Psalm 88, 11.12

„Wirst du denn unter den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken? (Sela.) Wird man in Gräbern erzählen deine Güte, und deine Treue im Verderben?“ (Psalm 88, 11+12)

Würde der Herr erlauben, daß Sein Knecht stirbt, bevor sich die göttliche Verheißung erfüllt, so wäre es völlig unmöglich, Seine Treue zu verkünden. Der Dichter spricht nur von diesem Leben und betrachtet die Angelegenheit von einem Standpunkt aus, der nur das Zeitliche und das gegenwärtig lebende Geschlecht berücksichtigt. Dürfte ein Gläubiger verlassen und in Verzweiflung sterben, so ginge von dessen Grab keine Botschaft an die Menschheit aus, der Herr habe ihn gerechtfertigt und von seinen Leiden erlöst; keine Lieder stiegen dann von der kalten Erde auf, um die Wahrheit und Güte des HERRN zu besingen; dann wäre – soweit es die Menschen betrifft – nur eine Stimme zum Schweigen gebracht, die es liebte, die Gnade Gottes zu rühmen, und ein liebender Zeuge für den Herrn wäre aus der Sphäre des Zeugnisses entschwunden.

Seine Anfechtungen hatten so lange bestanden, daß er sich kaum erinnern konnte, wann sie begannen; es erscheint ihm, als habe er von Jugend an bei den Toren des Todes gewohnt. Das war sicher die Übertreibung eines bedrückten Geistes, vielleicht war er aber auch sozusagen in Trauerkleidern geboren und wurde von einer chronischen Krankheit oder körperlichen Schwäche von Kindheit an geplagt. Es gibt heilige Männer und Frauen, deren Leben eine langwierige Schule der Geduld darstellt, und sie verdienen unser Mitgefühl wie auch unsere Achtung – »unsere Achtung« wage ich zu sagen; denn seit unser Erlöser mit Leiden vertraut wurde, sind Schmerzen in den Augen eines Gläubigen ehrenvoll. Eine lebenslange Krankheit kann sich durch göttliche Gnade als ein lebenslanger Segen erweisen. Besser von Kindheit an und bis ins Alter zu leiden, als sich selbst überlassen an der Sünde Vergnügen zu finden!

Auch langer Gebrauch machte die Klinge des Schmerzes nicht stumpf, und Gottes Schrecken hatten ihren Schrecken nicht verloren, vielmehr waren sie schließlich immer bedrückender geworden und hatten den Menschen in die Verzweiflung getrieben. Er war unfähig, seine Gedanken zu sammeln, er wurde innerlich hin- und hergeworfen und konnte seine Lage nicht in ruhiger, vernünftiger Weise beurteilen und einschätzen. Wie können sich manchmal seelische Depressionen und Wahnsinn gleichen! Beides zu unterscheiden, ist nicht unsere Sache; aber wir sagen, was wir sehr wohl wissen, daß manchmal das Gewicht einer Feder ausreicht, um die eine oder die andere Waagschale nach unten zu ziehen. Dankt Gott, ihr Geplagten, die ihr euren Verstand bewahrt habt! Dankt Ihm, daß selbst der Teufel jene Feder nicht hinzufügen kann, weil der Herr euch beisteht, der alles in Ordnung bringen wird.

Seelische Krankheiten kommen mit solch durchdringender Macht über den Menschen und füllen ihn so aus, daß er sich ihrer nicht erwehren kann, sie durchtränken die Seele wie der Tau Gideons Vlies; sie saugen sie nach unten wie der Mahlsand ein Schiff, sie überfluten den Geist wie die Sintflut die grüne Erde. Der Schmerz hielt den Psalmisten umzingelt. Er glich einem Hirsch bei der Jagd, wenn die Hunde von überallher ihm an der Kehle hängen. Arme Seele! Und doch war er ein Mensch, den der Himmel innig liebte!

(Charles Haddon Spurgeon)

Eingestellt am 15. November 2020 – Letzte Überarbeitung am 26. Januar 2023