2. Timotheus 3, 16

Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit. (2. Tim. 3, 16)

Ich achte es als ein Zeichen, daß einer in der Kunst des Gebetes schon fast ein Meister geworden sei, wofern er dahin gekommen, das Vater Unser von allen anderen Gebeten gern zu beten und inne worden ist, daß kaum ein anderes Gebet gedacht werden kann, darin ein Christenherz so vollkommen alles, was es dem ewigen Gotte vorzutragen hat, einzuschließen vermag. Was nun von diesem Stücklein des Wortes Gottes gilt, das gilt wahrlich auch von dem ganzen Worte Gottes, daß nämlich ein Christenmensch schon reich begnadigt worden, sobald er dahin gekommen ist, an den Büchern der heiligen Schrift sich besser zu erbauen als an aller andern Schrift. Wie gewaltig in dem Buche der heilige Geist regieren muß, erkennt man schon daran, daß es vor vielen anderen Büchern menschlich so gar geringe aussieht, und wie die Geschichte lehrt, auch ganz zufällig, also wie wir es vor uns haben, zusammen gesetzt worden und doch so erstaunlich große Dinge an einem Menschenherzen ausrichtet. Fürwahr, auch in diesem Buche ist der Herr Christus wohl in schlechte und geringe Windeln gewickelt, wie in der Krippe von Bethlehem, aber doch haben die einen von Abend- und Morgenland kommen müssen und vor dieser Krippen niederknieen und ihre Gaben darbringen. Wenn man so zuerst zu dem Buche herankommt, wie einen da von Anfang bis zu Ende Alles so fremd ansieht, und kann doch am Ende eine Seele ihre Heimat so darin aufschlagen, daß ihr in allen anderen Büchern der Welt nicht so wohl wird wie da. Nur die dunkeln Stellen unsers Herzens machen, daß wir so viele dunkle Bibelstellen finden. Laß aber Christum wachsen und größer werden im menschlichen Herzen, so wird er damit auch immer größer und herrlicher in seinem Worte. Man kann doch keinen erfahrenen Christen sehen, der’s nicht bezeugte, daß er an der Bibel eiuen Born gefunden, den Keiner ausschöpfen mag, wie Dr. Luther so lieblich gesagt hat: „Ich hab nun etliche Jahre her die Bibel alljährlich zweimal ausgelesen, und wenn sie ein großer, mächtiger Baum wäre und alle Worte wären Aestlein und Zweige, so habe ich doch an allen Aestlein und Reislein angeklopft und gerne wissen wollen, was daran wäre und was sie vermöchten und allezeit noch ein paar Aepflein oder Birnlein heruntergeklopft.“

Darum, lieber Bruder, willst du vom Lesen heiliger Schrift Segen haben, laß es dich nicht irren, ob auch neben dem was klar ist immer noch viel darin wäre, was dir verschlossen bliebe; bedenke nur, daß zwar der himmlische Vater allerdings auch an dich gedacht hat, da er das Buch hat schreiben lassen für alle Millionen, die über der Erde wohnen, damit gerade du darin dein Licht und dein Gericht, dein Kräutlein und dein Rüthlein finden solltest, daß er indessen zugleich an alle seine anderen Kinder mitgedacht. Daraus muß denn, wie du leicht schließen kannst, folgen, daß Unzähliges, was für  d i e  klar, für dich dunkel sein wird; daß der eine Acker des göttlichen Wortes besonders in der einen, ein anderer in einer andern Zeit Frucht tragen soll. Da hat z. B. das Wort Gottes solche Stellen, die besonders für Gelehrte geschrieben sind, welche ihr Heil suchen; bei anderen hat göttliche Weisheit an die Könige gedacht, wieder andere sind solche, da besonders für die Kindlein Fürsorge getan ist.

Quelle:

Dr. August Tholuck, Stunden christlicher Andacht, ein Erbauungsbuch. Hamburg, bei Friedrich Perthes, Fünfte Auflage, 1853. (Digitalisat)

Eingestellt am 8. September 2021