Von der freien Gnade (Hofacker)

Was uns aber am meisten freuen muß, ist, daß diese Gnade eine freie Gnade ist, daß man sie nicht verdienen, nicht erwerben kann, daß es nicht an Jemands Rennen oder Laufen liegt, sondern an Gottes Erbarmen. Ja, wir wären sonst übel daran, da wäre es nur gescherzt mit der Menschheit, es wäre nur ein unbarmherziger Spaß, den man mit den Elenden triebe, wenn man der Menschheit von Gnade sagte. Die Engel hätten bei der Geburt des Heilandes nicht gerufen: „Siehe, ich verkündige euch große Freude!“ so hätten sie nicht sprechen dürfen, sondern vielmehr: Siehe, ich verkündige euch große Trauer! Gott hat Alles getan, was er tun konnte, aber es reicht nicht zu; etwas solltet ihr doch wenigstens zu eurem Heile beitragen; aber ihr könnts nicht; ihr habt nichts als Sünde an euch, und ihr solltet doch Gerechtigkeit haben; darum verzweifelt nur an eurer Rettung! – Ja, wenn es nicht eine freie Gnade wäre, so wäre sie gar nicht für uns; das ganze Evangelium würde über den Haufen fallen. Wenn irgendwo die Reichtümer Gottes aufgestellt wären, und oben an denselben stünde geschrieben: „Diese Reichtümer kann sich derjenige zueignen, der Sanftmut, oder Geduld oder Liebe hat,“ da würde keines von uns dazu gelangen, da stünden wir Alle, und würden immer dürsten und dürsten, und könnten niemals trinken, wir würden verzweifeln.

Aber es gibt eine freie Gnade umsonst. Umsonst ist sie uns gegeben von der göttlichen Barmherzigkeit; umsonst füllt Gott die Hungrigen mit Gütern; umsonst fallen die Schätze des Hauses Gottes den Sündern in den Schooß, denn diese Gnade läßt sich nicht erhandeln; umsonst haben alle Seligen ihre Kleider gewaschen und helle gemacht im Blute des Lammes; umsonst können die Sünder in die blutige Gerechtigkeit Christi eingekleidet werden; umsonst dürfen sie vereinigt mit ihm schon in dieser Zeit leben; umsonst dürfen sie mit ihm leiden, umsonst mit ihm sterben, umsonst in die selige Ewigkeit gehen; umsonst können alle Sünder, auch die alten, grauen Sünder, diese Gnade erlangen.

Es gibt eine freie Gnade umsonst; das können wir an dem Schächer sehen, daß es eine freie Gnade gibt; und eben dieser Schächer ist ein Beispiel für alle alten Sünder. Sehet, der Schächer – was hatte er für Gerechtigkeit? für ein Verdienst? Keines; er war ein Dieb, ein Mörder; er lästerte den Heiland, dann aber wurde er erweckt, fühlte Reue über seine Sünden, und der Heiland sprach zu ihm: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“

Es gibt eine freie Gnade umsonst; davon will aber die eigenliebige Natur nichts; sie stutzt daran, sie flucht darüber, sie will ohne Gnade selig werden, und doch ist dies die enge Thüre, durch die wir eingehen müssen zum ewigen Leben. Wer anderswo hineinsteigt, der ist ein Dieb und Mörder, und wird nicht hineinkommen. Sehet, so lange man sich noch in seiner Eigenliebe gefällt und umtreibt, so lange man noch Gefallen an sich selber hat, in guten Tagen, wo es einem ein gar angenehmes Gefühl ist, daß man so ein Christ ist, so lange der schändliche Pharisäer noch nicht aus dem Herzen hinausgefegt ist, der Pharisäer, der immer, wenn auch nur heimlich, betet: „ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute, wie Der und Jener!“ so lange man seine Sünden, seine Gräuel nicht im Lichte des Geistes erkennt, so lange ist diese freie Gnade, dieses “ganz umsonst“ dem Herzen ein Abscheu. Soll denn, denkt man, meine Tugend ganz umsonst sein? Sie ist doch auch kein leerer Wahn! All mein Beten und Singen soll umsonst sein? Bin ich denn nicht besser, als andere Sünder? Oder wenigstens sieht man, wenn man meint, um die dritte Stunde in den Weinberg berufen zu sein, scheel auf diejenigen, die erst um die eilfte Stunde berufen wurden, wenn sie auch einen Groschen empfangen, wie die andern, welche des Tages Last und Hitze getragen haben. Armer Sünder! steh’ einmal still, besinne dich, siehe, dein Tugendkleid, dein Tugendwahn kann von dir genommen werden; oder meinst du, es könne dieß nicht geschehen, du könnest dich in deine Tugend einhüllen? wie jenes unsinnige Sprüchwort sagt: „Hülle dich in deine Tugend ein, wenns stürmt.“ Meinst du, dein Tugendkleid könnte nicht von dir genommen werden? Wenn du es dir durch die Gnade Gottes nicht nehmen lässest, so wird es durch den Zorn Gottes von dir heruntergenommen werden; Gott wird dem Teufel Macht geben, es von dir herunterzuziehen und vor deinen Augen zu zerfetzen und zerreißen, dann wirst du da stehen in deiner natürlichen Blöße, und wirst nichts stehen, als die Schande deiner Blöße. Vor den flammenden Augen Gottes können nur die bestehen, die ihre Kleider gewaschen und helle gemacht haben im Blute des Lammes. Glaube mir’s, alle eigene Gerechtigkeit und Heiligkeit, wenn’s gleich nicht bloß Heuchelschein, sondern treu gemeint wäre, gilt nichts; wer die Gerechtigkeit Christi nicht ergriffen hat, der wird verdammt, und wenn er der Heiligste wäre. All unsere eigene Gerechtigkeit, und wenn auch erlanget durch Kampf und Streit, ist nur Koth und Unrath in Gottes Augen; kein Selbstgerechter wird jemals taugen, er ist ein Fluch. Wer nicht wie der Schächer will selig werden, sondern durch sein eigenes Verdienst, der wird nicht hineinkommen.

Wenn aber Einer Alles gethan hat, was der Weltbrief ausweiset, wenn er gestohlen, gemordet, gehuret, die Ehe gebrochen, falsche Zeugnisse geredet und gegen alle Gebote gehandelt hat, und es wird ihm geschenkt, daß der die Gnade ergreifen kann, die in Christo Jesu ist, so wird er selig. Ich sage es mit Bedacht, es wird ihm geschenkt, denn da könnten viele kommen und glauben, man dürfe nur so schnell nehmen, und sprechen: ich will fortfahren im Sündigen; zuletzt ergreife ich die freie Gnade. Nein, lieber Mensch, es muß dir geschenkt werden, und eben deswegen mußt du darum bitten; man kommt nicht durch Faulheit und Trägheit des Fleisches zu dieser Gnade, wie viele glauben. Kannst du aber aus deinem innersten Herzensgrunde sagen:

Der Grund, auf den ich gründe,
Ist Christus und sein Blut,
Das machet, daß ich finde,
Das ew’ge, wahre Gut.
An mir und meinem Leben
Ist nichts auf dieser Erd‘,
Was Christus mir gegeben,
Das ist der Liebe wert.

Wenn du das in Wahrheit sagen kannst, so bist du los vom Satan, und der Strick ist entzwei.

(Ludwig Hofacker)