Jesaja 1, 3

Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt’s nicht, und mein Volk vernimmt’s nicht. (Jesaja 1, 3)

Wie lernt ein Tier seinen Herrn kennen? Wenn er es mißhandelt, flieht es vor ihm. Sorgt er dagegen für sein Tier, so folgt es ihm willig. Am Wohltun erkennt das Tier seinen Herrn. Auf dieselbe Weise kam Israel zur Erkenntnis Gottes; Er hat ihm wohlgetan. Was hast du, das du nicht empfangen hast? Warum kennt Israel Gott dennoch nicht? Wir Menschen können Wohltaten empfangen und undankbar sein. Das kann das Tier nicht, weil es in der Regel der Natur bleibt. Der Mensch kann dagegen die Natur in sich zerstören und er zerstört sie, indem er die Gabe empfängt und den Dank verweigert.

Wie kann nun das undankbare Volk aus seiner Unnatur und Undankbarkeit herausgezogen werden? Neue Wohltat wirbt mit verstärkter Kraft um den Dank, und herrlichere Gabe pocht an die verschlossene Tür des Herzens und versucht sie zu öffnen. Weil Israel das nicht konnte, was der Ochse und der Esel können, gab Gott ihm seinen Sohn. Wir sind aber alle eines Geblüts und tragen dieselbe Art an uns. Israel ging nicht eigene Wege in dem Sinn, daß es in sich eine Not erzeugte, die niemand als ein Jude fertig bringt. Sie quält uns alle. Auch mir zeigt dieses Wort mein Bild. Wir nehmen die natürlichen Gaben hin als unser selbstverständliches Recht, danken nicht und kennen den Geber nicht. Die eigensüchtige Begehrung bäumt sich auf und verfährt mit dem natürlichen Gut, als wäre es ihrer Macht unterworfen, und verleugnet den, der sie uns gab.

Darum bedarf ich noch einer größeren Gabe, und sie ist uns geschenkt. Gottes Sohn kommt zu mir, bringt mir sein Vergeben, bringt mir seine Gemeinschaft, bringt mir seinen Geist. Nun aber, Herz, sei dankbar. Wenn du auch jetzt nicht kannst, was der Ochse und der Esel können, dann bist du tot.

Gottes größte Gabe, Jesus, das bist Du. Gottes hellstes Wort, Jesus, das bist Du. Schaffende Wundermacht der Gnade, Jesus, das bist Du. Deinen Namen nenne ich, damit meine Seele erwache zu Gottes Preis.

Amen.

(Adolf Schlatter)

Quelle: Glaubensstimme – Die Archive der Väter

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In dem vorhergehenden Vers hat der Psalmist unsere Undankbarkeit angeprangert, die wir uns doch für gerecht und heilig halten. Jetzt sagt er, was von unserem freien Willen und unserer Weisheit zu halten ist. Beides gereicht uns zu äußerster Schande, weil nach göttlichem Ausspruch wir nicht einmal einem Ochsen oder Esel gleichen. Er zieht die beiden uns Menschen ganz und gar vor, weil jene ihre Schuldigkeit gegenüber ihren Herren tun, wir aber unserer Pflicht vor Gott nicht nachkommen. Deshalb sollten wir vor den Ochsen und Eseln den Hut ziehen. Sie sind unsere Lehrmeister, indem wir sehen, daß sie uns von Gott vorgestellt werden, damit wir an ihnen lernen, wie wir vor unserem Gott Ehrfurcht haben sollten.

Dies ist nämlich die Weisheit und Frömmigkeit der Menschen, die von Gott abgewichen sind: Obgleich sie in ihren Augen weiser sind als alle Menschen, sind sie im Grunde dümmer als Ochsen und Esel, denn was kann an Weisheit übrig bleiben, wenn man Gott nicht kennt (vgl. Jeremia 8, 9)? Aber wie ich oben schon gesagt habe, glaubt das niemand, außer denen, die aus Gott sind. Denn solche erkennen ihre Sünde und bitten Gott um Vergebung.

(Martin Luther)

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Gottes Tat der Barmherzigkeit, diese Annahme nach freier Wahl, durch die der Same Abrahams und die Stämme Jakobs unter der Führung Gottes und unter dem Segen des Allmächtigen selbständig geworden waren, werden nun von den groß und stark gewordenen Söhnen verleugnet.

Verwandtes kann man nicht einmal in der gewöhnlichen Schöpfungsordnung finden. Da „kennt der Ochse seinen Eigner und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel jedoch erkennt nichts, mein Volk hat sich nicht begriffen“, spricht die Offenbarung in ihrem tiefen Schmerz. Denn Israel-Juda hat seine Berufung, „mein Volk“, Gottes heilige Priesternation unter den Völkern zu sein, nicht erkannt und begriffen. Es schämt sich seines Vaters, entzieht sich dem Walten seines Gottes und glaubt sich stark genug, selbst sein Wohl und seine Zukunft schaffen und gestalten zu können.

Als aber Israel erst blind war für seine Berufung zum Erstgeborenen, für seine Abhängigkeit von Gott und für seine Ohnmacht innerhalb der Völkerwelt, da sah es auch nicht mehr seine gegenwärtige Gefahr und den Untergang seiner Zukunft. Wird der Mensch erst blind für sein Verhältnis nach oben, dann wird er auch blind für alles Geschehen auf Erden. Das war je und je der große Sündenfall nicht nur der ersten Menschen, sondern auch der jedes Volkes innerhalb der Geschichte: sobald es sich in seiner Unterscheidung von „gut“ und „böse“ erst löste von der göttlichen Offenbarung,
aß es von der Frucht, die nicht zum Leben, sondern zum Tode führte.

(Jakob Kroeker)

Bibeltext: Luther 1912 (bibeltext.com)

Eingestellt am 12. Juni 2022