Irvingismus

Mit diesen Anerbietungen also tritt der Irvingismus vor uns hin. Für einen Christen, der gewohnt ist, seine Belehrung aus der klaren und deutlichen Offenbarung des geschriebenen Gotteswortes zu schöpfen, und zwar nach den Grundsätzen einer gesunden Auslegung, und der von dieser Offenbarung geleitet, ohne deshalb die Formen zu verachten, doch überall das Wesen höher stellt als die Form, für den können diese Anerbietungen wenig Einladendes haben. Wie könnte ein Cultus uns anziehen, von dem sich im ganzen neuen Testament bei ungezwungener Auslegung nur auch keine Spur angedeutet findet, so daß der Irvingismus selbst die Sache so darstellen muß, er nehme das Werk da auf, wo Paulus es gelassen und führe es zu Ende – ein Cultus, in welchem jedoch Paulus nichts weniger als eine Fortsetzung seines Werkes erkennen, den er vielmehr in ähnlicher Sprache strafen würde, in welcher er die galatischen und zum Teil auch die kolossischen Christen wegen wiedereinschleichenden Ceremoniendienstes straft;  ein Cultus, der uns aus den lichten Himmelsräumen einer Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit theils in die Schattenwelt der mosaischen Stiftshütte zurückführt, teils sogar in den Ceremoniendienst der römischen Kirche, von welchem uns die Reformatoren gesegneten Andenkens befreit haben; den wir denen, die seiner zur Erbauung bedürfen, nicht mißgönnen, für uns aber uns an das Wort des Apostels halten wollen, 1. Kor. 13, 11: „Da ich ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war.“

Wie könnten wir gegen einen solchen Cultus den unsrigen austauschen, der freilich sehr einfach und nüchtern, wohl auch hie und da einer Verbesserung fähig ist, aber alle die wesentlichen Mittel der Erbauung enthält, deren sich die ersten Christen unter der wahren Apostel Leitung bei ihren gottesdienstlichen Versammlungen bedient haben.

Doch die irvingische Kirchenverfassung hat ihre noch bedenklichere Schattenseite, welche mit dem protestantischen Bewußtsein schlechthin unverträglich ist: Wo liegt die Garantie für ungefährdeten und ungeschmälerten Besitz des köstlichen Rechtes, das uns unsere Väter in der Reformation erstritten haben, des allgemeinen Priestertums, laut welchem jeder Christ unmittelbar Gemeinschaft pflegt mit seinem Erlöser, sein Glaubensleben aus der Schrift schöpft und nach der Schrift regelt, wenn von Neuem 12 Apostel sich erheben, die, ohne in dem einzig[artig]en Verhältnis zu Christo zu stehen, in welchem die ersten Apostel standen, und ohne die Begabung derselben dennoch die gleiche Autorität wie jene ansprechen, und nicht nur in Verbindung mit den neuen Propheten die Auslegung der Schrift in Händen haben, sondern sich erlauben, das Werk da aufzunehmen, wo der Apostel Paulus es gelassen hat, und unter dem Schutz dieser beschönigenden Phrase zu Ende zu führen, wie es ihnen gut deucht. Hier kehrt uns der Irvingismus recht eigentlich seine papistische Seite zu, und seinen Einladungen stellt sich die apostolische Warnung entgegen: Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte, 1. Korinther 7, 23.

Aus: Immanuel Stockmeyer: Kurze Nachricht über den Irvingismus. Basel 1850.

Irvingianer (selten auch Irvingiten) war eine Bezeichnung für die Anhänger der streng hierarchisch organisierten katholisch-apostolischen Gemeinden. Edward Irving (1792-1834), Pfarrer an der schottischen Gemeinde in London, wurde der geistige Vater dieser Bewegung, die vor der Wiederkunft Jesu ein „neues Pfingsten“ erwartete. Man erflehte Gnadengaben, wie z.B. Wunderheilungen und Zungenreden, welche sich auch hier und da ereigneten. Auch wurden katholisch-apostolische Lehren oftmals als Irvingismus bezeichnet. Teilweise werden die vorgenannten Begriffe auch auf die gesamte apostolische Bewegung übertragen. Sie war ein Vorläufer der heutigen Neuapostolischen Kirche (NAK).

Eingestellt am 22. Oktober 2020