beginnt, dort die ersten Frühlingssänger halblaut ihre verstohlenen Töne auffingen, bald aber immer voller und voller das Leben daherrauscht. auf Feld und Tal und Wiese, bis Alles Ein Lobgesang wird der neugeschaffenen Natur – also entfalten sich auch in des Christen Seele nur allmählig unter dem milden Frühlingssonnenstrahl des neuen Glaubens und der neuen Liebe die Knospen und Blumen aller Tugenden des Lichtes und nur allmählig wird diese und jene Saite beschwingt zu einem Lobgesange; aber mächtiger und immer mächtiger wächst auch hier das neue Leben unter dem Strahl der Gnade, bis daß jeder Gedanke und jeder Pulsschlag ein Lobgesang geworden ist auf die ewige Geistersonne, die auch in uns Alles neu macht.

Wohl werdet ihr sagen, ihr Alle, denen der Geist Zeugnis giebt, daß ihr aus dem Tode zum Leben hindurchgedrungen seid: also ist es ja wirklich; aber wo mag da doch von Selbstverleugnung und Kreuztragen, und Schmerz und Tränen die Rede sein, wo unter dem gewaltigen Antriebe des Geistes von oben die Blumen und die Früchte hervorgetrieben werden, ein jedes zu seiner Zeit? In der Tat erscheint ja diese Gotteskraft, die im Innern des Gemüts das neue Leben erzeugt, nur wie eine vergeistigte Kraft der Natur, alle Tugenden des Lichts und alle guten Werke beim Christen nur wie ein Blumenflor von einer himmlischen Naturkraft in’s Leben gerufen. Und habe ich euch nicht noch in einer unserer letzten Andachtsstunden trostreich gepredigt von jenem Worte, das der erhöhete Christus einem Saulus zugerufen: „Es wird dir schwer werden, wider die Gewalt anzukämpfen, die dich vorwärts treiben wird?“ Von dieser Wahrheit ausgehend hat sich denn auch wirklich hie und da in christlichen Gemeinden, und zumal innerhalb des Gebietes der reformierten Kirche, jener Irrtum ausgebildet, als wäre es, wo einmal göttliche Hand das neue Leben gepflanzt, genug, fortan nur zuzusehen den Wundern Gottes im Innern, den mächtigen Taten Gottes ohne eigenes Tun. Und verklungen sind vor solchen Ohren alle jene starken und gewaltigen Aussprüche, die vom Kämpfen reden und vom Ringen, und vom Widerstehen der Sünde bis aufs Blut. Worauf sich nun im Leben des Wiedergebornen jenes Ringen und jenes Kämpfen beziehe, das laßt mich euch sagen: Der neue Glaube und die neue Liebe, sie ist, wie Johannes sie nennt, ein Gottessame in uns, und wie aller andere Same, so treibt auch dieser sich selbst von innen zur Entfaltung. Aber ist denn dieser innere Lebenstrieb der Pflanze an und für sich schon genug, um Blüten und Früchte zu bringen? Ist nicht überall auch noch ein zwiefaches Anderes notwendig, der Sonnenschein und Regen von oben, und das Ausjäten des Unkrautes? Seht, Geliebte, und diese beiden Stücke sind es, auf welche sich insbesondere die tägliche Selbstverleugnung und das tägliche Kreuztragen des Christen bezieht, und die wir nun noch näher erwägen wollen.

Wir sollen den Sonnenschein und den Regen von oben suchen. Die Schrift nennt uns Pflanzen, die der himmlische Vater gepflanzt hat, aber wir sind geistige Pflanzen, und somit sollen wir selber den Sonnenschein und den Regen aufsuchen gehen, den wir brauchen, wenn wir wachsen sollen. Und O! wenn für uns geistige Blumen nur die Blumen der Natur ein Vorbild wären! Wie die Blumen so traurig dastehen, wenn sie keinen Regen haben, wie sie ihre Krone entgegenkehren dem Lichtstrahle, der von oben kommt! Ihr Menschenblumen, steht ihr auch so traurig da, wenn der Regen von oben euch fehlt? Ihr Menschenblumen, wendet ihr auch euer Haupt so sehnsüchtig nach der Seite hin, woher das Licht von oben kommt? Und welches, fraget ihr, ist nun der Sonnenschein und Regen, in welchem wir wachsen können? Das sind die Gnadenmittel, welche der Herr der Kirche geordnet hat, das ist insbesondere das Gebet und die Heilige Schrift. Von der Kraft dieser Gnadenmittel muß aus Erfahrung sprechen können, wer ein Christ ist. Was weiß nun ein Jeder von uns davon zu rühmen? Wir haben so viel angeregte Christen unter uns, und so wenig geförderte, so viele Kinder, und so wenig Männer in Christo, so viele halbe Herzen! Die Blumen sind wohl da, die der himmlische Gärtner gepflanzt hat, aber sie blühen nicht, und tragen keine Krone; denn sie suchen den Sonnenschein und den Regen von oben nicht. Fragen wir uns nun nach dem Grunde, warum wir nicht ernstlicher darnach trachten, durch das Gebet und den Segen der Gemeinschaft zu wachsen, so ist es kein anderer, als weil wir die Selbstverleugnung und das tägliche Kreuztragen scheuen. Wir wollen von keinem andern Gebet und Schriftlesen wissen, als welches eine Darstellung unsers innern Lebens ist, das also mühelos zu Stande kommt. Nun ist es ja freilich wahr, daß, wo das geistliche Leben zur Kraft gekommen ist, es von selber und mühelos sich darstellt im Gebet, und im Drange nach der heiligen Schrift. Aber wie nun, wenn es noch ein zartes Pflänzlein ist, ist nicht da eben Gebet und Schrift uns geordnet als Mittel, als Gnadenmittel, um das zu erlangen, was wir noch nicht haben? Und soll es da nicht tägliche Verleugnung des Fleisches, und tägliches Kreuztragen geben, um solche Trägheit des Fleisches zu überwinden? O meine Brüder, jenem Worte des Herrn gegenüber: „Wer mir nachfolgen will, der verläugne sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich täglich,“ laßt mich euch auffordern: Wer ihm nachfolgen will, der verleugne die Trägheit seines Fleisches und sein natürliches Selbst, das sich sträubt, wenn der Mensch die Mittel aufsucht, die es bekämpfen können. Wer ihm nachfolgen will, der verleugne die Trägheit des Fleisches, und stelle sich täglich vor das Antlitz des verborgenen Gottes, damit sein Sonnenschein und sein Regen zum Wachstum das Gedeihen gebe. –

Aber auch der Sonnenschein und der Regen und die innere Lebenskraft der Pflanzen zusammen mag ein gedeihliches Leben noch nicht geben, so lange das wuchernde Unkraut die Kraft erstickt. Ihr wißt, wie es dem Samenkorne erging, das unter die Dornen fiel: „da es aufwuchs, erstickten sie es.“ Das christliche Leben kann in uns nicht gedeihen, so lange wir mit Wissen Unkraut daneben wuchern lassen, das ihm seine besten Kräfte entzieht, und was ist dieses Unkraut? Es sind alle Richtungen und Bestrebungen, in denen unser Herz die Genüge findet neben Gott. Der Herr, unser Gott, heißt ein „eifersüchtiger Gott“ im Alten Bunde, und was Anders, als eben dieses, ist uns gesagt in dem strengen Worte des Heilandes: „Niemand kann zwei Herrn dienen!“ Nur Ein Herr muß in unserem Leben und über unserem Leben herrschen und Alles, worin wir sonst Freude und Genuß finden mögen, Vergnügen oder Arbeit, Familienglück oder Freundschaft, und wie es Namen haben mag, diesem Einen Herrn muß es untergeordnet werden. Wir haben aber Götzen neben dem Einen Herrn, das ist das Unkraut, das mit seinen Ranken sich um die edle Pflanze unseres geistlichen Lebens schlingt und ihr das Mark aussaugt. Nun ist es ja freilich wahr, daß die innere Gewalt des neuen Glaubens und der neuen Liebe alle andere Liebe ertötet, oder vielmehr sich unterordnet und verklärt. Das geschieht auch je mehr und mehr in uns, aber so lange dieses neue Leben noch zart und verletzlich ist, da sollen wir ihm zu Hülfe kommen mit starker Hand, und was irgend sein Aufkeimen verhindert, das sollen wir abschneiden mit starker Hand, und das sind die Schmerzen der Entsagung, das ist die tägliche Selbstverleugnung und Entsagung, welche der Herr von uns fordert.

Alle Tage machen wir die Erfahrung, daß noch eine andere Liebe mit der Liebe zu Christo in uns ringt, die noch nicht durch sie verklärt ist, daß wir an Genüssen und Gütern hängen, die wir noch neben Gott lieben, statt sie in Gott zu lieben. Sobald wir nun das klar einsehen, da verlangt auch der Herr mit einer erschütternden Strenge von uns die Entsagung und Verleugnung. Ihr habt gelesen, was er mit erschütternder Strenge sagt von dem Ausreißen des rechten Auges, und von dem Abhauen der rechten Hand, wenn sie uns ärgert, d.h. wenn sie uns zur Versuchung wird. Das gilt allen jenen Genüssen und Gütern, die wir noch lieben neben Gott, die unsere Götzen sind. Ist nun die Liebe zum Herrn noch ein schwaches und zartes Pflänzlein, kann sie nicht von sich selber das Unkraut um sich her ersticken, ist sie vielmehr bedroht von ihm erstickt zu werden, dann gilt es in demütigem Gehorsam Entsagung, Verleugnung, tägliches Kreuztragen. Es ist der Schmerz des Christentums, der Keinem erspart werden kann; hat unser Heiland eine Dornenkrone getragen, wollen wir eine Rosenkrone verlangen? Und ist doch auch dieser Schmerz nur ein fliehender, die Freude aber, die er mit sich bringt, eine bleibende: denn haben wir selbst mit unerbittlicher Hand das Unkraut getilgt, so schwillt immer gewaltiger das neue Leben, und immer freier entfaltet es sich unter dem himmlischen Sonnenstrahl, und seine Freuden heilen alle Schmerzen.

So laßt mich denn auch euch zurufen in dieser Stunde: „Wachet, seid männlich, und seid stark!“ Lernet die Entsagung, lernet es, täglich um Christi Willen Etwas euch abzuschlagen, kämpfet als Streiter Christi wider die Weichlichkeit dieser Zeit, welche vor dem Worte Entsagung schaudert. „Wer mir nachfolgen will, hat Christus gesagt, der nehme sein Kreuz auf sich täglich.“ Wir folgen ihm nach zur Kreuzesstätte, aber ihr wißt auch, daß sein Weg über die Kreuzesstätte hinausgegangen ist zur Krone, und auch unser Weg wird über die Kreuzesstätte hinaus zur Krone führen. So rufe ich euch denn zu in dem Namen des Herzogs unserer Seligkeit, der auf der Dornenbahn uns vorangegangen:

Wer aber mit Gebet und Ringen
Auf ewig Allem Abschied gibt,
Und den Monarchen aller Dingen
Von Herzen und allein nur liebt,
Der wird der Krone wert geschätzt
Und auf des Thrones Stuhl gesetzt,
Hindurch!

Eilt, faßt einander bei den Händen,
Seht, wie ist unser Ziel so nah!
Wie bald wird unser Kampf sich enden,
Da steht dann unser König da.
Er führt uns ein zur stillen Ruh,
Und urteilt uns das Kleinod zu.
Hindurch!

(August Tholuck)

Quelle: Glaubensstimme – Christliche Texte aus 2000 Jahren

Eingestellt am 23. August 2021