Die Leiden der Baltischen Kirche

Die Leiden der Baltischen Kirche durch die russisch-orthodoxe Kirche, durch Nationalismus, Sozialismus und Bolschewismus

Daß Christentum und Leiden auf das engste zusammengehören, dafür ist die evangelisch-lutherische Kirche des Baltenlandes Zeuge. Ich habe den „Leidensweg der baltischen Christen“ in meinem Büchlein „Märtyrer“ in aller Kürze skizziert. Ich habe dort auch zu zeigen versucht, wie Gott dieser Kirche wohl immer Atempausen gewährt, aber nur, um sie zu stärken für die kommenden Leiden. Diese Pausen wurden immer kürzer und die Leiden immer schwerer und erreichten vorderhand ihren Höhepunkt in den furchtbaren Zeiten der Christenverfolgung durch die Bolschewiken, da das Blut in Strömen floß.

Ich übergehe hier die Leidenszeit, die die evangelisch-lutherische Kirche des Baltenlandes durch die jesuitische Gegenreformation unter Polens Herrschaft, dieser Schirmmacht der römischen Kirche in Osteuropa, zu durchleben hatte, will die Drangsalierung, der die evangelische Kirche durch die Russen, dieser Schirmmacht der griechisch-rechtgläubigen Kirche, etwa seit 1840 ausgesetzt war, erwähnen und das Hauptgewicht legen auf die bewußt atheistische Agitation der Sozialdemokratie und ihre Verfolgung der christlichen Kirche in den Jahren der Revolution 1905/6, die eine Wegbereitern der Bolschewikenherrschaft war. Es müßte dazu eine eingehende Darstellung der verwickelten kirchlichen, nationalen, agrarischen und politischen Zustände des Landes gegeben werden; das würde hier zu weit führen. Eine reiche Literatur ist darüber vorhanden, die jedem zur Verfügung steht. Hier dürfte es genügen, die Erscheinungen in der Geschichte des Baltenlandes kurz zu erwähnen, die mitbestimmend waren und den Boden bereiteten für das schwere Leiden, das 1905/6 und 1918/19 vor den Augen der europäischen Christenheit über die hart geprüfte lutherische Kirche des Baltenlandes hereinbrach.

Das Präludium der letzten Leidenszeit der lutherischen Kirche des Baltenlandes bildete ihre  V e r f o l g u n g  durch die russische griechisch-orthodoxe Staatskirche. Was 1561 durch das Privilegium Sigismundi Augusti und 1721 durch den Nystädter Friedensschluß völkerrechtlich festgelegt war, was die russischen Herrscher über ein Jahrhundert treu gewahrt haben, daß die evangelisch-lutherische Kirche im Baltenlande als Landeskirche zu gelten habe, beseitigte Nikolai I. mit einem Federstrich durch das Kirchengesetz 1832.

Nikolaus I., Kaiser von Russland
(1796-1855)

Fortan galt die lutherische Kirche, wie in Rußland, so auch im Baltenlande nur als eine „geduldete“ neben der „herrschenden“ griechischen Staatskirche, diese hatte allein das Recht, Propaganda unter „Andersgläubigen“ zu treiben. Wer aber an Gliedern der Staatskirche „Propaganda“ trieb, machte sich eines Kriminalverbrechens schuldig. Um die Herrschaft der orthodoxen Kirche im Baltenlande zu markieren, wurde in Riga 1856, mit
verhältnismäßig großen Kosten, ein orthodoxes Bistum errichtet, und der fanatische orthodoxe Bischof Philaret begann seine Arbeit. Diese erstreckte sich nicht auf die wenigen orthodoxen Kaufleute und Beamten in den einzelnen Städten des Landes, sondern bestand in der Propaganda unter den Letten und Esten, sie von der Herrschaft der Deutschen zu befreien und mit dem Glauben des Zaren zu vereinen. Unter allen möglichen vagen Versprechungen von Land und Freiheit begann das „Anschreiben“ der „Konvertiten“; auf die Anschreibung folgte ohne Belehrungsfrist die „Salbung“ und damit die Einverleibung in die griechische Staatskirche „für alle Zeiten“, denn auch Kind und Kindeskind der Konvertiten blieben der griechischen Kirche verfallen.

Als der „offizielle Betrug“ dieser Propaganda (so urteilte der kaiserliche Flügeladjutant Graf Bobrinsky) von den Konvertiten bemerkt wurde, da wollten viele von ihnen zur lutherischen Kirche zurück. Besonders die Kinder der Konvertiten, die ohne ihr Wissen angeschrieben und gesalbt waren und in lutherischer Umgebung aufwuchsen, drängten
zur lutherischen Kirche zurück. Daraus erwuchs den Pastoren schwerste Not. Das Gewissen gebot ihnen, die Reumütigen und Unschuldigen zurückzunehmen, die §§ 187 und 193 des russischen Strafrechtes bedrohten aber solche „Propaganda“ mit Amtsentsetzung, Gefängnis, Verbannung.

Der Schrei der Gewissen nach Freiheit fand in Petersburg taube Ohren, ob Gemeindeglieder, ob Pastoren, ob Ritterschaften darum flehten, es blieb beim alten.

Durch das energische Auftreten Bismarcks gegen die „Barbarei“ der Gewissensknechtung veranlaßt, hatte der russische Kanzler Gortschakow es 1865 durchgesetzt, daß, um den „Skandal vor Europa“ zu vermeiden, wenigstens die Schließung der Mischehen durch einen Geheimbefehl Alexanders II. auch den lutherischen Pastoren zugestanden
wurde. Fortan konnten die „Rekonvertiten“ auch eine evangelische Ehe eingehen, ohne daß sie durch ein „Reversal“ sich verpflichten mußten, ihre Kinder orthodox zu erziehen. Trotz dieser Milderung des Kampfes ging es böse genug her. Als 1871 das livländische Konsistorium den Befehl erhielt, Prediger, die an Gliedern der orthodoxen Kirche Seelsorge geübt und Amtshandlungen vollzogen, zu entsetzen, erklärte das Konsistorium, den Befehl nicht ausführen zu können, denn von seinen 105 Gemeindepastoren hätten sich 95 dieses „Verbrechens“ schuldig gemacht. Die übrigen nur deshalb nicht, weil in ihren Kirchspielen keine „Griechen“ lebten.

Der Kampf verschärfte sich aufs neue, als unter Alexander III. 2o Jahre später, unter dem Einfluß seines bösen Geistes Pobedonoszew, das „Reversal“ bei den Mischehen wieder eingeführt wurde. Die Verfolgung hob mit neuer Macht an, da half kein Eintreten der „evangelischen Allianz“ oder der reformierten Geistlichkeit Schaffhausens. Der Druck wurde immer stärker. Selbst der Bau von lutherischen Kirchen wurde von der Erlaubnis des russischen Bischofs abhängig gemacht. Die Zahl der Pastorenprozesse stieg 1892 auf über 200, den Rekonvertiten wurden durch richterlichen Spruch die lutherisch gewordenen Kinder fortgenommen und den griechisch-orthodoxen Verwandten zur Erziehung übergeben.

Das rohe repressive Verhalten der russischen Kirche und des russischen Staates hat drückendes Leid über Pastoren und Gemeinden gebracht, den ersteren ständig Suspensionen, öfters Gefängnis und Verbannung, den letzteren schwer lastende Gewissensnot, indem sie gezwungen wurden, Glieder einer Kirche zu sein, mit der sie innerlich nichts gemein hatten. Das ganze evangelische Europa hat damals, durch die
„evangelische Allianz“ veranlaßt, fürbittend der Glaubensnot der Evangelischen in den Ostseeprovinzen im Kirchengebet gedacht. So wach war das evangelische Gewissen damals, als die Gewissensnot Unzähligen Tränen auspreßte. Hernach, als die Nöte sich steigerten — das Blut in Strömen floß, da ist das Weltgewissen ziemlich still geworden. Politik verschloß ihm den Mund.

Die Not dieser Verfolgung des evangelischen Christentums durch die russische Staatskirche endet erst mit dem Toleranzedikt vom 17. April 1905. Es steht aktenmäßig fest, daß das willige Leiden der baltischen Pastoren für die Freiheit des Evangeliums dazu beigetragen hat, daß dieses Edikt erlassen wurde. Es kam zu spät, die Vorboten der Revolution zeigten sich. Der Schaden, den diese Gewissensknechtung und lügenhafte Propaganda angerichtet hatten, konnte nicht mehr gutgemacht werden. „Wie zersetzend und demoralisierend die griechische Kirche gewirkt hat, sowohl, indem sie durch Anwendung unsittlicher Mittel bei ihrer Propaganda die niedrigen Instinkte der Massen
weckte, als auch, indem sie die in Gewissensnot Verzweifelnden zwang, Sitte und Gesetz beiseite zu lassen, das hat die Revolution gezeigt, die überall dort, wo eine konfessionell stark gemischte Bevölkerung existierte, einen besonders günstigen Nährboden gefunden
hat.

Schon bei diesem ersten Kampfe spielte das nationale Moment eine Rolle, indem der Russe sich bemühte, das Luthertum als den Glauben der deutschen Herren, der vom „unverschämten“ Luther ausgedacht ist, verächtlich zu machen gegenüber dem russischen Glauben, der auf die Apostel zurückgeht und der der Glaube des Zaren ist. Eine nationale Verschiedenheit, die sich meist auch sozial differenzierte, bestand freilich von Anfang an im Baltenlande. Trotz aller Differenzen aber gab es bis etwa zum Jahre 1870 keinen Nationalitätenhaß.

Zu groß war das Gemeinsame an Geschichte, Kultur, Glaube. Freilich entwickelte sich, wie es bei wirtschaftlich und kulturell aufstrebenden Völkern natürlich, bei den Letten und Esten ein gehobenes Volksbewußtsein, das auch von den deutschen Pastoren tatkräftig gefördert wurde. Das störte aber nicht den Frieden, den die Heimatgenossen miteinander hielten. Die Letten und Esten mit den deutschen Balten verfeindet zu haben, war das teuflische Werk der Russen.

Wie konnte ihnen das gelingen? Der Krimkrieg (1865) hatte Rußlands Fäulnis offenbart und Rußland als „den Koloß auf tönernen Füßen“ erwiesen. Auf den eisernen Nikolai I. folgte sein schwächlicher Sohn Alexander II. Er hatte, nicht so sehr seinem sozialen Gewissen folgend, sondern aus gutmütiger Schwäche und feiger Furcht vor drohendem Unheil, die Leibeigenschaft der Bauern abgeschafft. Millionen Sklaven waren mit einem
Male frei. Ein wahrer Taumel erfaßte die liberale russische Gesellschaft. Der Russe ist immer radikal. War die Leibeigenschaft, das bisherige Fundament des wirtschaftlichen Lebens Rußlands, ohne irgendwelches Übergangsstadium abgeschafft, so begehrte man nun den Bruch mit sämtlichen Traditionen der Vergangenheit, es sollte alles geändert werden. Die westeuropäischen Soziologen und Sozialisten beherrschten fortan das russische Geistesleben. Auguste Comte, der Positivist, aber auch Proudhon, der Eigentum als Diebstahl erklärte, wurden übersetzt und namentlich von der Jugend verschlungen. Aus ihren Reihen gingen die Nihilisten hervor, wie Turgenjew die uferlosen
materialistischen, atheistischen, jugendlichen Volksbeglücker nannte, die in dem Anarchisten Alex. Bakunin ihre Vollreife erlangten. Der hat das Zerstören des Bestehenden gepredigt: „Das Aufbauen ist nicht Sache der Generation, deren Pflicht das Zerstören ist.“

Neben dem sozialistisch-anarchistischen Gedankenkompler gelangte in Rußland die aus dem slavischen Teil Österreichs stammende panslavistische Idee zur Macht. Als diese durch den polnischen Aufstand schwer diskreditiert wurde, setzte Michael Katkow an ihre Stelle seinen „russischen Staatsgedanken“. Nicht die große „slavische Union“, sondern der „russische Einheitsstaat“ sollte das Bollwerk gegen den „faulen Westen“ bilden. Sollte dieser Einheitsstaat stark genug dazu sein, so müssen alle die verschiedenen Völker, die zu Rußland gehören, durch die russische Sprache die russische Kultur annehmen: sie müssen russifiziert werden. Die russische Jugend war mehr sozialistisch, das Alter mehr panslavistisch im Katkowschen Sinne eingestellt. Beide verband der Haß gegen die, welche bisher den Russen die Kultur vermittelt hatten, — die Deutschen. Ihre konservative Einstellung war den Sozialisten, ihre geschichtliche Eigenart den Panslavisten verhaßt.

Die Ostseeprovinzen, dieses alte deutsche Kolonialland, das durch seine jahrhundertlange Geschichte und germanisch-lutherische Struktur seit 150 Jahren ein Sonderdasein im russischen Reiche geführt, sollte seine Sonderstellung ehenso verlieren, wie Polen sie nach dem polnischen Aufstande 1863 verloren hatte. Verlangte Katkow zur Realisierung
seines Staatsgedankens, daß in ganz Rußland eine Sprache herrschen sollte, warum denn nicht auch ein Glaube, ein Recht, welche Idee später Pobedonoszew auf das schärfste vertrat. Von hier aus erklärt sich die Propaganda, die die russische Kirche, gestützt auf die Machtmittel des russischen Staates, unter Letten und Esten trieb (wovon im vorherigen die Rede gewesen ist). Von hier aus erklärt sich auch die Russisizierung der Gerichte, durch die das alte römisch-germanische Recht, das 650 Jahre im Lande geherrscht, außer Kraft gesetzt wurde, und daß die alten Gerichte, da jeder in seiner Sprache verhandeln konnte und meist jeder von seinem er wählten Standes- oder Heimatgenossen gerichtet wurde, aufgehoben wurden, um durch landfremde Richter, die nur durch Dolmetscher verhandeln konnten, ersetzt zu werden. So war auch die Russisizierung der Schulen, besonders die der auf nationaler Grundlage errichteten Volksschulen, die logische Auswirkung der Katkowschen Ideen. In den Schuldienst wurden meist sozialistisch gerichtete, russisch gebildete, jugendliche Lehrer und Lehrerinnen, bis herab zum Alter von 17 Jahren angestellt, die die im Landesseminar ausgebildete, aus dem Volk hervorgegangene tüchtige Lehrerschaft verdrängten.

Diese Volksschullehrer, die die Schule vor allem russifizieren sollten, wurden Führer und Förderer der kommenden Revolution. Alle diese Russifizierungsmaßnahmen hatten Erfolg, weil es den Russen gelungen war, unter die im Lande lebenden Völker den Nationalitätenkampf und -haß zu tragen. Hierzu benutzten sie die „Jungesten“ und „Jungletten“. Diese hatten etwa seit 1856, nachdem das Nationalbewußtsein im Volke erwacht, das Programm aufgestellt, das Volk aus der geistigen Finsternis zu reißen und es von der Vormundschaft der Deutschen und besonders der Pastoren zu befreien. Mit diesen
Jungesten und Jungletten schlössen die russischen Nationalisten vom Schlage Katkows einen Bund und gewannen in ihnen Helfer, den „russischen Staatsgedanken“ im Baltenlande durchzusetzen und die Vorherrschaft der Deutschen im Lande zu brechen. Die Jungesten und Jungletten sahen in dem nationalistischen Russentum die Macht, mit deren Hilfe sie ihr Ideal, ihr Volk von den Deutschen zu befreien, verwirklichen konnten.

So entbrannte der Nationalitätenkampf im Baltenlande, der für die Deutschen um so verhängnisvoller wurde, als sie den Machtfaktor des lettischen und des estnischen Nationalismus stark unterschätzten. Sie glaubten ihre Pflicht gegen die lettischen und estnischen Heimatgenossen voll erfüllt zu haben. Warum sollten diese gegen sie kämpfen? Man wollte es nicht wahr haben, daß ein Kampf der Nationalitäten hier entbrennen könnte. Man glaubte in der Religion und Kultur ein so großes gemeinsames Gut zu haben, im Verhältnis, zu dem die Ver­schiedenheit des Volkstums kaum in Betracht kam.

An die mit den Russen Hand in Hand gehende nationalistische Be­wegung heftete sich die sozialistische Bewegung, die beson­ders im lettischen Teile des Baltenlandes Boden gewonnen. Beide  waren eins im Ziel — Vernichtung der deutschen Vorherrschaft, wenn
auch ihre Motive verschieden waren. Auch die Sozialisten waren natio­nalistisch eingestellt, denn die besitzende Klasse gehörte eben der deut­schen Nationalität an.  Die sozialistischen Bestrebungen waren schon in den sechziger Jahren in einzelnen Agrarunruhen zutage getreten, wenn auch zunächst in  naiver Weise. Zwanzig Jahre darnach begannen die Sozialisten be­wußt zu arbeiten, vielfach in Anlehnung an die Nationalisten. Das  Bündnis Sozialismus—Nationalismus war freilich auf die Dauer unhaltbar. Es kam zu einer Scheidung innerhalb des Jungletten- und  Jungestentums, die dahin führte, daß die älteren immer stärker das  nationalistische, die jüngeren das sozialistische Moment vertraten. Die Alten schüttelten endlich die immer mächtiger werdenden Sozialisten  ganz von sich ab und machten schließlich die Gendarmerie auf sie „auf­merksam“, was zur Verhaftung der sozialistischen Führer führte. Die  Sozialisten, die nun erkannten, daß man unter russischer Herrschaft  nicht, wie in Westeuropa, in Wort und Schrift an der Staatsordnung  rütteln durfte, begannen jetzt im geheimen ihre revolutionäre Arbeit:  die Unterwühlung der alten Ordnungen durch begehrlich gemachte
Massen.

Quelle: Oskar Schabert, Pastor zu St. Gertrud in Riga: Baltisches Märtyrerbuch, Furche-Verlag. Berlin 1926. S. 22-29. [Digitalisat, pdf]

Weblinks und Verweise:

Weise, Christian: Oskar Schabert (im BBKL, Archivfassung, Stand 7.8.2002)