Sacharja 5, 5-11: Das Weib im Epha

Und der Engel, der mit mir redete, ging heraus und sprach zu mir: Hebe deine Augen auf und stehe, was gehet da heraus? Und ich sprach: Was ist es? Er aber sprach: Ein Epha gehet heraus; und sprach: Das ist die Gestalt im ganzen Lande. Und siehe, es schwebte ein Zentner Blei; und da war ein Weib, das saß im Epha. Er aber sprach: Das ist die Gottlosigkeit. Und er warf sie in den Epha, und warf den Klumpen Blei oben aufs Loch. Und ich hob meine Augen auf und sah, und siehe, zwei Weiber gingen heraus, und hatten Flügel, die der Wind trieb; es waren aber Flügel, wie Storchsflügel; und sie führten den Epha zwischen Erde und Himmel. Und ich sprach zum Engel, der mit mir redete: Wo führen die den Epha hin? Er aber sprach zu mir: Daß ihm ein Haus gebauet werde im Lande Sinear, und bereitet, und er daselbst gesetzt werde auf seinen Boden. (Sacharja 5, 5-11)

Ein merkwürdiges Gesicht, durchaus prophetischer Natur, und, wie Sacharjas Gesichte und Weissagungen alle, weit über die Tage Israels hinaus und bis in die letzte Kampf- und Siegesperiode des Gottesreichs auf Erden hinüberdeutend. Vorbildliche Erfüllungen erlebte es im Lauf der Jahrhunderte manche schon. Die schließliche, seinem prophetischen Inhalt nach allen Seiten hin erschöpfende Verwirklichung steht ihm noch bevor, und zwar, wenn nicht alle Vorbedeutungen trügen, in naher Zukunft; ja sie ist dem Anfang nach schon eingetreten. – Kommt, betrachten wir im Licht unseres Textes das heutige Weltgeschlecht im Gegensatz des Volkes Gottes, und zwar I) dessen Art und II) seine Zukunft.

I.

Sacharja vertritt uns heute das Volk des Herrn. In seiner Stellung und Gesinnung spiegelt sich diejenige aller Gotteskinder. Die lauterliche Demut, die sich in seiner ganzen Erscheinung ausprägt, bezeichnet uns die Hoffarbe sämtlicher Trabanten des großen Königs. Arme, einzig auf Gnade ruhende Sünder, wie er, sind sie alle. Da ihm der Engel des Herrn zu den Seiten eines siebenarmigen brennenden Leuchters zwei Ölbäume zeigte, an denen zwei Äste Gold von sich schüttelten, fragte Sacharja kindlich: „Was sind die beiden Zweige?“ – Auf die bedeutsame Gegenfrage: „Weißt du nicht, wer diese sind?“ erwiderte er treuherzig: „Nein, mein Herr“. So fern lag seinem anspruchslosen Herzen des Gesichtes Deutung, daß, als der Engel mit den Worten: „Siehe, die zwei Oelkinder sind’s, welche stehen bei dem Herrscher des ganzen Landes“, unverkennbar auf den Hohenpriester Josua und auf ihn, den Propheten selber, hinüberwinkte, dieser den Herrn auch jetzt noch nicht verstand, und so der geistlichen Braut im Hohenlied an die Seite trat, zu welcher der Bräutigam sagen mußte: „Kennest du dich nicht, du schönste unter den Weibern?“ – Solcher Selbstverkennung begegnet man aber bei den Kindern des Reiches gar häufig, und wie liebenswürdig sich dieselbe ausnimmt, so trifft sie in den meisten Fällen doch der Vorwurf, daß sie in Glaubensschwachheit wurzle. Denn wie arme Sünder sie auch sind in sich, so machte Christus doch aus ihnen etwas „zum Lobe seiner herrlichen Gnade“ (Epheser 1, 6), und eben um Christi willen und zu seines Namens Preise sollten sie sich’s ohne Protest gefallen lassen, im Worte Gottes sich auch einmal mit andern und höheren Titeln als dem eines „Würmleins Jakob“, eines „armen Haufen Israel“ begrüßt zu hören.

Sacharja steht auf seiner Seherwarte, und harrt, was ihm vom Herrn gezeigt und eröffnet werden möge. Auf heiliger Warte, wenn auch auf der Prophetenwarte nicht, steht auch das Volk des Herrn. O prüfe sich Jeder, ob er diese geistliche Warte kenne; denn danach entscheidet sich Großes. Kennst du die Handelswarte nur, auf deren Zinne man auf günstige Konjunkturen lauert; oder die Zeitungswarte, von wannen das Feld der Politik bewacht, die Markt- und Gassenwarte, wo immer nur nach Neuem in Stadt und Land geforscht, oder die buntbeflaggte Vergnügungswarte, von welcher unablässig nach frischem Zeitvertreib, nach wechselnder Zerstreuung gespäht wird: bist du auf diesen nur zu Hause, und kennst du die stille heilige Wart nicht, wo man Grüßen aus der Höhe gewärtig ist, die Botschaft erhofft, daß unsere Sünden uns vergeben seien, neuen Gnaden-Versicherungen, Glaubensstärkungen und Ermutigungen zum Wandel in den Wegen des Herrn sehnend entgegenhält, und von welcher her uns „alles Fleisch wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blume“ erscheint: kennst du sie nicht, o so sei tief bedauert und beklagt, denn du gehörst dem gesegneten Geschlechte nicht an, zu welchem der Herr spricht: „Ihr seid nicht mehr von der Welt, denn Ich habe euch von der Welt erwählt.“ –

Sacharja wartet, siehe, da tut das Wolkentor sich auf, und der „Engel des Herrn geht heraus“, um ihm wunderbare Dinge zu enthüllen. Glücklicher Seher! Glückliches Gottesvolk, dessen Vorzüge in den seinigen wiederscheinen! Auch für dich ist das Firmament durchbrochen, du kleine Herde; auch für dich wichen die Schranken der Sichtbarkeit zurück, und du wohnst in zweien Welten und verkehrst nicht mehr mit Fleisch und Blut allein. O armes Leben, da keine andern Laute vernommen werden, als Erdenlaute, da man von keinen andern Stimmen weiß, als Menschenstimmen, keine andern Vertrauten kennt, als die Genossen unsrer Sterblichkeit und Ohnmacht, und nicht weiter sieht, hört und inne wird, als die Sinne der Natur, die beschränkten und gefangenen, reichen. O, auch wir kannten es, dieses elende, nebelgraue, trostlose Dasein.

Mit Schauder rufen wir’s in unsere Erinnerung zurück. Jetzt kennen wir auch ein andres, und wissen von höheren Begegnungen auf dem Wege des Lebens, als von denen armer Staubgeschöpfe unsres Gleichen. Wir verbürgen’s jetzt, daß man auch Gott begegnen könne, und Seinem Sohn; dem heiligen Geiste, und den „Mahanaim“, wie weiland Jakob. Wir strecken die Hand zum Schwure aus, daß Mamre, Bethel, Pniel, Emmaus und Bethania noch auf Erden stehen. Wir beteuern’s, daß Jehova auch heute noch inmitten der Pilgerwüste persönlich zu Menschenkindern sich herunterlasse, mit ihnen rede und verkehre, ihnen dies und jenes erweise und eröffne, und ihren Seelen auf’s Neue seinen Geist einhauche. Es glaubt es Keiner, der es nicht erlebte; wer’s erlebte, dem streitet’s Niemand ab. Könnt auch ihr’s, auf Tatsachen eures innern Lebens gestützt beschwören, daß „Gottes Lust sei bei den Menschenkindern“; – o, wohl euch dann; könnt ihr es nicht, so seid ihr außerhalb der Bürgerschaft Israels.

Doch stille! Der Engel in unsrem Gesichte redet. „Hebe deine Augen auf“, spricht er, „und siehe, was gehet da heraus?“ – Sacharja sieht, aber weiß nicht zu unterscheiden was. – „Was ist das?“ fragt er. „Ein Epha“, heißt die Antwort. Ein Epha ist ein Getreidemaß, ein Behälter für Korn und andere Materialitäten. Wundersam! Statt eines Eliaswagens, statt einer Engelgruppe, wie sie den Lazarus zur Höhe trug, statt eines Adlers, der zur Sonne stiegt, ein fahrender Scheffel. Der Prophet sieht erstaunt über dieses seltsame Gesicht, als ihm aus des Engels Munde die feierlich ernste und bedenkliche Deutung der rätselhaften Erscheinung wird. „Siehe“, heißt es zu ihm: „das ist ihre (nämlich der Leute) Gestalt im ganzen Lande“, – Wie, die Leute gestaltet wie ein Epha? – O nicht doch. Das ganze Bild muß zusammen genommen werden. Merkt, der Scheffel ist nicht leer. Ihr entdecket ein Weib darin. „Das ist“, sagt der Engel, „die Gottlosigkeit“ (nicht: gottlose Lehre), sofern sie nämlich in den Leuten ist, also: das gottlose Geschlecht.

Seht, jetzt kommt ihr dem Verständnis der Sache auf die Spur. Im Scheffel sitzen die Leute, mit ihrem Herzen nämlich, mit ihrer Liebe, mit allen ihren Gelüsten und Gesuchen; was aber kann das Anderes heißen, als daß sich ihr ganzes Interesse auf den Scheffel beschränke. Was wir hier vor uns haben, ist also die bildliche Darstellung einer Zeitgenossenschaft, die vorherrschend im Materialismus ersäuft, und unter die Sorge um das Fleisch verkauft ist, und so sehen wir uns denn mit einem Male aus den Tagen des Propheten, über eine mehr als zweitausendjährige Vergangenheit hinweg in unsre gegenwärtige Zeit zurück versetzt. Ja, jetzt gelangt Sacharjas Gesicht zu einer Verwirklichung auf Erden, wie es sie in solchem Maße der Kräftigkeit und Ausdehnung – in der Christenheit mindestens – noch nie erlebte. Jetzt schwingt sich der prophetische Scheffel in der Tat durch die Welt, und das Weib ist millionenköpfig, das in ihm seinen Sitz genommen. Denn wann war der herrschende Zeitgeist je so dem Diesseitigen, dem Eiteln und Vergänglichen zugekehrt, als in unsern Tagen? Wann wurde es so laut, so unverhohlen, so hunderttausendstimmig auf Erden proklamiert, und zugleich so allgemein geglaubt, daß der Himmel allein im Vollgenuß der Erdengüter zu suchen sei, wie gegenwärtig? Geht hinaus auf alle Straßen – wovon hört ihr reden, als von neuen Wegen, Mitteln und Unternehmungen, die zeitlichen Gewinn versprechen? Durchwandert Häuser und Hütten; über was sind die Leute in der Regel aus, als darüber, wie sie sich und ihren Kindern Schätze sammeln möchten, die der Rost frißt? Um die Schätze der Ewigkeit ist kein Bekümmern. Mustert unzählige Schulen da und dort; wie heißt die Aufgabe, die sie sich setzen? Bildung für Gottes Reich? Nein, nur Bildung für das Reich der Welt, und Befähigung zum Erwerbe ihrer Güter, ihrer Ehren.

Betrachtet unsere jüngere Generation, die Träger der Zukunft, in den niedern wie in den höhern Ständen; was füllt den mehrsten unter ihnen das Herz? Ach, zeitliches Wohlleben ist der Götze, dem sie zu Füßen liegen, Prunk und fleischliches Behagen das Ideal, für das sie schwärmen. – O lauscht doch nur einen Augenblick in die Zeit hinein. Wornach schreit man? Politische Freiheit, Erweiterung der Erwerbsquellen, und damit der Quellen des zeitlichen Genusses: da habt ihr den Messias, nach dem sie schmachten. Bietet den Leuten Gottes Wort; sie fragen euch spöttisch, ob ihr zehn oder zwanzig Jahre geschlafen hattet, daß ihr um die neue Zeit nicht wüßtet, die hereingebrochen sei? – Weiset sie in die Ewigkeit hinüber; sie sehen euch mit Verwunderung an, nennen euch betörte Schwärmer, und sprechen: „Wir sind Kinder der Gegenwart“, als wären Ewigkeit und Gericht, Himmel und Hölle der Vergangenheit verfallen.

Die Tage Noahs sind wieder da: die große Masse ist Fleisch, und will sich durch den Geist des Herrn nicht mehr strafen lassen. Die Tage Nimrods kehrten wieder: Stolz auf die armen Surrogate verlorner Paradiesesherrlichkeit, auf die Erfindungen ihrer Jabals, Jubals und Tubalkains, sind die Menschenkinder nur darüber aus, sich in einem neuen Babel vergänglicher Weltlust für den Himmel, auf den sie verzichten, einen irdischen Ersatz zu ertrotzen. Wie natürlich, daß diesem Geschlechte nichts mehr zuwider ist, als das Evangelium mit seinem Dringen auf Welt- und Selbstverleugnung, und mit seinen Vertröstungen auf das Jenseits! Wie begreiflich, daß es jene dämonischen Geister als seine Propheten umjubelt, die sich den Schein zu geben wissen, als hätten sie dem Christentum mit der Schärfe ihrer Kritik für immer die Wurzel abgesägt. – Denn die materialistische Art ist dem größten Haufen nach, wie Sacharja sie sah, ein Weib, d. h. bei allem Pochen auf „Selbstständigkeit“ durchaus unselbstständig, bei allem Trotzen auf den „eigenen Geist“ von fremden Geistern im Triumph herumgeführt, nachtretend und nachschwatzend, Sklave des herrschenden Zeitgeistes; halb freiwillig, halb aus Ohnmacht Sklave. –

O, wie sollten die Engel des Friedens nicht weinen ob solcher Verirrung und Selbstentwürdigung der Kinder der Unsterblichkeit? Wie könnten die Heiligen des Herrn, diese einsamen Salems-Pilger in der großen Menschenwüste, anders, als mit diesem Weh durch eine solche Zeit geistigen Verfalls und verdunkelten Gottesbewußtseins hindurchgehn? Wie müßte ihnen, wenn sie gewahren, wie Einer nach dem Andern in den Epha, in das Schiff der dem Weltdienst Geweihten hineinsteigt, nicht bange werden für die Welt; und wenn sie hin und wieder gar auch edlere Naturen den gemeinsten sich beigesellen sehen, hier einen Philosophen, dort einen jungen Dichter, der nun auch „zur Opposition schwören,“ d. h. mit offenem Visier für die falsche Freiheit, für das Weltreich im Gegensatz des Reiches Gottes, für das Diesseits als die Sphäre, in welcher des Menschen Beruf wie sein Leben seinen vollen Abschluß finde, und für die Wiedereinsetzung des Fleisches in Rechte, die Gottes Wort demselben nirgends zugesteht, in die Schranken treten will, wie sollten sie dann nicht tief aufseufzen: „Herr, steu’re dem Verderben, oder die Säulen deiner Herrschaft auf Erden schwanken!“ – Mögen sie aber im Blick auf sich selbst mit verstärktem Nachdruck die Gnade preisen, daß sie ihren Fuß vor dem Satansstrick so kräftigen Zeitirrtums bewahrte. Und sind sie so glücklich, an ihrem Orte die Zahl der Männer sich mehren zu sehen, die göttlich befähigt sind, dem strömenden Verderben einen lebendigen Damm entgegenzusetzen; erfreuen sie sich sogar des Vorzugs, unter den Führern ihrer Jugend solche zu begrüßen, die vor Allem darauf denken, ihre Pfleglinge zu sich in das Schifflein hereinzuleiten, das unter der Flagge Christi steuert, o mögen sie dann ja nicht vergessen, an die Festtagsglocke zu schlagen, und dem Herrn aus voller Brust ein Halleluja anzustimmen. Denn die heillosen Unkrautssaaten, welche gegenwärtig die ganze Breite der zivilisierten Welt überwuchern, wer streute sie? – Ihr habt sie in den Acker der Kirche und Schule gesäet, Propheten einer falschen Aufklarung, die ihr in den letzten Jahrzehnten der mehrsten Kanzeln und Katheder euch zu bemächtigen verstandet. – Gott sende Schnitter, die das wilde Gestrüpp, das eurem Lügensamen entsproßt, wieder hinwegmähen! – Doch, Er sendet sie schon, und wird sie senden! –

II.

Wie das Weib in dem scheffelgestaltigen Luftkahn zu Gott und Dessen Reich steht, wissen wir. Wir werden nun vernehmen, wie der heilige Gott zu ihr. Sacharja sah den Epha schweben; über ihm, zu Anfang auch noch schwebend oder leicht aufliegend, eine „bleierne Scheibe“. Ueber dem Schiff, in dem die Kinder Gottes sitzen, schwebt ein goldner Schild, neigt sich ein Friedenspalmzweig nieder; über dem Fahrzeug jener lagert ein bleierner Deckel, der nichts Anderes als ein Sinnbild des Mißfallens Gottes, dann der Gefahr ist, die den Ephaseglern droht, und endlich des Gerichtes, das ihrer harrt. – Der Engel lüftet den Deckel, da hebt sich das Weib im Epha empor. Gottes Geduld und Langmut ist groß; Seine Gerechtigkeit geht zu Fuße, während Seine Barmherzigkeit mit Flügeln fliegt. Das verweltlichte Geschlecht soll noch Weile haben, sich zu besinnen, nach dem rechten Wege sich umzuschauen, und Gottes Wort zu hören, auf daß es keine Entschuldigung habe. Aber nur zu den Fleischtöpfen Egyptenlandes kehrt’s den Blick, schlägt Gottes Wink, Wort, Mahnung in den Wind, nennt das Evangelium eine „graue Steppe“, die Lust der Welt die „grüne Au“, des „Lebens goldnen Baum“, und preist einen behaglichen Sitz im Epha als den einigen „Stuhl im Himmel“, der des Begehrens wert sei.

Nun aber sieht der Prophet zum andern Male den Engel aus der Wolke treten; aber wehe! die Glorie der Barmherzigkeit, die denselben zu Anfang noch umstrahlte, ist erloschen. Verhängnisvolles Dunkel umschattet Seine Stirn; ach, die Langmut hat einem heiligen Zorne Raum gemacht. Zum Gericht kommt Er, ergreift das gottvergessene Weib mit starker Hand, wirft’s sonder Schonung in den Epha nieder, und schließt den letztern über ihr mit dem bleiernen Deckel. Faßt ihr diesen Akt? Er enträtselt sich leicht. – Hört in unsern Tagen tausende von Menschen reden, durchblättert ganze Stöße ihrer neuesten Schriften, Tagesblätter, Poesien, und nehmt wahr, wie aus den sogenannten „modernen“ Reflexionen und Herzensergießungen, die sie enthalten, auch die allerletzte Spur eines Wissens um eine andere Welt, als die diesseitige, verschwunden ist, und kaum noch die leiseste Ahnung mehr von Ewigkeit und Gericht, von Himmel und Hölle dann auftaucht.

Bemerkt, wie die armen Leute allmählich mit der Empfänglichkeit auch das Organ für die übersinnlichen Dinge verloren zu haben scheinen, und in dem engen irdischen Pferch ihrer „materiellen Interessen“ mit einer Harmlosigkeit und einem Behagen sich bewegen, als schlösse sich die ganze Bestimmung des Menschen in diesem armseligen Dasein ab, ja als wäre für andere, weitere und höhere Sphären die menschliche Natur nie organisiert gewesen. Schaut, wie sie, obwohl ohne Gott und Hoffnung in der Welt, in ihren kleinen Habseligkeiten, sei’s Gold, sei’s ein bißchen Ehre bei der Welt, so überschwänglich vergnügt, so vollkommen gesättigt sind, und somit die bekannte Behauptung, daß „des Menschen Herz für die Ewigkeit geschaffen sei, und nicht zur Ruhe komme, bis es ruhe in Gott“, Lügen zu strafen, ja zu einer phantastischen Übertreibung in Abschätzung der Menschenwürde zu stempeln scheinen. Sie beweisen’s ja mit ihrem Exempel, diese Beklagenswerten, daß der Mensch mit Händen und Füßen wohl geboren werde; aber als beflügeltes Geschöpf nur der Welt der Dichtung angehöre. – Überzeugt euch davon. Es bricht Not über jene Leute herein; aber da gewahrt ihr an ihnen statt des Aufschauens zu den „ewigen Bergen,“ nur ein ängstliches Herumtasten in den Hilfsquellen dieser Welt, von der Voraussetzung getragen, daß, wenn hier nicht das Remedium gefunden werde, Alles verloren sei. Der Tod klopft an ihre Tür; aber da ist kein Regen der Hoffnungsschwingen durch die Wolken, sondern nur ein Fragen nach dem geschicktesten Arzt, ein Sorgen um des Leibes Leben.

Wir raten ihnen zur Bekehrung; aber da seh’n sie uns befremdet an, als wollten sie sagen: „Wir wissen nicht, was ihr wollt!Habt ihr ein Arcanum wider unsre Krankheit, so seid willkommen; sonst laßt uns mit Frieden, und gehet eure Wege“. – Wir reden ihnen von Gott und Ewigkeit, aber unser Wort „sähet nicht;“ sie haben ein Ohr noch für allerlei Tagsgewäsche, das von der Gasse des gemeinen Weltgetriebes zu ihnen hinüberdringt; aber der Stimme des Heiligtums ist der Weg zu ihrem Innern verbaut. – Sagt, wie kommen euch diese Leute vor? Erscheinen sie euch nicht wie in einen Behälter eingezwängt, wo überwärts jede Aussicht ihnen versperrt, und ihnen nur noch gestattet wäre, unter sich zu blicken? – Seht, ihr habt das prophetische Weib vor euch, das, nachdem es mit der Energie seiner fleischlichen Gesinnung alle Gnadenmittel überwunden hat, endlich durch die vergeltende Hand der ewigen Gerechtigkeit in seinen verkehrten Weg dahingegeben, und in den Epha seines materiellen Dichtens und Trachtens vollends zu Boden gestoßen und festgebannet wurde. – Es hat den Anfang des göttlichen Gerichtes darin erfahren, daß der Irrtum seiner gottentfremdeten Richtung nun kräftig in ihm ward. Der „Bleiklumpen“ über ihm bezeichnet das göttliche Verhängniß der Verstockung. – Das Weib ist verurteilt und verdammt, nur noch zu sinnen und zu träumen, was dieser Welt angehört und ihrem Wesen.

Aber hört, was Sacharja weiter sah. Das Gesicht wird apokalyptisch, und gewinnt Beziehung auf die letzten Zeiten, in denen nach den Partikular- und Sonder-Gerichten über Einzelne, ein universelles über die ganze Masse der von Gott und Seinem Reiche Abgewandten ergehen wird. Der Prophet hebt abermal seine Augen auf, und sieht „zwei Weiber herausgehen mit Flügeln, die der Wind trieb; es waren aber Flügel wie Storchsflügel.“ – Zwei sinnbildliche Gestalten. Was sie darstellen sollen, ergibt sich leicht. Irre ich nicht, so trägt die eine ein bekanntes Emblem formalistischer Andacht in den Händen, die andere eine Brandfackel, um sie in die Kirchen des Gekreuzigten zu schleudern. Ahnet ihr, wer die beiden Erscheinungen sind? Der Aberglaube ist es und der Unglaube. Flügel des Zugvogels werden ihnen beigelegt, weil für sie kein Bleibens ist auf dem Boden, wo der Herr sein Zelt hat. Der Wind, auf dem sie ruhen, und mit dem sie sich durch die Welt bewegen, bedeutet die Lüge, außer der sie, windiger Natur, wie sie beide sind, ein anderes Fundament nicht haben. – Die Weiber nähern sich dem Epha, und ergreifen ihn; sie bemächtigen sich zuletzt des dem Weltgeiste verfallenen, und im Materialismus verkommenen Geschlechtes gänzlich und für immer. Ein Haufe dieser Verblendeten, dem es an Kraft gebrach, alles und jedes religiöse Bedürfnis in sich zu ersticken und auszurotten, der aber darum doch das Evangelium, das Selbst- und Weltverleugnung fordernde, nicht mag, wird eine Beute des ersteren der beiden Weiber, und holt sich trotz seiner Schilderhebung für „Fortschritt“, „Freiheit“ und „Reform der gesellschaftlichen Verhältnisse“, vor heiligen Tuniken, in kirchlichen Beichtstühlen, und unter bekreuzigenden Priesterhänden eine wohlfeile Gewissensbeschwichtigung; bleibt aber nach wie vor unter dem „Blei“ gefangen, d. h. vermag sich in’s Heiligtum der Wahrheit nicht mehr empor zu schwingen. – Der andere Haufe macht kürzern Prozeß, verneint alle und jede Religion, leugnet das Dasein Gottes und der jenseitigen Welt, von der er freilich unter dem Bleiverschlusse wenig mehr sieht, hört und inne wird, erhebt die Weltseele oder das Naturgesetz, oder gar den Menschen selbst zum Gotte, und wirft sich so dem vollendeten Unglauben in die Arme. – Aber stellt sich nicht schon in diesen unsern Tagen dergleichen dar? Unbezweifelt. Die beiden Weiber haben sich schon aufgemacht, und Viele von denen, die der Wahrheit nicht gehorchen wollten, wurden bereits zur Rechten und zur Linken dem Geist der Lüge preisgegeben. – Aber was sie schon jetzt betroffen, ist nur der Anfang der Gerichte Gottes erst. Einzelne Tropfen sind’s aus der „Zornesschale;“ was wird es werden, wenn deren ganzer Inhalt sich ergießen wird. –

„Aber welche Kluft zwischen Aberglauben und Atheismus! Wie mag die Masse vereinigt werden, in die sich jene beiden Weiber teilten?“ – Man möchte denken, es sei unmöglich; aber was die scheinbar so Ungleichartigen dennoch zusammen hält und zu einem Haufen wieder verknüpft, ist der Epha, der sie sämtlich umschließt, ist das Band ihres gemeinsamen Weltsinns, und Wahrheitshasses. –

Die beiden Weiber führen den Epha mit seiner Ladung fort. Nicht über die Erde führen sie ihn: es ist noch etwas Religiöses und Kirchliches in der Masse; nicht auch durch den Himmel: die Masse gehört, ob sie teilweise auch noch im Kirchenschmucke prangt, im Grunde doch der Welt an. – Zwischen Himmel und Erde, führen sie den Epha hin. – Wohin? So fragt auch der Prophet, und erhält die Antwort: „daß ihm ein Haus gebauet werde im Lande Sinear, und er daselbst gesetzet werde auf seinen Boden“. – Wie ist dies zu verstehen? Sinear ist das Land, wo Nimrod hauste und herrschte, „der gewaltige Jäger vor dem Herrn“ und die Abgefallenen von dem lebendigen Gott unter einander sprachen: „Wohlan, lasset uns bauen eine Stadt und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen“; das Land ist’s, wo sie eben in jener Riesenstadt der Gottlosigkeit eine feste und ewige Burg zu bereiten, und dem Weltgeiste einen Thron zu errichten gedachten, von dessen sicherer Höhe derselbe sich allmählich alle Völker der Erde untertänig machen sollte. Dieses Sinear kann aber hier nur Bild eines andern sein; denn zum zweiten Male sind die zu Sacharjas Zeit eben erst aus Sinear oder Babel zurückgekehrten Juden nicht dorthin verbannt worden; und Sacharjas Gesicht sieht auch weit über die Tage Israels hinaus. – O, wir ahnen den Sinn des Ephafluges gen Sinear. Die Offenbarung Johannis wirft uns ein helles Licht darauf. Ein neuer Nimrod; ein zweiter kolossaler Babelbau! Ja, wir verstehen. Vom Reiche des Antichristen ist die Rede. Dem führen die Weiber den Epha, das Schiff der Weltgenossenschaft, entgegen.

„Wie,“ fragt ihr, „zu einem Reiche werden sie einst sich einen, die Wahngläubigen und die Glaubenslosen?“ – Nun, sollte dies gar so unmöglich sein? Sehen wir nicht schon Spuren solcher Verbrüderung in unsern Tagen? Sind sie nicht bereits vielfach eins jene beiden Richtungen, in Anstrebung der Weltherrschaft, in dem Gelüste nach Selbstgesetzgebung und Selbstregierung, im Widerwillen gegen die ungefälschte göttliche Wahrheit, im Hasse wider die, welche dieselbe bekennen, im Begehren nach sinnlichem Genuß und Rausch, in der Lust zu Prunk, und Pracht und weltlicher Kunst, in der Neigung, einen irdischen Himmel sich zu bauen, um den jenseitigen entbehren zu können, und in dem Drange, das Gewissen zu beschwichtigen, ohne darum die fleischlichen Begierden kreuzigen, und Gott dem Herrn sich heiligen zu müssen? – Und laßt nur einmal erst ihre Stunde gekommen sein, und Dinge werdet ihr erleben, von denen ihr euch gegenwärtig noch nichts träumen lasset. Machte doch schon einmal, zum Vorbilde des, was in riesigerem Maßstabe einst geschehen sollte, der große Eroberer der neueren Zeit dem römischen Bischofe allen Ernstes den Vorschlag, er möge den heiligen Stuhl nach Paris verlegen, damit sie von da aus verbündet das große neue Weltreich stiften könnten. In dem Zukunftsspiegel der Offenbarung des Sehers Johannes begegnen wir in der Tat einem Bündnisse dieser Art.

Der Antichrist oder der Mensch der Sünde, und der „falsche Prophet“ sind eins geworden; und es wird nicht fehlen, daß zu seiner Zeit diese Alliance in’s Leben, in die Geschichte trete. Dann wird der Epha „auf seinen Boden gesetzt“; das heißt: die fleischlich gesinnte Menge, die sich von Gottes Geist nicht strafen ließ, organisiert und konsolidiert sich auf den nackten Grund des Materialismus und der Lüge, unter die sie verkauft sind, zu einem festen Staate; es heißt: dann wird der Fürst der Finsternis diese gegen das Reich des Lichts verschworne Art offenkundig tragen, stärken, stützen mit seinen Künsten, Kräften und Zaubern, und also der wahre Boden nackt zu Tage treten, auf welchem diese Menschen-Masse ruhte; es heißt auch endlich: dann wird das unglückselige Geschlecht tatsächlich und in bitterster Weise inne werden, daß es alle seine schimmernden Glücks- und Hoffnungsschlösser auf losen Sand erbaute; denn nachdem es vorab „ein Haus“, d. i. Form und Verfassung wird bekommen haben, oder sich zu einem Reichsgebäude gestaltet hat, von dessen Zinnen für eine Zeitlang stolze Siegesfahnen wehen werden, ergeht urplötzlich an die himmlischen Heere droben der göttliche Tagesbefehl: „Schlaget die Sichel an, denn die Ernte ist reif, und die Missetat der Amoriter ist voll“; und Der, welcher „Gerechtigkeit anzieht wie einen Panzer, und sich in Eifer hüllt, wie in ein Gewand,“ wird das Schwert Seines Zornes wetzen, und Seinen Feinden die Wunde schlagen, die nicht mehr heil wird. – “Seinem Volke aber“, spricht der Prophet, „wird der Herr eine Zuflucht sein und eine Feste; und sie sollen erfahren, daß Ich der Herr, ihr Gott, zu Zion auf meinem heiligen Berge wohne.“ –

Die beiden Schiffe segeln: der Epha und das Boot Immanuels; beide mit verschiedenem Winde und in entgegengesetzter Richtung. Das erstere trägt die heitere Inschrift auf seinem Wimpel: „Lasset uns essen, trinken und fröhlich sein, denn Morgen sind wir tot;“ das andere die ernstere: „Lasset uns zu Ihm hinausgehen außer dem Lager, und Seine Schmach tragen: denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ – Unter welche Flagge wollt ihr euch begeben? – In den Epha fallen die Kränze dieser Zeit, während das Schifflein Christi mit Schmach bedeckt dahinzieht; auf dem Strome des sogenannten „Fortschritts“ treibt jener, während dieses gegen den Wogenzug des herrschenden Tagesgeistes die Ruder schlägt; mit jenem fährt die Mehrzahl der Zeitgenossen, während die heilige Arche je und je nur die „kleine Herde“ barg; und während ihr aus dieser den Seufzer zur Höhe steigen hört: „Ach daß Du den Himmel zerrissest, und führest herab!“ – „Komm bald Herr Jesu!“ – dringen aus jenem lockendere Töne an dein Ohr: ein Trinklied jetzt, jetzt ein politisch Lied, und manches: „Heah, wir sind die Leute, und die Welt ist unser!“ – Was Wunder, daß die Masse dem Epha zustürzt?

Es zieht die Lust, es zieht die Verheißung für das Fleisch, und der Beifall der Majorität, und die Vernunft- und Menschenvergötterung, und der Schein einer falsch berühmten Kunst der Spekulation, und der Irrlichterglanz einer hochfahrenden Philosophie, und die Gesellschaft vieler der sogenannten „ersten Geister ihrer Zeit“; dieses Alles zieht gewaltig, während vom apostolischen Fischerkahne schon der kreuzgestaltige Mast, der Anker nur in unsichtbaren Küsten haftend, das blinde Unterwerfung fordernde Geheimnis, und vor Allem das durchgreifende Entsagungs- und Verleugnungs-Gebot, und wie Manches sonst noch, entschieden abschreckt. – Aber merkt, wer das Weltschiff führt, und wer das andere: hier Jesus der Steuermann, dort eine Macht des Abgrunds. Achtet darauf, nach welcher Richtung jenes segelt, nach welcher dieses: gen Mitternacht steuert das erstere; das letztere gen Morgen. – Schaut, über welchem Fahrzeug der Sturmvogel seine Schwingen schlagt, über welchem die Taube mit dem Oelblatt: im Epha hausen unter allen Rosen der Lust, die Sorge und die Furcht, in der Gottesbarke wohnt der Friede. Nehmt wahr, wo jener seine Pilger aussetzt, und wo diese; die letztere ankert an den immer grünen Küsten der Himmelsheimat; der Epha entläßt seine Ladung in die „ewigen Wüsten.“

Entschließt euch denn! Mit welchem der beiden Seglerzüge wollt ihr fahren? – Alles drängt in unsern Tagen zur Entscheidung. – Parteilos in der Mitte schweben bleiben, geht nicht mehr. Gesellt ihr denen euch nicht zu, die unter Christi Flagge steuern, so reißt euch der Strudel der Zeitbewegungen unausbleiblich mit den Andern fort; nehmt ihr die Liebe der Wahrheit nicht an, so erfaßt euch der kräftige Irrtum; bekehrt ihr euch nicht, so werdet ihr verstockt. Denn es geht jetzt das Gericht über die Welt, und nur zweierlei Malzeichen noch werden aus der Urne der Gegenwart gezogen: das des Lammes, oder das des „Tiers aus dem Abgrund“. Zieht das erstere, und rettet eure Seele! Noch flattert der Wimpel mit dem Kreuze, noch lockt die Gnade, noch ward der Steg zur Arche der ewigen Geborgenheit nicht abgebrochen. Ist er schmal auch, und die Pforte eng, und gilt’s Verleugnung, was ist es mehr? –

Hört, hört des Herrn Wort: „Ärgert dich deine Hand, oder dein Fuß, so haue ihn ab, und wirf ihn von dir. Es ist dir besser, daß du zum Leben lahm oder ein Krüppel eingehst, denn daß du zwei Hände oder zwei Füße habest, und werdest in das ewige Feuer geworfen. Und ärgert dich dein Auge, reiß es aus, und wirf es von dir. Es ist besser, daß du einäugig zum Leben eingehst denn daß du zwei Augen habest, und werdest in das höllische Feuer geworfen!“

Amen.

Quelle: Zeit-Predigten. Von Friedrich Wilhelm Krummacher: III. Das Weib im Epha.
Elberfeld, Verlag von Wilhelm Hassel, 1845.

Eingestellt am 1. September 2022