Eine Betrachtung für forschende Christen, von F. Hærter,
Pfarrer an der Neuen Kirche zu Straßburg
Es gibt einen Zustand der Vergeltung jenseits der Gräber, – diese Wahrheit kann jeder vernünftige Mensch durch das bloße Naturlicht erkennen. Aber düster und schwankend bleibt solche Erkenntnis, und mehr eine zwischen Furcht und Hoffnung schwebende Ahnun, als eine klare freudige Gewißheit, so lange das Herz sich nicht zu Gott bekehret hat. Denn der Gedanke, daß ein Gericht uns erwartet, liegt zwar ganz nahe, wird aber nie recht durchdacht, weil er dem Irdischgesinnten zu schrecklich vorkommt; darum begnügt man sich meist mit einigen oberflächlichen Redensarten aus verstümmelten Worten der heiligen Schrift und Mutmaßungen der heidnischen Weisheit zusammengeschmolzen, und geht so halb trotzig, halb verzagt der dunkeln Zukunft entgegen, indem man die wichtigsten Lehren, welche die Offenbarung darüber erteilt, unerörtert läßt.
Zu diesen wichtigsten Lehren über die Zukunft gehört unstreitig die Vorherverkündigung eines allgemeinen Gerichtes, welches am Ende der Tage über die Menschen-Welt ergehen wird, und darum gewöhnlich das Weltgericht heißt. Aus Mangel an gründlider Bibelkenntnis herrscht hier unter den Christen eine seltsame Verworrenheit der Begriffe. Die einen sagen: Ist denn nicht der Sterbetag schon für jeden Menschen ein Entscheidungs- oder Gerichts-Tag, wozu bedarf es alsdann noch eines letzen Gerichtes?
Die biblische Lehre vom Weltgerichte umfaßt eine zweifache Wahrheit:
1. Daß Jesus Christus Richter der Welt ist.
2. Daß ein allgemeines Gericht die Welt erwartet.
1) Wir bekennen Jesum Christum als den Richter der Welt, wenn wir in unserm apostolischen Glaubensbekenntnisse sagen: Er ist aufgefahren gen Himmel und sitzet zur Rechten Gottes, des Allmächtigen, von dannen er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten. Diese biblische Wahrheit steht da so ernst und hehr, daß ein Schauer uns ergreift, wenn wir sie recht erwägen, und daß wir mit ehrfurchtsvoller Scheu nicht wagen aufzuschauen zu dem Hocherhabenen. Doch freundlich neiget er sich zu uns mit dem Worte des göttlichen Erbarmens: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde.
2) Wie lassen sich aber diese beiden widersprechend scheinenden Worte des Herren vereinigen? Der Vater hat alles Gericht dem Sohn übergeben, und Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte. Sehr einfach, sobald man die rechte Bedeutung der Sendung des Gottessohnes verstehet. Jesus Christus tritt in seinem Evangelium vor einen jeglichen unter uns und sagt: Sieh, ich bin nicht gekommen dich armen Sünder zu richten und dich, wie du es verdienst, der Verdamimnis zu übergeben, sondern ich will dich retten und beseligen, wenn du nur an mich glauben willst.
Glaubest du aber nicht, so bist du schon gerichtet, denn du liegst von Natur unter dem Gesetze des Todes und gehst als solcher dahin, wo du aufgesparet bleibest zum großen Gerichtstag, an welchem deine Werke untersucht werden sollen, unterdessen giebt es für dich keine Seligkeit.
Der evangelische Grundsatz, daß vor dem letzten Tage der Menschheit kein Mensch um seiner Werke willen selig werden kann, weil kein Mensch dem Gesetze ganz Genüge leistet, ist vorzüglich im ersten Teile des Römerbriefes (Cap. 1-11) umständlich erklärt und bewiesen, und im Briefe an die Epheser sagt der Apostel allen Gläubigen ausdrücklich:
„Aus Gnaden seid ihr selig geworden durch den Glauben, und dasselbige nicht aus euch; Gottes Gabe ist es, nicht aus den Werken, auf daß sich nicht jemand rühme.“
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Die ganze Rettungsanstalt der Menschheit ist vom Vater dem Sohne übergeben um seines unermeßlichen Verdienstes und vorzüglich um seines Opfertodes willen. Der Sohn hebt nun zuerst aus der Masse der Menschheit diejenigen aus, welche durch den Glauben an ihn lebendig geworden sind. Hierüber giebt der Welt Heiland selbst einen Fingerzeig in der bedenklichen Stelle: „Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, daß die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und die sie hören werden, die werden leben.“ In den Worten: „Es kommt die Stunde und ist schon jetzt“ ist die ganze Gnadenzeit des Menschengeschlechtes zusammengefaßt. Jesus spricht mit dem „jetzt“ die Gegenwart aus, worin er sein Werk begründet, und mit dem: „es kommt die Stunde“ zeigt er das Ziel an, wo die Bedingung, durch den Glauben gerettet zu werden, aufhören wird. In dieser Entwicklungsperiode der Welterlösung wird das Wort des Lebens den Toten gepredigt, d. i. die rufende Stimme des Sohnes Gottes, der gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Alle nun, die darauf hören, erwachen aus ihrem Todesschlafe, fangen an in der Buße lebendig zu werden und gehen, wenn sie im Glauben voranschreiten, in dieser Zeit schon durch das Gericht der Bekehrung in das völlig entschiedene Leben der Heiligung über, wodurch sie zur ersten Auferstehung oder zur vollkommenen Seligkeit im himmlischen Reiche Jesu Christi reif werden.
Die Nichtgläubigen hingegen bleiben im Tode, d. h. in einem Zustande des Geschiedenseins von der seligen Gemeinschaft mit Gott, der Quelle des ewigen Lebens, und werden dem letzten Gericht aufgespart. Dieses letzte Gericht ist für alle verstockten und unbußfertigen Herzen ein Tag des Zornesun der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, welcher geben wird einem jeglichen nach seinen Werken.
Dann geht das Wort des Herrn in Erfüllung (Joh. 5, 28): „Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden die Stimme des Sohens Gottes hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.“
In dieser Stelle ist wohl zu merken, daß Jesus nur sagt: „Es kommt die Stunde“, und daß er nur von der Zukunft spricht. Diese Zukunft ist eben das Ziel der Menschenzeit, wo alle, die in den Gräbern, d.i. in den Zuständen der unselig Verstorbenen, aufbehalten waren hervorgehen müssen durch den Allmachtsruf des Gottessohnes, um den Lohn ihrer Werke zu empfangen, denn alsdann ist nicht mehr vom Hören und Glauben, sondern vom Tun die Rede.
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Druck von Friedrich Carl Heitz, Strasburg 1835