Offenbarung 2, 4

Aber ich habe wider dich, daß du die erste Liebe verlässest. (Offenbarung 2, 4)

Nach dem Lob des Engels kommt sein Tadel; das Wörtlein „Aber“ leitet ihn ein.

„Ich habe wider dich“: Mit diesen Worten drückt der Herr sein Mißfallenaus, ganz  ebenso in den Sendschreiben an die Engel von Pergamus und Thyatira. Du hast die erste Liebe, vollständiger, nach den besten griechischen Handschriften, du hast deine erste Liebe verlassen, ruft der Herr dem Engel rügend zu. Nicht, daß er gar keine Liebe habe, tadelt der Herr; auch nicht, daß er eine relative frühere Liebe nicht mehr habe, sondern daß er seine erste Liebe nicht mehr habe, die Liebe, mit der er einst in das ihm von Gott übertragene geistliche Amt, in den Dienst an der Gemeinde trat. Es gibt zarte Worte in der Bibel, die sich besser durch das Gefühl verstehen, als sich durch die Sprache deutlich machen lassen; zu diesen Worten gehört unser Vers, und besonders der sonst in der ganzen Bibel nicht wiederkehrende Ausdruck: „die erste Liebe“. Aber es ist doch theologische Pflicht, sich auch über diesen mit dem Reiz der Wehmut geschmückten Ausdruck gedankenmäßig und sprachlich klar zu werden.

Es wird ausgelegt, daß die erste Liebe zu Christo gemeint sei und an Jeremias 2, 1.2 erinnert:

„Des Herrn Wort geschah zu mir und sprach: Gehe hin und predige öffentlich zu Jerusalem und sprich: So spricht der Herr: Ich gedenke, da du eine freundliche, junge Dirne und liebe Braut warst, da du mir folgtest in der Wüste, im Lande, da man nichts säet.“

Über all’ dem eifrigen Tun und Mühen für die Gemeinde, über all dem Kampf mit den Bösen und Verführern ist das einst brautähnliche Verhältnis zum Herrn, das Pflegen der täglichen und stündlichen Gemeinschaft mit Ihm, das tägliche Gebet:

„Ich bin dein,
sprich du darauf dein Amen,
treuster Jesu, du bist mein,
drücke deinen süßen Jesusnamen
brennend in mein Herz hinein“

in Vergessenheit geraten; das Herz ist gegen den Herrn kälter geworden unter der rauen Alltäglichkeit der geistlichen Arbeit und Mühe. Irgendwelche Liebe zum Heiland ist ja noch immer vorhanden, das beweist die Arbeit um des Namens Christi willen; aber die erste Innigkeit des Liebesverkehrs mit dem Heilande ist dahin.

Andre Ausleger verstehen die erste Liebe, die der Herr an dem Engel vermisst, von der Liebe zu den Brüdern; die Wärme des Herzens, mit der der Engel einst seine Gemeinde begrüßte, hat im Laufe der Zeit unter den trüben Erfahrungen mit den unlauteren Elementen einem kühlen, vorsichtigem, wenn nicht mißtrauischem Behandeln
der Brüder Platz gemacht.

Aber es steht kaum etwas entgegen, daß wir die erste Liebe nicht als Liebe zum Herrn und zu den Brüdern in eins fassen dürfen; vielmehr hängt die Bruderliebe mit der Heilandsliebe so eng zusammen, daß sie bei einem Christen, zumal bei einem christlichen Prediger, gar nicht getrennt gedacht werden können. Es ist etwas Großes und Herrliches um die erste, volle, frische Liebe eines Geistlichen zu Gott und Christo, zu seinen Brüdern und Zuhörern; und wo sie einem im Leben begegnet, geht einem das Herz auf.

Jungen Geistlichen, die sich in solche „erste Liebe“ versenken wollen, kann nicht lebhaft genug die Lektüre einiger klassischer Biographien von Geistlichen empfohlen werden; ich nenne nur die vortrefflichen Büchselschen Erinnerungen eines Landgeistlichen und das nicht minder vortreffliche Beyschlagsche Buch: Aus dem Leben eines Frühvollendeten. Auch das bekannte Kirchenlied: Fahre fort, fahre fort, Zion fahre fort im Licht! gibt eine bedeutsame Illustration der ersten Liebe und Bewährung in ihr den Zeilen:

„Laß die erste Liebe nicht,
suche stets die  L e b e n s q u e l l e ! “

Ist die erste Liebe zum Herrn und der Gemeinde beim Amtsantritt gar nicht vorhanden, wie bei den leidigen Brottheologen; ist die erste Liebe zwar vorhanden gewesen, als man in das Amt trat, aber im Laufe der Amtsjahre mehr oder minder schnell vermindert, verkrüppelt, verloren: so kann man zwar immer noch ein sehr amtseifrige Prediger, ein zündender Redner, ein bedeutender Vereinsmann, ein streitbarer Theologe sein, aber der Schmelz ist hin, der undefinierbare Duft des Lebens, der das geistliche Amt umhauchen muß, wenn es das schönste Amt auf Erden bleiben soll, der Duft ist hin; die Amtsführung bekommt etwas Mechanisches, Freudloses und auch schon bei jungen Jahren des Amtsträgers etwas Seniles.

Es ist ein trauriges, aber leider nur zu häufiges Ding, das Lassen und Verlassen der ersten Liebe. Es ist nicht wahr, daß das Älterwerden daran Schuld ist; keinem Stande schadet das Älterwerden weniger, als dem geistlichen Stande; und es gibt Gott sei Dank Geistliche im weißen Haar, die ihren Heiland und ihre Gemeinde noch flammender lieben als einst im braunen Haar. Die Schuld beim Verlassen der ersten Liebe liegt an nichts Äußerlichem, sondern sie liegt tief innerlich am Menschen selbst; er hat über all dem Pflanzen, Säen, Begießen, Beschneiden in dem großen Garten, über den er gesetzt ist, unverantwortlicher Weise versäumt, für die schönste Blume seines Gartens Sorge zu tragen.

(Carl Emil Wilhelm Quandt)


Eingestellt am 16. Oktober 2023 – Letzte Überarbeitung am 25. Oktober 2023