Schule der Selbsterkenntnis (Kohlbrügge)

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommet her zum Wasser! und die ihr nicht Geld habt, kommet her, kaufet und esset; kommt her und kauft ohne Geld und umsonst beides, Wein und Milch! Warum zählet ihr Geld dar, da kein Brot ist und tut Arbeit, davon ihr nicht satt werden könnt? (Jesaja 55, 1.2a)

Denn er spricht zu Mose: „Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und welches ich mich erbarme, des erbarme ich mich.“ (Römer 9, 15)

Wann werden wir endlich völligen Bankrott machen und Konkurs anmelden? Es gibt doch kein fröhlicheres Leben, als wenn man aufgenommen worden ist in Gottes großes Armenhaus und nichts, nichts, gar nichts mehr zu leisten braucht, sondern alles ohne Geld und – damit man nicht meine, man könne es mit seiner Dankbarkeit gutmachen – umsonst, ganz umsonst hat und so sich’s gut sein läßt an eines anderen Gut!

Gott spricht: „Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig.“ O, das ist doch wahrhaftig ein Wort, so reich an Trost wie kein anderes! Er nimmt mir meine Schulden und schenkt mir Reichtümer. Er nimmt mir meine Lappen und Lumpen und kleidet mich wie ein Königskind. Er nimmt mir meine Krücken und verwendet sie als Brennholz, um mir eine köstliche Speise zu kochen. Wenn ich ganz und gar aussätzig bin, dann bin ich rein; und wenn ich schwarz bin, dann nennt er mich ,lieblich‘. Und wenn ich zu schwach bin, um auch nur eine Feder von meinem Munde wegzublasen, dann bin ich ein allmächtiger Mann. Wenn ich am Boden dahinkrieche, dann schwebe ich über den Bergen Jerusalems. Wenn ich mich selbst verdamme, dann preist er mich selig. Und wenn ich nur noch Haut und Knochen bin, gerade dann werde ich nicht zu leicht befunden auf seiner Waage. Das geht wohl alles kreuz und quer gegen unsere Gedanken und Erwägungen, aber gerade so geht es gut! Es gibt keinen andern Weg der Gnade nach Jerusalem, und ich begehre auch keines andern. Es ist eine große Gnade, wenn Gott uns mit unserer Heiligkeit und Frömmigkeit in den Dreck stößt und ins Feuer wirft, und das tut er mit einem jeglichen unter uns, sofern wir in Gnaden sind.

Ein Mal über das andere und immer wieder tut er das. Und so empfinden wir es erst recht und bekennen, daß wir uns selbst ungnädig sind, wenn wir es in unserer Frömmigkeit suchen und in einer Heiligmachung, die halb von Christus und halb aus uns selbst kommt, und daß er allein gnädig ist, welchem er gnädig ist, und zwar darin und damit, daß er alle unsre schönen Kartenhäuschen einfach über den Haufen bläst und ohne Aufhören abbricht, was wir bauen.

Manchmal meinen wir, wir wüßten in diesen Dingen Bescheid, und kommen dann just auf einen Weg, auf dem es uns plötzlich so vorkommt, als verstünden wir noch gar nichts. Das ist uns sehr heilsam!

Hermann Friedrich Kohlbrügge
(1803-1875)

Quelle: Glaubensstimme – Die Archive der Väter

Weblinks und Verweise:

Licht und Recht. Schriften von und über Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875)

Eingestellt am 1. Februar 2021