Über den Tod und den Zustand nach dem Tode (Bengel)

Über den Tod und den Zustand nach dem Tode

Das menschliche Leben ist ein beständiger Streit mit dem Tod; es fehlt den Menschen ständig etwas. Es ist daher auch besser, wenn man in gesunden Tagen sich zu Gott schickt; wenn man es bis auf das Totenbett anstehen läßt, kann man nur schwer zum Zeugnis eines freiwilligen Geistes durchkommen. Man muß sich immer in seinem Herzen beschuldigen lassen; wenn du gesund wärest, so würdest du es nicht so machen.

Es gibt einfache Leute, die können ihren wahren Grund, den sie aus Gott in sich haben, nicht ausdrücken, weil sie nicht von Jugend auf dazu angeleitet worden sind. Der Grund zeigt sich oft erst im Sterben; er bleibt nicht ganz verborgen. Ein Kind Gottes wird nicht leicht unerkannt abscheiden.

Einen Sterbenden, der schon so gar nahe bei der Ewigkeit ist, vergleiche ich mit der Mündung eines Flusses, der in das Meer fließt, wobei man fast nicht mehr unterscheiden kann, welches das Wasser des Flusses oder welches das stehende Wasser des Meeres ist.

Es geschieht manchmal, daß Menschen, auch wenn in natürlicher Weise die Lösung des Bandes nun vor sich zu gehen scheint, nicht sterben können, und zwar nicht aus natürlichen Gründen, sondern weil sie noch in Unversöhnlichkeit beharren. Sobald der Beleidigte ein Wort des Friedens verlauten läßt, erfolgt auch die Lösung des Bandes. Diese Möglichkeit muß man sich bei Sterbenden fein einfallen lassen.

Wenn sich bei Gelegenheit eines Sterbens die Ewigkeit öffnet, dann werden dessen auch andere, zum Beispiel die Umstehenden, mit Freude, Trost, Schrecken und Angst inne.

Man mag den Tag Christi so nahe setzen und die Bestimmung dieses Tages so ungewiß machen, als man wolle, so ist es doch auch nur in Betrachtung des Textes Offenbarung 20 etwas Unzweifelhaftes, daß allen, die zu dieser Zeit leben, die Auflösung des irdischen Hauses dieser Hütte bevorstehe. Daß aber dies den Gläubigen, besonders seitdem Christus gestorben und auferstanden ist, keine fürchterliche Sache sein soll, ist eben so richtig.

Man erwäge die Stellen: Johannes 2, 16; 1. Korinther 15, 2; 2. Korinther 4, 7-5, 10; Philipper 1, 20.21; 1. Thessalonicher 6, 13-18; 2. Thessalonicher 3, 3; Hebräer 12, 23 und Offenbarung 7, 9-17; 14, 13.

Einem Chemiker ist es etwas Leichtes, eine einzige Masse aus einer Gestalt in die andere zu verwandeln; wie vielmehr sollten wir uns der allmächtigen Hand des getreuen Schöpfers überlassen, wenn er uns alle Tage zerstäuben und wieder lebendig machen wollte. Warum sollten wir es denn für etwas Schweres halten, ihm unsern Geist ein einziges Mal in die Hände zu befehlen. Es bedarf dazu nicht einmal einiger Sterbekunst. Ein Kind, das sich schlafen legen läßt, hat dazu keine Kunst nötig. Er lege mich zur Ruhe, wann es ihm gefällt. Seine große Ökonomie wird dennoch in ihrem Gang fortfahren. Schlafe ich hier ein, so wache ich an einem bessern Ort auf, und der Leib wird nicht zurückbleiben (Röm. 8, 2).

Man kann nicht sagen: Ein Wachender weiß, woran er ist, ob ihm wohl oder wehe ist, mithin weiß es auch ein Schlafender oder Träumender; er kann auch aus dem Gegenteil der Beschaffenheit bei den Wachenden darauf schließen. Das gilt auch für die seligen und unseligen Toten. Es gibt überaus viel verschiedene Stufen. Viele, die selig werden, wie zum Beispiel die schönen Scharen, die in der Offenbarung genannt werden, bekommen ihr gutes Teil sogleich in völliger Richtigkeit. Es werden auch viele von denen, die verloren gehen, bald inne, wie übel es um sie steht; aber nicht alle, die noch endlich errettet werden, werden gleich nach dem Tode wissen, woran sie sind. Nicht alle, die verloren gehen, werden sich gleich nach dem Tode davon überzeugen lassen, sondern manche werden sich noch immer mit einer träumenden Hoffnung schmeicheln. Es bleibt überaus viel auf jenen großen Tag aufgespart, der der Tag Christi, der Tag Gottes und der letzte Tag heißt. Was ist nur dies Eine für eine große Wohltat für einen wackeren Gläubigen, daß er gleich nach dem Tode weiß, woran er ist, da es ja nach 1. Johannes 2 andere gibt, die erst an jenem Tag in seinem Gericht zuschanden werden.

An die Stelle Matthäus 7, 22 denke ich oft seit langer Zeit. Es werden nicht viel Weissager, Teufelsaustreiber und Wundertäter an jenem Tage lebendig angetroffen werden; und deswegen geht die Stelle wenigstens ebensowohl auf solche, die indessen sterben. Recht wackere Seelen sind von ihrem Abscheiden an selig, mehr als sie es im Leibesleben waren. Überaus böse Seelen kommen durch ihren Tod in die Flamme; beides ist zu sehen in der Geschichte von Lazarus und dem reichen Mann. Eine große Menge bleibt meines Erachtens im Zwischenzustand, bis sie an jenem großen Tag erst erfahren, woran sie sind, wie denn das Gericht, dessen in Hebräer 9, 27 gedacht wird, nicht nach dem Tod des einzelnen, sondern bei der Erscheinung Christi gehalten wird. Mithin kann eine falsche Hoffnung und Anmaßung bei Heuchlern noch bis dahin bestehen bleiben, was schrecklich ist. Deshalb ist es gut, den Eingang in das ewige Reich so zu suchen, daß es ein reichlicher Eingang sein möge.

Wenn man alle Stufen der Heiligung in diesem Leben annimmt, und eine Seele auf der höchsten Stufe betrachtet, zu der man es in diesem Leben bringen kann, so ist sie doch nur wie Hefe gegen den Geist des Weines. In der Hefe liegt schon der Geist; aber der Bodensatz muß vorher abgezogen werden. So muß auch, obwohl der Wille frei und siegreich ist, eben der Leib der Sünde erst durch den Tod abgestreift werden.

Die Verstorbenen überläßt man dem Willen Gottes. Luther hat gesagt, daß man etwa ein paar Mal für sie beten könne; aber auch dies hat keine Verheißung.

Bei den Christen werden die Toten so begraben, daß sie mit ihrem Angesicht der aufgehenden Sonne entgegensehen. Das kommt von den Juden her, die im Leben ihr Angesicht nach Jerusalem wenden; daher stehen auch alle Kirchentüren regelmäßig gegen Westen, damit der, der hineinkommt, ohne sich umzuwenden die Gegend vor Augen habe, wohin er sich im Beten wendet. Die Lage der Toten ist ein feiner Hinweis auf die künftige Auferstehung; denn es ist glaubhaft, daß Jesus sich wieder vom Osten her werde einstellen, gleich wie er gen Osten vom Ölberg aufgefahren ist. Wegen der Erscheinungen nach dem Tode mache ich die Wahrnehmung, daß sie meistens ihre gesetzten Zeiten haben und hernach aufhören. Sie währen etwa so lange, bis alle Verbindungen der Seele mit dem Leib vollends aufgelöst sind. Es ist etwa wie bei einer Festung, bei der man, wenn man sie verlassen sollte, verschiedene Mauertore passieren muß. Allerdings geschieht die Lösung der Seele vom Leib gleichsam augenblicklich.

Man kommt bei Gespenstern, deren es in Wahrheit mehr gibt als man denkt, am besten durch, wenn man seiner Wege geht und es außer acht läßt, nicht vorwitzig ist, nicht begehrt, sie zu stören oder aufzusuchen, auch nicht allzu sehr erschrocken ist, sondern tut, als wenn sie nicht da wären.

Wenn wir wüßten, wie die unglücklichen abgeschiedenen Seelen das Leben in dieser Zeit so wertvoll achteten, während sie nun das Gegenteil erfahren, so würden wir uns nicht vor ihnen fürchten, zum Beispiel vor Gespenstern.

Die Liebe hoffet alles. Warum aber gerade bei den Toten, daß sie selig seien? Kann es nicht ebensowohl Liebe sein, die befürchtet, daß sie möchten verlorengegangen sein?

Es gibt keinen dritten Zustand der Seelen, so wenig es zwischen Ja und Nein ein Drittes gibt; aber der Orte sind nicht nur drei, sondern Tausende.

Von dem Augenblick, in dem eine Seele angetroffen wird, wenn sie ihren Leib verlassen soll, hängt ihr Zustand in alle unaufhörliche Ewigkeit ab.

Der Augenblick des Abscheidens aus dieser Welt gibt auch die Entscheidung ab über unsern Zustand in alle Ewigkeit. Die sich dem lieben Heiland ganz ergeben haben, kommen gleich nach ihrem Tode zu ihrem Herrn.

Wenn man meinte, der Tod bringe für sich selbst auf natürliche Weise dem Menschen eine Verbesserung, so wäre das grundfalsch. Dann wäre ein Pelagianismus auch in der Ewigkeit. Nein, der Leib geht in Verwesung über; und die Seelen, die hier in eigner Macht alles haben durchsehen und ausecken wollen, werden hernach mit einem jämmerlichen Durst nach Wissen geplagt werden und sich je länger, je tiefer in ihre eignen Einfälle verwickeln.

Für die Zeiten des Alten Testaments, da der Artikel von der Schöpfung noch im Schwange ging, kann man’s eher gelten lassen, daß die, die Gott nach ihrer Erkenntnis gefürchtet und gedient haben, seien gerettet worden, als für die Zeit des Neuen Testaments, da das Evangelium geoffenbart worden ist. Das muß eine große Weisheit Gottes sein, so viele Seelen auseinander zu lesen, die Geister zu wägen und keinem irgendein Unrecht zu tun. Wann man den unscheinbarsten Menschen aus dem Haufen der Auserwählten und dagegen den bekanntesten Menschen unter den Verworfenen gegeneinander gestellt zu sehen bekäme: was würde man sehen?

Ein besonderer Teil der Qual der Verworfenen wird die Langeweile sein, die sie in der ewigen Finsternis ohne irgendeine Abwechslung haben werden, und die sie nicht durch allerhand Uhren verkürzen oder nur einigermaßen unterscheiden können. Die Sünden der Gläubigen werden auch am Jüngsten Tage offenbar werden, aber nicht als abzuurteilende Sachen, sondern einfach als Tatsachen, sofern sie mit den guten Werken oder mit den Sünden der Ungläubigen in Verbindung stehen und je nachdem das eine durch das andere erläutert und vergrößert oder gemildert und aufgehoben wird.

Das Offenbarwerden nach 2. Korinther 5 wird durch andere Stellen, zum Beispiel Hesekiel 18, nicht aufgehoben. Adam ist ohne Zweifel selig geworden, und dennoch wird sein Fall in Ewigkeit bekannt bleiben. Die Sünden Davids, des Petrus u. a. sind ihnen schon lange erlassen und doch erst danach in die Heilige Schrift gesetzt worden, worin sie noch immer stehen. Sie werden aber im Gericht nicht als begangene, sondern als bereute und getilgte Sünden vorkommen. Auf diese Weise wird die Pünktlichkeit der Vergebung hervorleuchten. Die Sünden der Auserwählten werden ewiglich ein Gegenstand der göttlichen Allwissenheit sein; und das allein hat mehr zu sagen, als wenn alle Kreaturen sie ewiglich vor Augen hätten, geschweige denn an dem einen Gerichtstage. Sie selbst werden auch ewiglich erkennen, wie viel ihnen vergeben sei. Lasterhafte Leute halten oft ihre Greuel nicht geheim. Verzweifelte sagen alles heraus. Viel mächtiger ist die Gnade: denn das Wort Gottes scheidet Seele und Geist. Die Scham über begangene und vergebene Sünde ist in der Seele, nicht im Geist. Wir schämen uns dessen am meisten, was gegen die Zucht ist; von Rechts wegen sollte man sich anderer Sünden weit mehr schämen. Dies würde dereinst geschehen, wenn dann noch Scham statthätte. Doch wird man nicht sagen dürfen, daß alle Fehler aller auch allen, auch den Verfluchten, klar und deutlich eröffnet werden. Im Licht ist alles deutlich; aber nicht alle sehen wirklich alles.

Wen ich liebe wie mich selbst, der darf alles von mir wissen, was ich von mir selbst weiß. Es wird uns noch vieles vergeben, bis wir dahin gelangen. Im Alten Testament war nicht nur ein Durchgehenlassen, sondern sogar Vergebung der Sünden; doch war freilich ein Unterschied zwischen dem Zustand nach dem Tode bei den Gläubigen im Alten und im Neuen Testament. Die Gläubigen des Alten Testaments waren nach dem Tode in der Ruhe; doch war der Schuldherr noch nicht befriedigt. Das Gleichnis vom Schuldherrn macht die Sache ziemlich deutlich: Wenn ein Gläubiger den Schuldner gehen läßt und sein Recht an ihm nicht geltend macht, dann heißt dies paresis (Durchgehenlassen). So machte es Gott mit denen im Alten Testament, wenn er die Schuldner so hingehen ließ, obwohl er noch nicht befriedigt war. Ja, es war bei den Gläubigen noch etwas mehr dabei; sie erlangten auch Erlaß der Sündenschuld, das ist, wenn ich das Bild etwas weiter ausführe, der Gläubiger ließ sie als Schuldner nicht nur ohne Urteilsvollstreckung hingehen, sondern auch frei ausgehen nämlich so, wie ein Schuldner von dem Gläubiger freigelassen wird, wenn der Bürge die Schuld übernimmt. Der Bürge ist Christus und von ihm forderte dann Gott der Menschen Schuld und ließ den Schuldner gehen. Als nun Christus mit seinem Tode bezahlte und die Freilassung geschah, wird ohne Zweifel, wie in allen Dingen eine große Veränderung vorgegangen ist, auch bei den Gläubigen des Neuen Testaments eine Verbesserung eingetreten sein. Sie dient zur Ehre Christi und ist überaus glaubhaft. In dem Augenblick, da Christus verschieden ist, werden erstaunliche Dinge geschehen sein!

Obgleich wir das, was uns in der Schrift meist fast nur beiläufig über die Herrlichkeit des zukünftigen ewigen Lebens gesagt wird, nicht verstehen, so sollen wir es doch festhalten. Wenn einer einen Schatz von großem Wert, zum Beispiel einen Edelstein, findet und nicht sogleich weiß, ihn nach Würden zu schätzen, so schadet es ihm nicht, wenn er ihn nur nicht in unbesonnener Weise weggibt oder umtauscht. Zu gegebener Zeit freut er ihn desto mehr. Gold, Perlen, Edelsteine können im himmlischen Neuen Jerusalem den Dingen dieser Welt gleich aussehen und doch himmlischer Stoff sein. Die Stadt liegt auf einem Berge, der vielleicht der einzige auf der Neuen Erde und folglich fast auf der ganzen Erde sichtbar ist und wiederum weit und breit die Aussicht bietet. Dem Los in der heiligen Stadt nachzudenken, hält mich eine billige Scheu ab. Was mir ungesucht bei meiner Zurückhaltung begegnet, das fange ich ehrerbietig auf und bleibe fast nicht länger dabei stehen, als bis ich es andern vorgelegt habe. Auf solche Weise sind mir meist die Fächer der großen Dinge vor die Augen gekommen; aber die Dinge selbst werden sich noch nicht so leicht auseinanderlesen lassen. Hinsichtlich der Bürger der Stadt wehre ich meinen Augen das Umherschweifen, und ein jeder läßt es für sich am sichersten auf die Verschwiegenheit des guten Herrn ankommen. Doch kann es Sünden geben, die einer bei einem sonst nahen Hingang zu tragen haben wird (Hes. 44, 10).

Wie nahe bin ich der Ablegung meiner schwachen Hütte! Wie kann ich manches schon mit dem Rücken ansehen, das mir unlängst noch wohl in den Augen und unter den Händen war! Der Herr bringe uns zu sich!

(Johann Albrecht Bengel)