Matthäus 27, 46

Judica.  Freitag.

Du schwebst in höchster Not verlassen,
Da Du mir Gnad‘ und Heil erwirbst,
Als wenn Du wolltest mich umfassen,
So neigest Du das Haupt und stirbst.
Laß auch mein’n Eigenwill’n sich neigen,
Und mit mir sinken in den Tod:
Ich schenk‘ mich ewig Dir zu eigen;
Verlaß mich nicht in meiner Not.

Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze Land bis zu der neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Matth. 27, 45.46)

Das vierte Wort des Herrn am Kreuze, gesprochen um drei Uhr Nachmittags. Drei Stunden lang hatte eine grauenvolle, beispiellose Finsternis das ganze Land bedeckt. Sie war der Vorbote des göttlichen Zornes und Strafgerichts. Sie war eine tatsächliche Erklärung des Mißfallens Gottes an Israel und die Antwort auf des Volkes Wehruf: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“. Mit diesem Augenblick war die Gnadensonne an Israels geistlichem Himmel untergegangen, und die Nacht göttlicher Gerichte brach herein. Zugleich war die Finsternis ein äußeres Bild der Finsternis, welche diese drei Stunden über auf Jesu Seele lag. Der schwerste Kampf des Lichts mit der Finsternis war eingetreten. Das Licht schien schon zu unterliegen, und die Finsternis zu triumphieren. Aber Christi Dulden, sein starkes inneres Geschrei und tränenvolles Gebet, das nun in seiner Seele den höchsten Grad erreicht hatte, drang durch, überwand Alles und vollendete den Sieg. Der Herr siegte im Unterliegen, und der Feind des Lichts, die Hölle, unterlag im Siegen. Als Jesus das lange Schweigen brach mit dem lauten Angstruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ war der letzte Feind, die letzte Strafe der Sünde, der ewige Tod, die ewige Pein der Verdammten in der Hölle, das Verlassensein von Gott bereits überstanden, die Erlösungsarbeit vollendet, die in Gethsemane begonnen hatte, das ewige Sühnopfer für die Sünden der Welt gebracht. Zum ersten Male, aber auch zum letzten Male war der Herr von Gott verlassen worden, damit wir nie von Ihm verlassen würden, weder zeitlich noch ewig. Kein schrecklicheres Los kann es geben, als das, von der Quelle alles Lichts und Lebens verlassen zu sein, von den Mächten der Finsternis sich ergriffen zu fühlen, keinen vertrauensvollen Blick mehr aufheben zu dürfen zu dem barmherzigen Vater im Himmel, kein liebendes Wort mehr zu vernehmen: „Ich habe dich je und je geliebt; siehe, ich bin bei dir alle Tage“, und nun ewig verzagen und verzweifeln zu müssen. Und dies Los hättest du verdient mit deinen Sünden! Mußt du beim Gedanken daran nicht sprechen:

„O Anblick, der mir’s Herze bricht!
Herr Jesu, das vergess‘ ich nicht,
Wie du am Kreuze für mich büßtest!
O daß Du für die Seelenangst,
In der Du mit dem Tode rangst,
Nun ewig mit mir prangen müßtest!“

O danke, danke, mein Herz, deinem Heilande für sein schweres Leiden, da Er verlassen war um deinetwillen und für dich, auf daß du das Vaterherz immer offen fändest. Danke, danke Ihm in alle Ewigkeit!

Der Aller Sünde trug,
Muß aller Straf erlegen;
Der Reine wird zum Fluch,
Uns Schuldigen zum Segen.
Weil wir verlassen Gott,
Darum verläßt Gott Ihn;
Ihn straften Höll‘ und Tod,
Und uns, uns ist verzieh’n.

Lieb‘ ohne Maß und Zahl,
Lieb‘ ohne Grund und Ende,
Du triebst Ihn in die Qual,
Daß Er für uns vollende.
Du brachtest uns Ihm dar,
Du bringst Ihn zu uns her,
Er, der verlassen war,
Verläßt uns nimmermehr.

Quelle:

Morgenklänge aus Gottes Wort: Ein Erbauungsbuch auf alle Tage im Jahre, von D. Friedrich Arndt, Prediger an der Parochialkirche zu Berlin. Erster Theil. Dreizehnte Auflage. Leipzig 1871: J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung [Digitalisat]

Wer hat mit deinem Heiland einst gewacht
In seiner schwersten, längsten Leidensnacht,
Als er gerungen mit dem tiefsten Weh,
Dort in dem Garten zu Gethsemane?
Wer starb mit ihm, als er am Kreuze hing
Und in den Tod für seine Brüder ging?

Allein hat er den letzten Gang gemacht,
Allein den Kampf, allein sein Werk vollbracht.
Sel’ger Trost! Wer ist nun noch allein
In jeder Lebens-, jeder Sterbenspein?
Er hat’s durchlebt bis in den tiefsten Grund;
Erbebend sprach es sein erbleichter Mund:

„Allein, verlassen, o mein Gott! mein Gott!“ –
Die Freunde stumm, und laut der Feinde Rott‘! –
Kein Menschenherz, das liebste nicht gewährt,
Was all dein Sehnen fort und fort begehrt;
Nur Gott allein füllt eine Seele aus,
Im Himmel nur bist gänzlich du zu Haus!

(Albert Zeller: Lieder des Leids)

Eingestellt am 15. März 2023