An die Gemeinde Thyateira

Thyateira, eine Stadt in Acolien, wo sich frühzeitig, durch die Predigten des Apostels Paulus ergriffen, eine Gemeinde gebildet hatte, ist wahrscheinlich (wenn wir den mystischen Sinn des Namens der Gemeinde und den Charakter Jesu berücksichtigen, in welchem Er vor dieselbe hintritt, und vorzüglich was Er derselben bemerkt) die abendländische Kirche vor, in und nach ihrer Reinigung durch die Reformation.

In Beziehung auf den Namen ist bemerkenswert, daß er einen Gebrauch andeutet, der diese Kirche vor allen andern auszeichnet. Hesichius sagt: Thya, Θυα seien kleine Flädchen gewesen, welche den Göttern geopfert worden. Teirein, τειρειν bedeutet „zerreiben, aufgehren“. Thyateira ist also die Esserin (oder Verzehrerin) von Opferflädchen. Welcher Kirche kann nun diese Benennung zugeeignet werden, außer der römisch-katholischen, die bei dem H. Nachtmahl in kleinen Opferflädchen vorgibt, den wirklichen Leib Jesu Christi Gott zu opfern, Ihm denselben vorweist und dann verzehrt, was die orientalischen Kirchen nicht tun, weil sie nur gewöhnliches Brot beim H. Nachtmahl, um sich im Glauben Jesu Kreuzestod zuzueignen, gebrauchen. Auch der Charakter, den unser Herr in diesem Briefe annimmt, scheint dahin zu weisen. Er nennt sich feierlich, wo Er dem Oberpriester dieser Kirche gegenübertritt, wie einst im Gerichtssaal vor dem Hohenpriester der Juden – „den Sohn Gottes, der Augen hat wie eine Feuerflamme und Füße wie Chalkolibanos – wie im Ofen glühend gemacht.“

Da steht nun der Sohn Gottes dem vorgeblichen Statthalter Gottes, der sich selbst wie ein Gott in den Tempel Gottes gesetzt (s. Dan. 11 u. 2. Thess. 2.) hat, gegenüber, als Richter von ihm und allen seinen Einrichtungen, um ihm einen Wink zu geben, daß er nicht frei handeln dürfe, sondern in allen Dingen von Ihm, dem Sohne Gottes abhängig sei, und seine Aussprüche nie rechtfertigen könne, wenn sie nicht von seinem Gesetze gebilliget werden. Er nennt sich den, der Augen hat wie eine Feuerflamme, um in seinem Bilde lebendig darzustellen, daß es eitler Wahn sei, Ihn durch den äußerlich blendenden Glanz der Kirche und ihrer Gebräuche und den frommen Schein und die Gebets- und Gesangsübungen und gesetzlichen Kasteiungen derselben, wodurch die Welt für den Glauben gewonnen werden soll, einzunehmen, da sein Flammenbild bis in die innersten Tiefen des menschlichen Herzens hineindringt. Sein wie in einem Tiegel glühend gemachtes und rein geläutertes Chalkoliban, χαλκολιβάνῳ – das ist, wie das reinste Erz dastehende Füße – das Sinnbild der allein vor Gott gültigen und den armen Sünder rechtfertigenden Gerechtigkeit, erscheinen als ein Bild, das alle eiteln Rechtfertigungskünste, welche diese Kirche aufstellt, als eitles Machwerk der menschlichen Einbildungskraft darzutun bestimmt ist, da Er sich als unser Hoherpriester dem Vater geheiliget hat, damit wir geheiliget seien in der Wahrheit, wie wir schon oben S. 27 etc. bewiesen haben. Wie wichtig sind nicht schon alle diese Winke einer Gemeinde gegenüber, die das Wesentliche im Christentum so oft beseitiget, und hingegen auf das Blendende einen so hohen Wert setzt! Das schöne Zeugnis, das der Herr dieser Kirche nun gibt, beweist, daß Er auch aus dem übertünchten Wesen das viele Gute, das sie stiftet, wohl heraus zu finden weiß.

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Quelle:

Blicke eines alten Knechts, der auf seinen Herrn wartet, in die Offenbarung des HErrn Jesus Christus, die Er gegeben dem Jünger, den ER lieb hatte, dem Apostel Johannes, nebst Hindeutungen auf die Kirchengeschichte, S. 62ff. – Nikolaus von Brunn, J.G. Neukirch, 1832

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