Jesus Christus spricht:
Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und wer da lebt und glaubt an mich, wird nimmermehr sterben in Ewigkeit. Glaubst du das?
(Johannes 11, 25b.26)
Zu den Friedhöfen geleitet uns das heutige Fest. Zwischen den Gräbern feiern wir’s im stillen Geiste. Wir treffen derselben viele noch naß von bittern Schmerzenstränen. Andere betaut die Wehmut heute neu, und schmückt sie mit frischen Cvpressenkränzen. Über alle aber dröhnt, vernehmlicher heute, als wohl sonst, ein ernster Posaunenhall zu uns herüber. Versteht ihr seinen Ruf?
Er lautet: „Bestelle dein Haus, denn auch du mußt sterben!“
Unter solchen Umständen wird uns ein Wort, wie das eben vernommene, doppelt willkommen sein. Selbst der zum Glauben minder Geneigte weist uns mit solchem Klange wohl nicht von seiner Tür, sondern wird zu uns sprechen: „Euer Gruß ist süß; tretet näher, daß wir ihn uns bei Licht besehn!“
Wir willfahren mit Freuden diesem Wunsche.
Wer unser Texteswort sprach, wißt ihr; der König der Wahrheit ist’s. Am Grabe des Lazarus sprach er’s, und zwar zu der weinenden Martha. Aber weit über Lazari Gruft hinaus solle es seine Flügel schwingen, und Millionen die selige Botschaft überbringen, die es als einen unvergleichlichen Schatz in seinem Schooße trägt. Auch zu uns drang’s durch, und heute kommt es zu uns auf’s neue; und nicht wahr, gern neigen wir ihm Ohr und Gemüte?
Ja, Großes sagt es aus, das Wort; aber es sagt es nicht von Allen. Der Herr bezeichnet diejenigen ausdrücklich, denen des Wortes Inhalt ausschließlich gelte.
„Sie sind es“, sagt Er, „die da leben und glauben an mich!“
Merkt wohl, nicht sagt er: „die nur glauben“, sondern: „die da glauben an Mich.“ Zwei kurze Silben nur; aber sie verraten uns den Mann, der sie ausspricht. Denn wer dürfte so sprechen, der nicht das Bewußtsein in sich trüge, daß er nicht allein das Haupt der Menschheit, sondern zugleich der gottgleiche Sohn des ewigen Vaters sei? Was es aber heiße, an Ihn glauben, sagt euch die Efeuranke, die, hilflos in sich selbst, sich an die Ulme klammert; es sagt’s euch deutlicher das Bild des Mondes, der nur im Schein der Sonne strahlt, und in deren Lichtglanz selig niedertaucht; es sagt’s euch am umfassendsten das Kind an seiner Mutter Brust, das, ganz an diese hingegeben, selbst keine Sorge kennt, sondern alle Sorgen der Mutter überläßt. Das hebräische Wort für „Glauben“ bezeichnet in seiner Grundbedeutung ein „Getragenwerden auf den Armen einer Amme.“
In wem nun aber dieser Glaube wohnt, der lebt in dem Sinne, in welchem der Herr hier das Wort versteht. Er lebt ein höheres Leben als das der Natur. Der Geist des Herrn hat ihn vom Dienst des Fleisches und vergänglichen Wesens frei gemacht. Er lebt, doch nicht er, sondern Christus lebt in ihm; und er wird nach dem Worte des Herrn auch „nimmermehr sterben.“ –
Wie, der Gläubige stürbe nicht? Nein, der Mund der ewigen Wahrheit bezeugt es. Von der Unsterblichkeit der Christen laßt uns näher handeln. Es wird sich uns dieselbe als eine fünffache zu erkennen geben. Begleite der Herr unser Wort mit seinem Segen!
I.
Es gibt zunächst ein geistiges Sterben, das bei Unzähligen dem Tode des Leibes voraneilt, und beklagenswerter heißen muß, als dieser. Da wird der alternde Leib zum Mumiensarg des Geistes, den er beherbergt, und der Mensch steht unter der Last seiner Jahre da als ein Baum, nicht „an Wasserbuchen gepflanzt“, sondern der ausgelebt seine welken Äste senkt, und, weil er Früchte nicht mehr zu bieten hat, geschweige neue Reiser oder gar Blüten treibt, nur das Land noch hindert. „Er ist abgenutzt“, sagt man, „er ist auf!“ – Schreckliche Bezeichnungen dies; aber man trifft damit die Sache. Die Interessen eines solchen Menschen sind bis auf das kleinlich-egoistische für die Erhaltung seiner selbst, und etwa dessen, was er sich zu erwerben wußte, gänzlich erloschen. Bekleidet er noch ein Amt, so betreibt er’s lässig und mechanisch. Die lange Gewohnheit hat den letzten Rest des Eifers für dasselbe in ihm abgekühlt. Besitzt er noch Freunde, so werden sie ihm täglich entbehrlicher, weil er sich mehr und mehr engherzig auf sich selbst zurückzieht.
Hört er von dem Gange, den die Weltgeschichte nimmt, wie gleichgültig ist ihm das, so lange er nicht persönlich davon berührt wird! Resigniert und unmutsvoll spricht er mit Salomo: „Es geschieht nichts Neues unter der Sonne“, aber ohne zu ahnen, daß dem Salomo bei diesem Worte nur menschliches Tun und Unternehmen vor Augen schwebte. Mit demselben Könige Israels seufzt er: „Alles ist eitel!“ – aber das erkennt er mit ihm nicht, was nicht eitel ist. Er klagt mit dem Apostel: „Der äußere (d. i. der seelische) Mensch verwest“ – aber er vermag nicht freudig mit ihm hinzuzufügen: „Der innerliche wird von Tage zu Tage erneuert!“ – Er zieht – je länger je mehr – eine herbe Säure in seinem Herzen. Er wird stumpf und ungenießbar. Als ein kahler Stamm steht er da; als eine versiegte Quelle wird er erfunden. O, wie Viele trifft das Los solcher geistigen Verödung! Ja, mehr oder minder trifft es mit den vorrückenden Jahren Alle, denen das Leben, das aus Gott ist, fremd blieb: seien sie Prediger, Gelehrte, Dichter, oder Leute anderen Berufes. Sie zehren dann wohl noch von dem verschimmelten Brote ihrer früheren Tätigkeiten und ihres einstigen Ruhmes; aber sie haben der Welt kein Brot mehr zu brechen, sondern stehen ihr nur noch im Wege. Man sagt von ihnen: „Sie überlebten sich selbst“, und sie gehen wirklich nur noch dahin als ihre eignen Schatten und Phantome.
Vor solchem Hinwelken an Geist und Gemüt, wie an fruchttreibender Kraft und Frische, sind die wirklich Gläubigen des Herrn ewig gesichert. Ihnen gehört das verheißungsreiche Wort des 92sten Psalms: „Die gepflanzt sind im Hause des Herrn, werden in den Vorhöfen unseres Gottes grünen. Noch im Alter werden sie Frucht tragen, saftig und frisch sein, um zu verkündigen, daß der Herr fromm ist, mein Hort, und ist kein Unrecht an Ihm“.
Grün erhält sich in ihnen das Interesse am Leben: denn sie haben das Leben nur, um es je länger je mehr vom Geiste des Herrn und zu seiner Ehre durchdringen und verklären zu lassen. Grün bleibt ihre Teilnahme an der Geschichte des Tages: denn sie belauschen in Allem, was sich begibt, die Tritte dessen, der ihre Liebe ist, und sehen mit Wonne z. B. im Missionswerk das unaufhaltsame Kommen seines Reiches. Grün erhält sich in ihnen der Tatentrieb: denn die Liebe Christi dringet sie, so lange ein Odem in ihnen ist, Seiner Sache zu dienen. Grün ihre Empfänglichkeit für alles wahrhaft Große, Edle und Schöne: denn ihr Herz schlägt sehnsuchtsvoll der Welt des Vollkommenen entgegen. Grün ihr Mut und ihre Hoffnung: denn sie stützen sich auf Verheißungsworte, die nicht wanken. Grün ihr Gefühl für Freundschaft: denn sie wissen sich mit denen, die sie lieben, für die Ewigkeit verbunden. Der Sonnenschein der Heiterkeit erlischt nicht mehr in ihrem Innern: denn in ihren Herzen regiert der Friede Gottes. Unmut und Langeweile beschleichen sie nicht mehr: denn täglich erleben sie Neues: seien es überraschende Entdeckungen in Gottes Wort, oder Erfahrungen der Nahbeiheit und Liebe ihres Herrn, oder Erhörungen ihrer Gebete, oder was sonst es sei. So bleiben sie nicht bloß ein Salz und Segen für ihre Umgebung; sie werden ein solches sogar nur noch mehr und mehr. „Der alte Wein ist milder,“ sagt der Herr. Ein greiser Barsillai, oder ein betagter Simeon, oder eine alte Hanna, die unter den Weihnachtsjubeln wieder jung ward: solche edlen Bäume, ob auch der Schnee des Alters ihre Wipfel deckt, wie sind sie mit ihren Erfahrungs-, Weisheits- und Friedensfrüchten noch in so hohem Grade ihrer Stelle wert! Neigt sich der Tag dieser an Gottes Wasserbächen gepflanzten Frommen, so neigt er sich wie die Sonne, die mit ihrem Abendrot fast mehr noch wohlthut und erquickt, als mit den grelleren Strahlen ihres Morgenglanzes. Sie altern nicht nach dem inwendigen Menschen. Sie haben schon hienieden einen Trunk aus einem höhern Lebensborn gethan. Ihr Herbst gleicht dem Herbste des Weinstocks: wenn schon der Reis auf seinen Blättern blitzt, ist die Süße seiner Trauben erst vollkommen.
II.
Nein, wem Christus das Leben geworden ist, der überlebt sich nicht, und wird kein unfruchtbarer Baum. Und wie er geistig nicht abstirbt, so stirbt er auch nicht – und dies ist eine neue Seite seiner Unsterblichkeit – in dem liebenden und segnenden Angedenken derer, mit denen er verkehrte. Ihr wißt, daß insgemein nichts leichter vergessen wird, als ein Mensch. Selbst Bande des Blutes und natürlicher Sympathie und Liebe gehören dem Reiche des Erblühens und Verwelkens an. Dazu sagt das Sprichwort, durch die Erfahrung bestätigt: „Undank ist der Welt Lohn!“
Tausende verlassen den Schauplatz der Erde, und schon nach kurzer Frist ist ihre Stätte nicht mehr gekannt. Selbst die Bilder der Eltern erlöschen mit der Zeit in der Kinder Herzen, so wie der Freunde Bilder in den Herzen der Freunde, wenn die Freundschaft nicht in Gott gegründet war, ja, die Bilder der Gatten in den Herzen ihrer Hinterbliebenen Lebensgefährten. Aber wer uns als Leuchtturm diente bei der Sturmesfahrt des Lebens, wer durch Vorhang und Wort den Weg uns bezeichnete, auf dem wir dem Sündenfluch entrannen, wer uns dem Manne in die Arme führte, auf welchem allein wir das Schloß unsrer Hoffnung stehen sehn; mit einem Worte: wer als Werkzeug der göttlichen Gnade die Seele uns retten half, dessen Name und Bild ist unauslöschlich unserm Gedächtniß eingeprägt. Nur Jüngern des Herrn, von denen „Ströme lebendigen Wassers“ ausgegangen, ist die Unsterblichkeit in der Erinnerung der Liebe gesichert. Ihre Bilder werden über Grab und Tod hinaus mit fortgetragen. Kein Goethe, kein Schiller lebt im Angedenken so für alle Ewigkeiten fort, wie z. B., – daß ich im Kreise unsrer näheren Befreundeten verbleibe, – ein Woltersdorf, ein Spener, ein Schade, ein viel verkannter Jänicke, und wie sie weiter heißen, die Jünger, die in dieser Gegend einst so Manchen die Fackel gen Zion vorgetragen. O, wenn Tausende von glänzenden Namen längst verklungen sind, wird man die ihrigen noch mit Dank und Rührung am Thron Gottes nennen hören. Nein, sie sterben auch insofern nicht, die Heiligen des Herrn, als das Grab der Vergessenheit sie nie verschlingen wird.
III.
Sie sterben nicht in ihrem Bewußtsein. Auch dies besagt das Wort des Textes in seiner dritten Bedeutung. Es ist ein Großes! Der bittre Tropfen, der in Gestalt des Gedankens: „Heute oder morgen ist’s um dich geschehn!“ Anderen das Leben vergällt, schwimmt in ihren Kelchen nicht. Der böse Wurm, der, verkleidet in das Bewußtsein: „der Tod lauert mit schon gehobener Sichel hinter meiner Tür!“ Anderen jede Glücks- und Freudenblume zu zernagen pflegt, läßt sie unberührt. Sie sind über die Frage: ob, Vernichtung, ob Fortdauer? längst hinaus. Sie belassen den Philosophen den Schweiß ihrer Grübeleien, den Skeptikern die Disteln- und Dornenernte ihrer Zweifel. Unfehlbare Bürgschaft und Gewähr für die Unsterblichkeit gibt ihnen schon die Erscheinung einer geheiligten Persönlichkeit, wie die Persönlichkeit Christi war, die ihre Bestimmung, ewig zu bleiben, in sich selber trug; mehr gibt sie ihnen die göttliche Sendung dieses Herrn vom Himmel in die Welt, die ja ein Unsinn gewesen wäre, beschränkte sich unsre Bestimmung lediglich auf den flüchtigen Traum unsres zeitlichen Daseins; noch reichlicher gewährt ihnen diese Bürgschaft des Herrn ausdrückliche Versicherung: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben“, so wie Sein wundertätiges Herantreten an die Gräber der Verwesenden, und namentlich Sein mächtiges: „Komm heraus!“ an Lazari Gruft, auf das der Tote wieder lebte und auferstand.
Und was ihnen die stärkste Gewähr für ihre Hoffnung leistet, ist die mächtiger als irgend eine andere besiegelte Tatsache Seines eigenen Durchbruchs durch des Todes Bande am dritten Tage; dann Seine Auffahrt vierzig Tage nachher; dann Seine Beteuerung: „Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten,“ und endlich sind’s die Wunder Seines verherrlichten Lebens aus der unsichtbaren Welt her in der Ausgießung des heiligen Geistes, in der Salbung Seiner Knechte, in der Gründung Seiner Kirche, und in der Erneuerung der moralischen Welt. Seht, auf geschichtlichen Tatsachen, und nicht auf Vernunftschlüssen und Philosophemen ruhn die Gläubigen des Herrn mit ihrer Lebenshoffnung. Sie stehen auf Felsen, und sind, was keine Philosophie ist, im Harnisch ihrer auf Realitäten sich stützenden Gewißheit auch der Macht des Sterbedunkels, der Grabesschauer, ja selbst des Verwesungsgeruches vollkommen gewachsen. Sie wissen wohl, daß ihr Leib zerfallen muß; aber ein Ablegen des bestäubten Pilgermantels, auf daß man in schönerer Gewandung in den Thronsaal Gottes trete, nennen sie nicht sterben. Sie verhehlen sich’s nicht, daß der Tod ein Kampf sei, und ein Weh, aber sie heißen nicht Tod des Auffahren des Phönix in verklärter Gestalt, ob es auch aus der Feuerflamme heraus geschehe, ja aus der eigenen Asche. Sie wissen sich nicht nur als die nicht Sterbenden, sondern zugleich als die Heimziehenden in gerader Bahn, als die Wallfahrtenden nach Jerusalem. Sie leben und bleiben leben in ihrem Bewußtsein, und was die Welt ihren „Tod“ nennt, nennen sie heiter ihren Eingang in’s ersehnte Vaterhaus. So wallen sie hin, gefaßt, vergnügt und froh in zweifelsfreier Hoffnung. O was kann Herrlicheres einem Menschen werden, als dies? Welch‘ lieblich Los, das uns gefallen ist!
IV.
Und wie sie sich selbst nicht sterben, die Kinder Gottes, so sterben sie auch ihren Lieben nicht. Dies eine vierte Art ihrer Unsterblichkeit. Sagt, was ihr wollt: die nicht in dem Herrn sterben, die habt ihr doch nicht mehr so recht, wenn sie von dannen zogen. Wenn sie so mitten aus ihrem irdischen Treiben hinweggerufen wurden, glaubenslos und entblößt von aller himmlischen Gesinnung: o, ich sehe wohl, wie ihr sie auch dann noch an ihren Särgen und Gräbern mit eurer Hoffnung als die nicht Toten, sondern als die selig Lebenden festzuhalten euch bemüht; aber ich sehe auch, wie matten und unsichern Fluges eure Hoffnung ihnen nachfährt. Gleich einer Rauchsäule hebt sie sich empor; aber nur, um wie diese, schon auf dem halben Wege zu den Wolken sich vom Winde erfaßt, und gewaltsam zurückgeworfen und hin und hergetrieben zu sehen. Trotz eures: „Wie sie so sanft ruhn“, will doch die Zuversicht, als sähet ihr die Abgeschiedenen am Stuhle Gottes stehn, so recht nicht in euch Wurzel schlagen.
Wie so ganz anders blickt ihr ihnen nach, wenn sie festgeklammert im lebendigen Glauben an Den, der die Auferstehung und das Leben ist, mit einem Heimweh atmenden: „Ich habe Lust abzuscheiden, und bei Christo zu sein!“ oder mit einem zweifellos gewissen: „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf!“ als die hoffnungsfrohen Glaubenskinder ihre Augen schlossen!
Dann – man erfährt es hundertmal, – kann auch der Zweifel der Ungläubigen nicht umhin, die Waffen zu strecken; und selbst Solche, die sonst über Alles, was „jenseitig“ heißt, den Kopf zu schütteln pflegen, erwehren sich nicht mehr des Eindrucks: „diese Entschlafenen leben, ja, müssen leben, und zwar selig!“ O Scheidende dieser Gattung, – wer hat’s nicht schon erlebt? – werfen selbst den Freigeistern für eine Weile ihre künstlich aufgebauten Systeme übereinander, und zwingen sie, wenn auch momentan nur, zum Glauben an Fortdauer und Ewigkeit. Die Hoffnung der Gläubigen aber schwingt sich Heimgehenden der eben bezeichneten Art geradesweges, und durch nichts gehemmt, durch die Wolken und die Tore der Gottesstadt nach, und besitzt sie dort so fest, so sicher, so reell, als wäre eine Trennung gar nicht vorgegangen. Es ist unmöglich, daß sie sich die Entschlafenen anders denken, als lebend bei dem Herrn, und wandelnd unter den ewigen Friedenspalmen. Ja, sie leben mit ihnen im Geiste fort, und es will ihnen manchmal werden, als sei es ein zarter Schleier nur, der sie von ihnen scheide, ja als könnten sie sich mit ihnen, wie weiland, noch traulich unterreden. Wie freuen sie sich auf den täglich näher tretenden Moment, da sie ihnen wieder in’s verklärte Antlitz schauen, und mit dem Wonnerufe sie begrüßen werden: „So liegt nun, was Leid und Geschrei heißt, ewig hinter uns, und die letzte Träne ist getrocknet von unsern Wangen!“
V.
Aber hat solche Aussicht wirklich Grund? Gewisseren und festeren als irgend Etwas auf der Erde. „Wer da lebt, und glaubet an mich“, spricht der Mund der Wahrheit, „der wird nimmermehr sterben“. Das heißt nicht bloß: „Er dauert jenseits des Grabes fort“. Solches versteht sich für den, der jene Worte spricht, von selbst. Er will nur sagen: „Ein Solcher stirbt auch nicht des ewigen Todes; sondern das ewige Leben, das Leben der Seligkeit, wird ihm beschieden sein!“. Ist der Tod der Sünde Sold, so ward dieser Sold für ihn bezahlt. Paulus spricht bedeutsam: „Ist Einer statt Aller gestorben, so sind sie Alle gestorben. Tod, wo ist dein Stachel?“ – Ist Gerechtigkeit die Bedingung des Eintritts in die Behausung der Seligen, so gebricht es denen, welche glauben, an dieser Gerechtigkeit nicht. „Gott hat den“, lesen wir, „der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir in Ihm würden die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“. Wer an Ihn glaubt, aus dessen Leben ist der Tod in jeglicher Gestalt hinweggenommen. Schlägt seine Stunde, so ist es nicht mehr der Schreckenskönig, der an sein Lager tritt, sondern gar ein Anderer. Der selbst löset ihm mit mütterlicher Hand des Leibes Bande, der den Seinigen die Versicherung gab: „Ich werde wieder zu euch kommen, und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo Ich bin“. Er drückt seinen Kindern die Augen zu, und sie entschlafen sänftlich in Seinen Armen. Und nun nicht etwa erst ein Seelenschlaf! Der arme Lazarus wird geradeswegs dahin getragen, wo Abraham, Isaak und Jakob miteinander zu Tische sitzen. Und nicht etwa erst ein dunkler Mittel- und Warte-Ort! „Wahrlich, ich sage dir“, sprach Er, der in der jenseitigen Welt zu Hause war, zum Schächer, „heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“ – Und auch nicht etwa erst ein Dahinschweben in nackter Geistigkeit! – „Wenn das Haus dieser Hütte zerbrochen wird“, sagt Gottes Wort, „so haben wir einen Bau (ein Organ), von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel“.
Nein, von Stund an verwirklicht sich nun das süße Bild der Offenbarung:
„Die ihre Kleider wuschen und helle machten im Blut des Lammes, sind vor dem Stuhle Gottes, und dienen ihm Tag und Nacht; und der auf dem Stuhle sitzt, wird über ihnen wohnen. Sie wird nicht mehr hungern, noch dürsten; es wird auch nicht auf sie fallen die Sonne, oder irgend eine Hitze. Denn das Lamm, das in der Mitte des Stuhles ist, wird sie weiden, und sie leiten zu lebendigen Wasserbrunnen. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“
Seht, in welch überschwänglich reichem Sinne es wahr ist, daß „wer da lebe, und an Christum glaube, nimmermehr sterben könne!“ – Ja, „Christus hat dem Tode die Macht genommen, und Leben und unvergängliches Wesen an das Licht gebracht!“ – O verschlinge denn Sein Leben auch in uns den Tod, und mache Sein heiliger Geist uns tüchtig, mit dem Apostel frohlocken zu können:
„Ich lebe; doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir!“
Amen.
(Friedrich Wilhelm Krummacher)
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