Er sättigt die durstige Seele (Karl Hartenstein)

Er sättigt die durstige Seele und füllt die hungrige Seele mit Gutem.
(Psalm 107, 9)

Es ist die große Erfahrung aller wahrhaft frommen Menschen, dass man an Gott satt werden kann, dass er allen Mangel stillt, die tiefste Sehnsucht des Herzens und den leidenschaftlichen Hunger nach Leben und Frieden. Ob wir in die Lieder hineinhören oder ob wir mit Menschen sprechen, die wirklich mit Gott leben, sie werden alle sagen, das ist wahr, man wird mit Gott satt.

Das müsste eigentlich eine Generation wie die unsrige besser verstehen als irgendeine vor uns. Aber davon ist kaum etwas zu merken, dass Gott unser Geschlecht sättigt. Im Gegenteil, das ist das Furchtbare, dass wir mehr als irgendwann zuvor bei den Schweinen satt zu werden versuchen, uns mit den Trebern, wie das Gleichnis sagt, Hunger und Durst stillen: „Das Pressen kommt zuerst – und dann die Moral.“ Oder: „Was brauchen wir Gott, wenn wir nur zu essen haben?“ Wo kommt das nur her?

Habt ihr beachtet, dass unser obiges Gotteswort zweimal sagt: „Er sättigt die durstige Seele, er füllt die hungrige Seele mit Gutem“? Wie, wenn die Menschen heute ihre Seelen verloren hätten? Das ist so. Das ist die furchtbarste und das ist die allertiefste Not, dass wir nur noch Menschen sind, die eben einen Leib haben, dieses kurze Leben, das man nutzen muss, so gut es geht zwischen Geburt und Grab, und ein bisschen Freude in dem furchtbaren, grauen und nackten Elend des Lebens. Wir haben unsere Seele verloren. Darum werden wir nicht satt mit Gott. Und dieses Wort, das uns heute als ein so großer Trost auf den Weg gegeben ist, dass man wirklich mit Gott satt werden kann, das mahnt uns zu allertiefst daran, dass wir doch inwendig leben lernten, dass wir doch daran gedächten, dass Gott uns mit einer Seele, mit einem Herzen, mit einem Sinn für die Ewigkeit, mit einem inneren Menschen geschaffen hat, und dass alles darauf ankommt, dass das Innerste an uns nicht verdirbt am Hunger und am Durst dieser Zeit, sondern gesättigt wird. Die Losung für diesen Tag bedeutet: Du lebst nicht vom Brot allein, denn du bist nicht nur ein Haufen Leib und Leben und Arbeitstier, du hast eine Seele, teurer Leser, und diese Seele ist wichtiger und wertvoller als alles, was es gibt in der Welt. Was hülfe es uns, wenn wir alles gewönnen und nähmen Schaden an ihr, es erstürbe unsere Seele!

Die große Not…

…unserer Zeit ist, dass wir das nicht mehr verstehen: an Gott satt zu werden – weil wir keine Seele mehr haben. Und das ist für die Christen und das ist für uns, die wir im Frieden Gottes in seinem Licht und vor seinen Augen leben wollen, das Entscheidende, dass Er in uns den neuen Menschen erwecke, aus ihm geboren, von oben her, den Geistesmenschen, den Menschen der lebendigen Seele, die er dem einhaucht, den er schuf. Dass doch unser innerer Mensch erweckt werde mit aller Not, die eine solche Geburt bei sich haben mag, mit aller tiefen Erkenntnis der Schuld, aber gerade darum auf dem Wege,
satt zu werden an ihm. Glaubt mir, wem Gott die Seele erweckt, wem er den inneren Menschen hat auferstehen lassen, der weiß, der weiß allein, der weiß gewiss, dass man mit Gott satt wird, dass der große Hunger nach Leben und der tiefe Durst nach Frieden von keinem anderen gestillt wird als von Ihm in Jesus Christus.

Hier kann das Herze sich laben und baden,
Jesus ist kommen, die Quelle der Gnaden.
Komme, wen dürstet, und trinke, wer will!
Holet für euren so giftigen Schaden
Gnade aus dieser unendlichen Füll!
Jesus ist kommen, die Quelle der Gnaden.

Wollen wir vielleicht miteinander im Geschäft, in der Unruhe, im Lärm unter den tausend Menschen immer wieder einen Augenblick daran denken, dass alles im Grunde gar nichts ist, dass alles vergeht, dass eines schönen Tages der Lärm weitergeht ohne uns und dieses Geschäft seinen Fortgang haben mag – und wir sind nicht mehr dabei? Bedenken wir, dass aber alles, alles daran hängt, dass ich durch Gottes Gnade meine wahre Seele gefunden habe, den inwendigen, den verborgenen, den Geistesmenschen, und dass der satt geworden ist an Ihm.

Herr Jesus Christus! Wir bitten Dich gemeinsam heute, dass Du uns verblassen lassen wollest die Herrlichkeiten der sichtbaren Welt, auch alle unsere Ehre und das, wonach dies arme Herz so furchtbar dürstet und verlangt, und dass Du uns ganz groß machst das Ewige, Gute, das Du uns geschenkt hast, den Hunger sättigst, den Durst stillst– in Dir.

Dazu erwecke in uns den neuen Menschen und lass ihn auch heute durch Dein gutes, heiliges Wort und durch Deinen Geist auferstehen mitten im Sterben und in der Friedelosigkeit dieser Welt! Wir danken Dir, dass wir nicht nur vom Brot, sondern von jedem Wort leben dürfen, das aus Deinem Munde kommt.

Amen.

(aus einer Andacht, gehalten von Prälat Karl Hartenstein am 18.1.1949 in der Stuttgarter Schlosskirche)

Quelle: Aufblick und Ausblick, Ausgabe 01/2022


Weitere Andacht zum Vers von C.H. Spurgeon

Übersicht: PsalmenPsalm 107

Eingestellt am 31. März 2024 – Letzte Überarbeitung am 8. April 2024