3. Wanderjahre im engeren und weiteren Vaterland

Leben und Wirken von Christian Gottlob Barth (1799-1862)

Das Leben des württembergischen Theologen ist zunächst nach der Universitätszeit gewöhnlich ein unstätes und flüchtiges, auch wenn er keinerlei Cainsschuld auf dem Gewissen hat als etwa die, daß er hinter seinem Stiftspult manchen Philosophen und Theologen aus alter und neuer Zeit abgeschlachtet, ja ihm das Recht zur Existenz abgesprochen hat. Zuerst als simpler Vikar, dann auf der etwas höheren Stufe eines Pfarrverwesers wird er gesandt bald hierhin, bald dorthin, vom Unterland in den Schwarzwald, vom Schwarzwald ins Ries und vom Ries ins Zabergäu, und darf nicht Nein sagen, sondern wenn das Consistorium zu ihm spricht: „geh hin!“, so geht er, oder „komm her!“, so kommt er.

Das hat auch Barth in seinem Theil erlebt. Zuerst fand er eine Stätte seiner Wirksamkeit in Neckarweihingen, einem Dorf am Neckar unweit Ludwigsburg. Wir haben über seinen Aufenthalt daselbst keine ausführlichen Nachrichten, er sagte aber später selbst darüber: „Das schwere Gewicht des Amts wurde mir immer mehr aufgedeckt, und ich fühlte mich getrieben, Einen aufzusuchen, der mir tragen helfe. Auf Golgatha habe ich ihn gefunden. Der Aufenthalt in Neckarweihingen war wenigstens für mein Herz gesegnet“. Daß auch die Gemeinde durch ihn gesegnet wurde, ist gewiß. Die Kirche füllte sich so sehr, daß man daran denken mußte, mehr Platz zu schaffen, Bibelstunden, die er die Woche über hielt, fanden ebenfalls ungewöhnlichen Anklang, und als er dann die erste Missionsstunde in dieser Gemeinde hielt, da zeigten die Leute auch hiefür viel guten Willen und Eifer. Mit manchen Familien der Gemeinde ist Barth bis an sein Lebensende in freundschaftlichem Verkehr gestanden, und das ist der beste Beweis dafür, daß seine Wirksamkeit daselbst nicht bloß in die Breite, sondern auch in die Tiefe gegangen ist. Insofern war es fast schade, daß er schon nach einem Vierteljahr, im Februar 1822, von Neckarweihingen weg als Pfarrverweser nach  D o r n h a n  auf dem Schwarzwald gerufen wurde. Der Schwarzwald hat ihn von dort an Zeitlebens festgehalten, kürzere oder längere Reisen abgerechnet. Ungemein rasch gewann er auch in Dornhan die Liebe und das Vertrauen der Leute, es war, als eroberte er die Herzen im Sturm. Das zeigte sich sogleich am Kirchenbesuch. Zwar, die erste Predigt war ein völliges Räthsel für die Leute, so neu war ihnen ein aus der Tiefe geschöpftes Zeugniß vom Evangelium. Sie hörten, stutzten, staunten, aber wußten nicht gleich, was damit anfangen. Sie hatten nur das allgemeine Gefühl von etwas Gewaltigem, Geistesmächtigem, das ihnen hier entgegentrat. Bald ging aber Vielen das Verständniß auf, und auch wo dies nicht der Fall war, wirkte doch die Persönlichkeit mit ihrer jugendlichen Frische und Liebenswürdigkeit, gepaart mit Ernst und männlicher Reife, mächtig anziehend. Die Kirche war sowohl Vormittags als Nachmittags so voll, als sie nur sein konnte, Niemand wollte zu Hause bleiben; auch Leute, welche sonst bloß ein paarmal des Jahrs erschienen, wurden jezt regelmäßige Besucher und versäumten selbst die Wochengottesdienste nicht.

Aber nicht bloß von der Kanzel aus wollte Barth wirken. Er sammelte um sich einen Kreis von Männern, welche tiefer in die Heilserkenntniß und das Heilsleben eingeführt werden wollten, andere Zuhörer und Zuhörerinnen fanden sich dazu, und so entstand eine Bibel= und Erbauungsstunde, welche auf seinem Zimmer gehalten wurde und den Leuten fast noch lieber war als der Predigtgottesdienst. Daneben pflegte er mit einem vertrauteren Häuflein von Männern auch sonstige gesellige Unterhaltung, und gar häufig fanden sie sich bei ihm zu gemüthlicher Abendgesellschaft ein, auch wenn gerade keine Erbauungsstunde war. Da hieng an einer Wand seines Zimmers ein ganzes Regiment langer kölnischer Pfeifen und wenn die Männer kamen, so wurde für jeden eine solche herabgeholt, die er sich dann stopfte und in gemüthlicher Unterhaltung rauchte. Bestand dieses Tabakskollegium nicht aus so erlauchten Männern wie dasjenige, das der König Friedrich Wilhelm I von Preußen, Friedrichs des Großen Vater, eingerichtet hatte, so waren doch die Theilnehmer gewiß nicht weniger vergnügt und befriedigt, und der das Ganze leitete, hatte keine fürstlichen Launen, sondern war immer gleich freundlich und liebenswürdig, voll Witz und Humor.

W e i t b r e c h t,  Dr. Barths Leben.

Daß das damalige Landesgesangbuch an guten Liedern nicht reich war und die besten gar nicht oder in verwässerter Gestalt darin waren, wurde schon einmal erwähnt. Da hat nun Barth einmal das Lied Himmelan, nur himmelan in origineller Weise unter die Leute gebracht. Jetzt ist dieses Lied fast jedem Schulkind in Württemberg bekannt, damals aber, als Barth eine Predigt in Dornhan mit dem Vorsagen des ganzen Lieds schloß, war es Jedermann völlig neu, und um so mehr wünschte Jedermann es zu besitzen. Barth versprach, es zu besorgen, aber man müsse ihn machen lassen. Tage und Wochen vergiengen, und die guten Dornhaner begriffen nicht, warum ihr Vikar, der doch sonst wahrhaftig nicht zu den Langsamen gehörte, zum Niederschreiben dieses Lieds so endlos lange brauchte. Mahnte oder drängte aber Einer, so hieß es mit geheimnißvollem Lächeln: „Könnt ihr nicht warten?“ Endlich kam die Lösung des Räthsels in Gestalt einer Anzahl von großen runden Schnupftabaksdosen, auf deren jeder das Lied säuberlich und leserlich gedruckt war. Die Dosen wurden in der Gemeinde vertheilt, und wer keine bekam, hatte Gelegenheit genug, sich das Lied abzuschreiben. Daß aber die Freude der Dornhaner an ihrem Vikar keine bloß oberflächliche war, sondern auf dem Beweis des Geistes und der Kraft ruhte, der von ihm ausging, das zeigte sich bald im ganzen Leben der Leute. Das rohe Fluchen, die wüsten Händel hörten auf; die Beamten bekamen allmählig viel weniger zu strafen und zu schlichten.

Der ganze Ton, selbst in den Wirthshäusern, wurde anständiger, und es machte den Leuten Freude, einander vom Vikar zu erzählen und ihn um die Wette herauszustreichen. Auch auf den Straßen wurde es stiller und ruhiger. Lärmen und Toben ließ nach; ja, es hörte fast ganz auf, und Mancher, der nicht um der Ordnung willen ordentlich werden wollte ,wurde es dem Vikar zu lieb. Um so größer war der Schmerz, als nach elfwöchiger Wirksamkeit die Abschiedsstunde herannahte. Die Dornhaner hatten alles gethan. um ihren geliebten Vikar als Pfarrer behalten zu dürfen, und eine Deputation war bis zum König gegangen, trotz Barths Abrathen, der im Voraus wußte, daß es nicht sein konnte. Alle erklärten sich zu allen möglichen Opfern bereit, wenn sie ihn behalten dürften. Der Eine sagte, seinen schönsten Acker gebe er her; der Andere versicherte, auf sein bestes Paar Ochsen komme es ihm nicht an, aber es half alles nichts. Unter viel Weinen und Schluchzen der versammelten Gemeinde reiste Barth im Mai 1822 von Dornhan ab mit einem stattlichen Gefolge von Wagen und Reitern, die ihm das Geleite gaben; ja, der Pflugwirth führte ihn in seinem eigenen Chaischen bis nach Stuttgart. Dort wurde ihm der Auftrag zu theil, als Pfarrverweser nach Effringen und Schönbronn zu gehen, eine Doppelgemeinde, in der es ihm an Arbeit sicherlich nicht fehlen konnte. Effringen liegt auf einer der Höhen, welche sich zwischen den Städten Calw und Nagold dem Nagoldfluß entlang ziehen, und so ist Barth durch seine Versetzung von Dornhan nach Effringen dem späteren Hauptschauplatz seiner gesegneten Wirksamkeit – Calw – um ein bedeutendes näher gerückt. Es war aber keine leichte Aufgabe, welche da seiner wartete. Beide Ortschaften waren bisher von benachbarten Geistlichen versehen worden, und Barth war der erste eigene Pfarrer, den die zwei Gemeinden miteinander bekamen. Aber miteinander, das war’s eben, da lag die Schwierigkeit, denn nun wollte jede der beiden Gemeinden den Pfarrer möglichst für sich haben, möglichst viele Gottesdienste auf ihrem eigenen Gebiet und in ihrem besonderen Kirchlein; keine wollte der andern die Liebe anthun, sie als bevorrechtete Hauptgemeinde gelten zu lassen, und der Pfarrer hatte das gehörig zu büßen. Nicht bloß gieng, das hätte Barth bei seiner gewaltigen Arbeitskraft und der Leichtigkeit seines Arbeitens wenig ausgemacht. Sondern das schlimmste war, daß eine Eifersucht zwischen beiden Gemeinden entstand, und wenn die eine meinte, der Pfarrer habe der andern ein bischen mehr Ehre angethan und Recht eingeräumt als ihr, so gab’s Verdruß, unzufriedene Gesichter, und was das ärgste war: verschlossene Herzen -alles doppelt. Zwar fehlte es ihm auch hier nicht an Schaaren von Leuten, die von allen Seiten herkamen, um ihn zu hören und mit ihm bekannt zu werden. Gleich seine erste Predigt in Effringen war nicht bloß von den Ortsangehörigen, sondern von der ganzen Umgegend her stark besucht, da man schon im Voraus viel zu seinem Lob gehört hatte und etwas Außerordentliches von ihm erwartete. Dieser Zulauf steigerte sich von Sonntag zu Sonntag; vom ganzen Wald her strömten die Leute am Sonntag Morgen nach Effringen und Schönbronn zur Kirche, sogar von der Pforzheimer Gegend her kamen Manche, um den Sonntag in seiner Nähe zu verbringen. Da gab’s Arbeit genug, um allen etwas zu bieten, und an einem Montag schrieb er seiner Mutter: „Gestern hatte ich viel zu thun. Zwei, Communion in Schönbronn mit 150 Personen, Kinder=Lehre, Missionsstunde, und Abends waren schon wieder 50 Personen in meinem Stüblein, die noch mehr wollten.“

Daneben fand Barth viel Aufmunterung und Stärkung im Verkehr mit Freunden, die er auch in dieser Gegend gewann. Er hatte ein besonderes Geschick, seine geistigen Fühlfäden nach allen Seiten hinauszustrecken, und das, was ihm zusagte, herauszufinden und anzuziehen. So hat er damals von seiner Effringer Höhe aus in’s Nagold-, Enz- und Neckarthal, ja sogar bis an den Rhein und in die Schweiz Verbindungen angeknüpft, welche durchs ganze Leben gedauert haben. Aber doch lag es ihm manchmal schwer auf der Seele, daß in Folge der Eifersüchteleien zwischen seinen beiden Gemeinden das Evangelium im Ganzen und Großen nicht so viel Frucht schaffen konnte, wie er gewünscht hätte. Denn die Frucht der Gerechtigkeit wird gesäet im Frieden denen, die den Frieden halten. Wo aber Neid und Zank ist, da wird gar leicht Gebet und Gottes Wort verhindert und lahm gelegt. Namentlich in Effringen, wo er seinen Sitz hatte, war die Stimmung keine gute, während in Schönbronn und der weiteren Umgegend sich viel Empfänglichkeit zeigte. Es zog ihm das Herz zusammen, als er sehen mußte, wie sich gerade in der Hauptgemeinde manche Herzen vor manche Herzen vor ihm zuschlossen, der Vorwurf der Parteilichkeit gegen ihn erhoben,und so eine allgemeinere Wirksamkeit fast unmöglich gemacht wurde. Er fragte sich, ob er nicht gehen und es einem Andern überlassen sollte, diese Händel auszufechten, und kam nach anderthalbjähriger Arbeit in der Gemeinde zu der Ueberzeugung, daß sein län geres Bleiben den Meisten nicht mehr zum Segen, sondern zum Gericht dienen würde, während die Empfänglichen allmählich weit genug gekommen seien, um auch ohne ihn ihren Christenweg weiter fortsetzen zu können.

Da es überdies ein alter Wunsch von ihm war, einmal eine längere Reise ins nördliche Deutschland zu machen, den dortigen Christen die Bruderhand zu reichen und zu sehen, in welcher Weise sie in ihrem Theil dem Reich Gottes dienten, machte er sich am 20. Mai 1824 anf den Weg, um diesen Plan nunmehr auszuführen. Seine Mutter fand sich anfangs schwer darein, ihn in die Welt hinaus ziehen zu lassen; weniger aus Besorgniß vor äußeren Gefahren, als in dem Gedanken, das Vielerlei der Reise möchte seinem Geistesleben schaden. Man nahm damals das Reisen überhaupt schwerer als heutzutage. Die einzelnen Gebiete waren mehr gegen einander abgeschlossen; die Welt, in der man sich bewegte, war nahe beisammen, und so erschien auch das Hinausgehen bedenklicher. Auch äußerlich betrachtet war das Reisen in den Postkutschen eine viel anstrengendere Sache als heutzutag das Reisen mit der Eisenbahn. So schlimm war es freilich nicht mehr wie dreißig Jahre zuvor, da der Postwagen von Stuttgart nach Tübingen bei schlechtem Wetter 10-12 Stunden unterwegs war, ein Postillon auf offener Straße die Pferde abspannte, um einen stecken gebliebenen Heuwagen ins nächste Dorf zu führen und dann sich von den dankbaren Bauern ein Räuschchen anhängen licß, während die Passagiere auf der Landstraße im Staub saßen. Es war, als Barth seine Reise antrat, schon mehr Ordnung in den Verkehr gecommen; gute Chausseen wurden gebaut, und die steilen Partien der Landstraße waren nicht mehr durchaus und unbedingt Lebensgefährlich. Aber doch waren die Einrichtungen noch immer unvollkommen genug, um den Leuten, ehe sie auf Reisen gingen, ernstliches Besinnen nahe zu legen, ob sie auch haben es hinauszuführen. Barth war zu sehr daran gewöhnt, sich hart zu sein, als daß er die Unbequemlichkeiten des damaligen Reisens so hoch angeschlagen hätte. Den Wandertrieb hatte er von seinem Vater geerbt, und er sehnte sich darnach, auch in christlicher Hinsicht seinen Blick zu erweitern durch persönliches Bekanntwerden mit andern Weisen der Arbeit im Reich Gottes. So zog er durch Bayern, Sachsen, Preußen, Westfalen nach Holland, um dann den Rhein herauf durch Elsaß und die Schweiz wieder nach Haus zurückzukehren, reich an Erfahrungen und neu gewonnenen Freunden, dankbar für alle innere und äußere Bewahrung, die ihm zu Theil geworden war. Schlafend wie Odysseus, der Vielgewanderte, von seinen Irrfahrten und Wanderungen in seine Heimath Ithaka zurückkehrte, fuhr auch Barth in den ersten Dezembertagen des Jahrs 1824 durch das Thor seiner Vaterstadt Stuttgart ein. Als aber der Postwagen, in dem er saß, über das holprige Straßenpflaster rumpelte, da wachte er auf, der Wagen hielt, und nach kurzer Frist begrüßte Barth seine Mutter. Je sorglicher sie ihn hatte ziehen lassen, desto größer war ihre Freude, als sie den Erstgebornen wieder bei sich hatte, und erkannte, daß die Reise ihm nicht bloß keinen Schaden, sondern wesentliche Förderung, Klärung und Ausreifung seines Geisteslebens gebracht hatte. Acht Tage nach seiner Ankunft erhielt Barth seine Anstellung als Pfarrer in Möttlingen bei Calw. Damit endigten die Wanderjahre, denn wenn er gleich auch später noch gerne gewandert ist, so hatte er doch nun eine feste dauernde Thätigkeit auf einem bestimmten Posten in der Heimath.

Quelle:

Weitbrecht, G.: Dr. Christian Gottlob Barth, nach seinem Leben und Wirken geschildert, S. 36-39. Druck und Verlag von J. F. Steinkopf, Stuttgart 1875. [Digitalisat]

Bildnachweis:

Tübingen, Evangelisches Stift: Michael Fiegle at German Wikipedia, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons


Eingestellt am 25. März 2024