Der Christbaum (Fr. Wilhelm Krummacher)

Predigt, gehalten am 4. Adventssonntage

Predigttext: Hesekiel 17, 22-24

22 So spricht der Herr, HERR: Ich will auch von dem Wipfel des hohen Zedernbaumes nehmen und oben auf seinen Zweigen ein zartes Reis brechen und will’s auf einen hohen, erhabenen Berg pflanzen;
23 auf den hohen Berg Israels will ich’s pflanzen, daß es Zweige gewinne und Früchte bringe und ein herrlicher Zedernbaum werde, also daß allerlei Vögel unter ihm wohnen und allerlei Fliegendes unter dem Schatten seiner Zweige bleiben möge.
24 Und sollen alle Feldbäume erfahren, daß ich, der HERR, den hohen Baum erniedrigt habe und den niedrigen Baum erhöht habe und den grünen Baum ausgedörrt und den dürren Baum grünend gemacht habe. Ich, der HERR, rede es und tue es auch.

Die liebliche Adventszeit nähert sich ihrem Schlusse. Das Frührot neigt sich vor der heraufsteigenden Gottessonne. Baden wir uns in deren ersten Morgenstrahlen, und beginnen wir, von dem seligen Geheimnis ihrer Erscheinung die Schleier zu lüften.

Das Alte Testament ist ein wunderreicher, herrlicher Gottestempel, in welchen aber das Licht von Oben fällt. Christus, die Sonne der Gerechtigkeit, muß ihn uns beleuchten. Treten wir ohne Ihn hinein, so tappen wir zwischen den stolzen Säulengängen umher wie die Blinden, und schauen weder Zusammenhang noch Schöne, sondern nur Rätselwerk und unergründliches Gewirre. Wird aber die Decke des Unglaubens von unserm Auge weggenommen, und betreten wir den erhabenen Gottesdom mit erleuchtetem Hinblick auf den „Heiligen in Israel“: sofort ergießt sich von oben her ein Strom des Lichts in das geheimnisvolle Dunkel, und wo wir vorher nur Steine des Anstoßes gewahrten, umgibt uns jetzt ein stützender, herrlicher Säulenbau. Das Sinnlose gewann hohe Bedeutung; das Verschlossene tat sich weit vor uns auf; das Rätselhafte ist auf’s lieblichste gelöst, und der Tempel liegt in seiner ganzen hehren und harmonischen Einheit vor uns ausgebreitet. Wohl hat der Kirchenvater Augustinus Recht, wenn er sagt, die Schrift des alten Bundes müsse gelesen werden, als ob sie mit dem Blute Christi geschrieben wäre. Schon manchmal haben wir sie so gelesen, und so lesen wir, denk’ ich, sie auch heute.

Was dünket euch um unsern heutigen Text? Eignet er sich nicht wohl für diese Tage der Rüstung zur heiligen Weihnacht, und für die Tage der Christbäume zugleich, dieser grünen schimmernden Sinnbilder Dessen, der da kommen sollte, und kam, und in welchem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis, des Heils und des Lebens verborgen liegen? Seht, auch Gott hat seinen armen Sündern auf Erden einen Weihnachtsbaum bereiten wollen. Die Aufstellung dieses lebendigen Urbildes unsrer irdischen Bäumlein wird in dem verlesenen Text uns angekündigt. In die Kammer, wo still und geheim die ewige Mutterliebe waltet, und auf die Ueberraschung und Erfreuung ihrer Kinder bedacht ist, führt uns das prophetische Texteswort. O süßer, dankenswerter Dienst, den es uns damit leistet! Gehen wir ihm stille nach, und beschauen den Christbaum, den uns Gott bereitet hat, zuerst seiner Natur, und dann seiner Bestimmung nach.

Sei der Geist des Herrn mit uns, und bereite er uns unter den Zweigen jenes Baumes ein Vorfest der nahenden Weihnachtsfeier.

I.

“So spricht der Herr, HERR.“ Ja wohl, Er sprachs, kein Anderer, wenn auch durch Ezechiel, seinen Seher. Daß Er, der den Mund geschaffen, nicht selber auf Erden sollte reden können, redet der unreine Mund der glaubenslosen Schwätzer unsrer Tage uns nimmer ein. „So spricht Jehova.“

Dies der Name, durch welchen er sich als den Unveränderlichen anzukünden pflegt, der Treue und Bund hält. – „So spricht Er.“ O, wir kennen Ihn. Er ist derselbe, von dem geschrieben steht: „Also hat Gott die Welt geliebt!“ – Was spricht er? Merkt, er verrät uns schon das süße Geheimnis seines Plans. In etwa wenigstens lüftet er bereits den Schleier. Ganz kann er es nicht verschweigen, was er im Sinne hat. Es sollten auch die Kinder schon sich freuen, die die Vollendung des Werkes seiner Liebe nicht erleben würden. – “Ich will auch“, beginnt er. Mit dem Wörtlein “auch“ winkt er auf ein Vorhergegangenes zurück. Was dies sei, besagen die früheren Verse unseres Kapitels. Von Nebukadnezar, dem Könige zu Babel, wird dort geweissagt, daß er wie ein Adler auf großen, breiten Flügeln daherrauschen, und den „Wipfel von der Ceder“, d.i. die Krone Israels, nämlich den Fürsten Zedekia und dessen Haus samt dem Volke in eine „Kaufmannsstadt“, d.h. nach Babylon verpflanzen werde. Eine traurige Botschaft! Da senkte wohl Mancher in Israel bekümmert sein Haupt und seufzte: „Wehe, wehe uns!“ Dies ging dem treuen Gott zu Herzen; und als hätte er sagen wollen: „Nun, seid nur getrost, grämt und härmt euch nicht zu sehr, und weint euch die Augen nicht aus, als ob nun Alles gar verloren wäre“, spricht er mit unendlicher Leutseligkeit: “Ich will auch vom hohen Tannen- oder Cedernbaume nehmen und setzen“, – und wir ahnen, in wie so ganz anderer und heilvollerer Weise Er dies tun will.

An wen aber denkt er bei seinem hohen „Cedernbaum“? An das Volk Israel? – Es könnte sein. War doch Israel in der Tat eine “Ceder“, ein hervorragendes herrliches Gewächs, durch die Offenbarungen und Gnadenführungen, deren der Herr es würdigte, auserwählt vor allen Stämmen und Geschlechtern der Erde; ein Volk einziger Bevorzugung und Bestimmung, ja ein Gottesvolk, wie in dem Sinn und Maß kein andres es war. Durch Israel sollten alle Völker der Erde erleuchtet, gesalzen und gesegnet werden. Ein hoher, herrlicher Cedernbaum war Israel, berufen, über den ganzen Erdkreis fruchtbeladene Äste auszubreiten. Dennoch ist unter der Ceder unsers Textes nicht sowohl Israel, das ganze Volk, als vielmehr nur ein einzelnes Haus desselben, und zwar David’s Haus und königlicher Stamm gemeint.

Ja, die Familie dieses Gesalbten, an welche Gott nach seinem freien Wohlgefallen die größte aller seiner Verheißungen knüpfte, das Geschlecht des „Mannes nach dem Herzen Gottes“, dessen Person und ganze Regierung ein prophetisches Gemälde abgab, und zu einem fortgehenden, umfassenden und sinnvollen Vorbilde des zukünftigen Messias und seines Reiches sich gestalten mußten, war die hohe Ceder, die dem Herrn bei unsern Worten vor Augen schwebte. Vom „Wipfel“dieses Baumes will er “nehmen“. – Vom Wipfel? – O, wir verstehn! Abraham, Isaak und Jakob bildeten die Wurzel des königlichen Baumes. In Judäa Salma, Boas, Ruth und Andern stieg mächtig und hoffnungsvoll der Stamm empor. In Obed und Isai fand derselbe seinen Abschluß, und in David und Salomon tat sich die grüne, laubige Krone auseinander. Des Baumes Wipfel bezeichnet die spätere Nachkommenschaft des Königes David. Die “obersten Zweigelein“, jener Krone, von denen der Herr zu “brechen“ beschlossen hat, sind die äußersten und letzten Sprößlinge des königlichen Hauses. Dasjenige der letzten Ässtlein aber, von welchem das große, herrliche Wunderreis entnommen werden soll, wo werden wir das zu suchen haben? Wir ziehn hinauf gen Zion; dort ist es nicht. Wir suchens in den Prunkgemächern der königlichen Hofburg; aber auch hier vergebens. Wir schauen innerhalb der Tempelstadt uns weiter um, und fragen Salems Töchter nach dem Zweigelein; – aber umsonst. Von einem Zweige der alten stolzen Königsceder, der noch grüne, weiß Niemand uns zu sagen. Wir reisen nach Bethlehem, in das arme stille Städtlein auf dem Berge; und siehe, da ist’s gefunden. In der tiefen Verborgenheit einer ärmlichen Hütte grünt’s, unbekannt der Welt; aber Gott dem Herrn und seinen Engeln um so bekannter. Selbst nicht wissend, wie hold es grünt, haucht es liebliche Wohlgerüche der Demut und Gottseligkeit um sich, und zarte, unsichtbare Gärtnerhände pflegen, hüten und betauen es. Das Zweigelein zu Bethlehem, das jungfräuliche aus David’s Stamm, heißt Maria, und nicht zu sagen ist’s, wie lieb und wert es ist vor Gott dem Herrn.

Von diesem letzten Zweig der Königsceder will der Herr “brechenein zartes Reis“; und gebt nur Achtung, dies Reis wird unser Christbaum. „Abbrechen“ will er’s. O, wir verstehn. Obgleich in’s Fleisch geboren von der menschlichen Mutter, soll es aus der gewöhnlichen, menschlichen Geschlechtslinie doch heraustreten und gesondert sein. “Abgebrochen“ soll es werden vom Stamm des Baumes, und zur Wurzel eines neuen, weit höhern und herrlichern Geschlechts sich gestalten. “Abgebrochen“, so daß das Haus David’s, wie das Geschlecht Abraham’s überhaupt, keine nähern Ansprüche an dasselbe habe, als die ganze Welt. “Abbrechen“ will es der Herr von dem besondern Stamm und Volk, darin es aufschoß und geboren ward, und hinauspflanzen will er’s in die große, weite Welt, daß es allen Völkern ohne Unterschied zu Heil und Segen stehe. Brauche ich’s nun erst noch auszusprechen, wer das Reislein sei? Forschet nur in den Propheten: gar oft ist dort von diesem Reis die Rede. Was sagt Jesaias? „Und es wird eine Rute aufgehn“, spricht er, „vom Stamme Isai und ein Zweig aus seiner Wurzel wird Frucht bringen, auf welchem wird ruhen der Geist des Herrn.“ – Wie lesen wir bei Jeremias? – „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß ich dem David ein gerechtes Gewächs erwecken will; und soll ein König sein, der wohl regieren wird.“ – Wie bei Sacharja? „So spricht der Herr Zebaoth: Siehe, es ist ein Mann, der heißet Zemach (d.h. ein aufgehend Reis), denn unter ihm wird es wachsen, und Er wird bauen des Herrn Tempel.“ – Genug, das Reis ist Christus; Immanuel ist das Reis, allerdings in David’s Linie geboren, Mariens Sohn; aber nichtsdestoweniger “abgebrochen“; oder, wie der Apostel sagt: “Abgesondert von den Sündern“, – empfangen vom heiligen Geist, das „Fleisch gewordene ewige Wort“, der heilige Gottmensch.

Christus also das “Cedernreis.“ Tiefes, bedeutsames Bild dies! Die Braut im Hohenliede ahnte es schon. „Seine Gestalt“, singt sie, „ist wie Libanon, auserwählt wie Cedern“, und Sirach läßt die persönliche ewige Weisheit von sich sagen: „Ich bin hoch gewachsen wie die Ceder Libanons.“ Die Ceder ist ein schöner Baum. „Siehe“, jubelt David unserm Könige entgegen, „du bist der Schönste unter den Menschenkindern; holdselig sind deine Lippen!“ – Sommers und Winters ist die Ceder grün, und verliert nimmer ihr Laub noch ihre Frische. Der ewig-grüne Lebensbaum ist Christus, wie er ja selbst einst sagte: „Wenn das am grünen Holz geschieht, was wird’s am dürren werden?“

Dem Pilger im Morgenlande, dem müden und in der Sonnenglut verschmachtenden, ist nichts willkommener, als der breite Schatten des mächtigen Cedernbaumes. Wie kühl und ladend ist müden und bedrängten Seelen der Schatten, den Christus und sein Keruz um sich verbreiten! Kein Holz ist dauerhafter, und darum geeigneter, zu Tragbalken und Fundamenten gebraucht zu werden, als das Holz der Ceder, welches kein Wurm zernagt und keine Fäulnis anfrißt. Christus ist das ewige und unzerstörbare Fundament, worauf wir das Haus all’ unsrer Hoffnungen zu gründen haben, wenn es bleiben soll. Ein „zartes Reis“ wird der Verheißene genannt. So sproß er auf, der holde Sünderfreund. Er kam als Kindlein zart, damit uns von vornherein die Furcht verginge. Arm kam er, ohne weltliches Gepränge, damit die Niedern und Geringen ein Herz zu ihm fassen und nicht etwa denken möchten, daß ein so vornehmer, hoher und großer Herr für sie wohl nicht gekommen sei. Sanftmütig und von Herzen demütig trat er herein, ein guter Hirte, der weder „das zerstoßene Rohr zerbrechen, noch den glimmenden Doch auslöschen“ wollte. So kam er, daß Keiner sich gehindert fühlen konnte, mit bestem Mute zu ihm hinzuzutreten, und ihm sein Leid und seine Not zu klagen. Und in der Tat, so voller Milde und brüderlichen Wesens mußte er uns auch entgegentreten, wenn wir armen, von unserm Gewissen gerichteten und blöden Leute nicht vor ihm erschrecken, sondern Mut und kindliches Vertrauen zu ihm fassen sollten.

II.

So kennen wir denn das köstliche Wunderreis. Hören wir nun auch, was Gott der HErr mit demselben vorhat, und betrachten wir des Reisleins Bestimmung. So spricht der Herr: “Ich will es auf einen hohen gehäuften Berg, ja, auf den hohen Berg Israel will ich es pflanzen.“ – Dies ist das Erste, was wir von Gottes Absicht mit dem Reis vernehmen. Wer verstünde die Rede Jehovah’s nicht? Israel war in der Tat ein von hellem Sonnenschein umflossener Berg, während alle andern Völker eher einer öden Steppe, oder einem nebelvollen Getal vergleichbar waren. Israel ragte hoch hervor als das auserwählte Volk, verordnet, der lebendige Behälter des Lichts zu sein, das alle Welt erleuchten sollte. Wie ein hehrer, heiliger, reichbetürmter Dom die niedern, dunkeln Hütten einer Stadt, so überragte es durch die Offenbarungen, die ihm zu Teil geworden, alle übrigen Völker der Erde. Es war ein “gehäufter“ Berg. Nicht durch sich selber war Israel geworden, was es war. Es war “gehäuft“ und hoch gekommen durch des Herrn Hand. Der freien Gnade verdankte es seine Bevorzugung und Erhöhung. Auf diesen lebendigen Berg wurde nun das herrliche Gottesreis “gepflanzt“. Auf ihm ward für die Welt der unvergleichliche Christbaum aufgerichtet. So wie man vor Alters Paniere auf hohen Bergen aufzuwerfen pflegte, damit sie weit und breit gesehen würden, und den Stämmen zum Zeichen und Winke dienten, sich um sie zu scharen, so ward Christus als ein Sammelpanier auf den Berg Israel gesetzt, d.h. er wurde in das Volk Israel, auf welches wie auf kein andres Land und Volk der Erde die Augen Aller gerichtet waren, im entfalteten Glanze seiner Wunderherrlichkeit hineingestellt, damit alle Welt Ihn sehe, und alle Herzen zu ihm sich schickten. Und als dann nachmals die Apostel, diese edelsten Söhne des alten Juda, mit ihrer großen Botschaft hinauszogen in alle Welt, da stand das Cedernreis recht auf dem hohen Berge Israel, und die Heiden erschauten’s weit und breit, und besiegelten’s, ihm Hosiannah jauchzend, daß „das Heil in Wahrheit von den Juden komme.“

Aber was soll das Reis? – Es soll “Zweige treiben,“ spricht der Herr, “und Früchte bringen“ und “ein herrlicher Cedernbaum werden.“ – O welche süßen Geheimnisse liegen hinter diesen Bildern verborgen!

“Zweige gewinnen“ soll es zuvörderst, sagt der Herr. „Ich bin der Weinstock“, spricht er bei Johannes, „und ihr seid die Reben.“ Er könnte auch sagen: „Ich bin die Ceder, und ihr seid die Zweige.“ – Ihr? – Wer? – Ihr Alle, die ihr nicht selbst mehr lebt, sondern Christum in euch lebend habt, und, was ihr noch lebet im Fleisch, im Glauben des Sohnes Gottes lebet, der euch geliebet und sich selbst für euch dahingegeben hat; ihr, die ihr vom dürren, toten Stamme des natürlichen Lebens und Wesens abgebrochen, und Christo durch den heiligen Geist im wahren Glauben eingepfropft und einverleibt wurdet: ihr seid die Zweige an der Gottesceder. O, es gehört viel dazu, daß man ein Zweig an Christo werde. Da gilt’s, sein eigen Leben verlieren, sich aller Zuversicht zu sich selbst entschlagen, und in gründlichem und umfassendem Gefühle seines eigenen Nichts mit Leib und Seele in die Gnadenhände des Gekreuzigten sich befehlen, und alle seine Hoffnung ausschließlich auf sein Verdienst und seine Gnade gründen. Da gilt’s, mit dem Blicke seines Glaubens, mit den Gebeten seiner Lippe, mit den Begierden seines Herzens und der ganzen Sehnsucht seiner Seele an Ihm alleine hangen, und nirgends anders her, als von Ihm, der einzigen Lebensquelle, seinen täglichen geistigen Unterhalt erwarten.

Ward Er so unser Eins und Alles, und der lebendige Mittelpunkt unsres Gedenkens und Empfindens, unsres Hoffens und Begehrens, dann verwuchsen wir mit Ihm als seine Zweige, die aus Ihm ihr Leben und ihre Nahrung ziehn, und aus seinem Safte grünen, blühen, und liebliche Früchte treiben. Das “Reis“ treibt sie, wie unser Text besagt. Unsre Früchte sind Christi, der sie in und durch uns schaffet. Christus ist unser Leben, und aus diesem Leben ersprießt all unser Gutes. So ist’s mit unserm Rühmen aus; und aller Ruhm gebührt allein der Gnade. O wie ein herrlicher Cedernbaum ist das Reis bereits geworden, und wie wird es zu einem solchen von Tag zu Tage mehr! Wer kann die grünen, glänzenden Zweige alle zählen, die ihm gewachsen sind, seitdem es so unscheinbar zu Bethlehem aufschoß? Siehe da, Johannes und Petrus, Paulus und Jakobus und die übrigen Apostel alle: welche Äste an der Gottesceder! Und die Frauen Maria und Magdalena, das kananäische Weiblein, und wie viele sonst: welch lieblich blühend Gezweig an dem Herrn, auf das tiefste und innigste mit Ihm verwachsen! Und nun gedenkt an die Unzähligen, die seitdem auf Erden sich ihres Lebens begaben, um des göttlichen in Christo teilhaftig zu werden; an die Kirchenväter und die Reformatoren; und an die tausend und aber tausend lieblichen Tauben in den Felslöchern, die mehr dem Herrn, als der Welt bekannt geworden; und faßt mit ihnen in Eins zusammen auch die Gläubigen alle der Gegenwart, innerhalb und außerhalb unsrer Grenzen, unter Christen wie unter Heiden, sie, die Alles für Schaden und Unrat erachteten, auf daß sie Christum gewännen, und denen Er Licht und Leben, Friede und Freude geworden ist: – diese Alle vergegenwärtigt euch im Geiste, und der herrliche Cedernbaum, Christus mit seinen Gläubigen, steht in seiner vollen Pracht vor euern Augen. Welch ein Baum! Welch grünes, blühendes, fruchtbeladenes Gezweig, das ihn umrauscht! Welch eine mächtige, dichtbelaubte, weithin schattende Krone, und in der Krone welch ein Wehen, Säuseln und Rauschen heiligen Lebens und göttlicher Liebe!

Doch in unserm Texte, so dünkt mich, ist weniger von dem mystischen Christus, d.h. dem Christus in Vereinigung mit seinen geistlichen Gliedern, als von dem persönlichen und individuellen die Rede; und wenn von dessen Zweigen die Rede ist, so haben wir freilich darunter etwas Andres zu verstehen. Das zarte und unscheinbare Reis des Cedernbaums hat sich auch insofern entfaltet und belaubt, als es selbst mehr und mehr zu einem fruchtbaren Himmelsbaume für uns erwachsen ist. Das arme Kindlein in der Krippe nahm zu, und entwickelte eine immer reichere Fülle göttlicher Herrlichkeiten und Gnadenwirksamkeiten; eine Fülle, die Niemand hinter der zarten Knospe hätte ahnen sollen. Sein Lehrer- und Prophetenthum war der Äste einer, die das Reis getrieben; sein Mittler- und Hohepriestertum war ein andrer; sein Königtum ein dritter; und wer nennt und zählt die unvergleichlich köstlichen Früchte alle, womit diese Zweige sich für uns beladen haben? Von seinem Prophetentum brechen wir als Beute die Wahrheiten zur Gottseligkeit, die uns wie Sterne Gottes mit untrüglichem Lichte den Lebensweg erhellen.

Von seinem Hohenpriestertum ernten wir die Vergebung aller unsrer Sünden, die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und den Frieden, welcher höher ist, als aller Menschen Vernunft. Die Früchte seines Königtums sind die Erneuerung unsrer Herzen durch den Geist, die Bewahrung unsrer Seelen unter den Anläufen des Bösewichts und der Welt, und die vollendete Heiligung, Verklärung und Beseligung, die unsrer jenseits warten. So ward er auch in diesem Sinne ein herrlicher und wunderreicher Cedernbaum, und er ist es heute noch und bleibt’s in Ewigkeit. – “Allerlei Vögel“, spricht Jehova weiter, “sollen unter ihm wohnen, und allerlei Fliegendes unter dem Schatten seiner Zweige bleiben.“ Es ist auch dies bereits geschehen, es geschieht, und wird in größerem Maßstabe noch in Zukunft sich erfüllen. Die Vöglein sind die Seelen der Menschen, sofern sie von Christo noch geschieden sind, und darum noch ruhelos in der Irre schweben, und, der Taube Noahs gleich über den Brandungen der Sündflut flatternd, noch nicht fanden, wo ihr Fuß ruhen könnte. O wie viel Tausende und aber Tausende gelangten bereits unter dem Schatten des himmlischen Cedernbaums zu ihres Hungers und Kummers, Sehnens und Begehrens Ziel; allerlei Fliegendes: Weiße, Schwarze, Braune, Ehrsame, Verkommene, Leute aus allerlei Volk und aus allen Verderbenstiefen. Sie kamen zur Ruhe im Schatten seiner Zweige, und fanden tiefe Sättigung an deren Himmelsfrüchten. Und der Cedernbaum hat noch seine größere Zukunft. “Es sollen alle Feldbäume erfahren“, spricht der Herr zum Schlusse, “daß Ich, der Herr, den hohen Baum geniedrigt und den niedrigen Baum erhöhet, den grünen Baum ausgedorrt und den dürren Baum grünend gemacht habe. Ich, der Herr, rede es und thue es auch.“ – Habt ihr verstanden? – Hier wird Christo und seiner Sache nichts Geringeres, als der endliche Triumph über die ganze Welt verheißen; und dieser Verheißung zugleich mit dem erhabenen: “Ich der Herr, rede es und tue es auch“ das Insiegel des allmächtigen Gottes aufgedrückt. Die “Feldbäume“ sind die Eingebildeten und Hochfahrenden, die, wild hinwachsend, dem Cedernbaume nichts verdanken wollen, sondern, auf eigner Wurzel grünend, keck vermeinen, ohne Ihn bestehen, ja mit Ihm sich messen zu können. Sie werden erfahren, daß der Herr den hohen Baum, d.i. den Baum, der hoch ist in den eigenen und in den Augen der Welt, sei es eine Philosophie, eine gepriesene Zeitbildung, oder was sonst es sei – “geniedrigt“ d.i. in seiner Nichtigkeit offenbar und zu Schanden gemacht; dagegen den “niedrigen“ Baum, d.i. den verkannten, den verschmähten, den mit Verachtung, Hohn und bitterm Widerspruch überhäuften, “erhöhet“ habe. Erfahren werden sie, daß er den “grünen Baum“, den mächtig um sich wuchernden und von aller Welt gepriesenen, “ausgedorrt“; dagegen den “dürren“ Baum, dem man tausendmal schon den nahen Untergang geweissagt, “grünend“ gemacht habe. Wie oft schon hat sich dieses Verheißungswort geschichtlich erfüllt! Die prunkende Herrlichkeit Babylons, Aegyptens, Roms und Athens, wo blieb sie? Längst sank sie verdorrt dahin; und was über ihrem Grabe siegreich ergrünte und stolz sein Haupt erhob, wisset ihr. Wie wird es der Zeitweisheit ergehn, der gassenläufigen, die heute auf Erden sich so breit macht? – „Sie wird Christum samt seinem Evangelium überwinden!“ posaunen ihre Bannerträger und Vertreter. Was gilt’s? Nicht Jahrzehnte mehr verfließen, und auch sie wird in der Schande ihre Blöße offenbar geworden sein. Du aber, Baum Gottes, jetzt scheinbar hin und wieder dem Verdorren nah, hast unterdessen einen neuen Schluß getan, und unsre Kinder und Kindeskinder führen den göttlichen Singetanz um dich, als um den einigen Baum des Lebens, als um den Baum der rechten und der wahren Freiheit!

„Aber erst in Zukunft wird man des Baumes sich freuen?“ – Nein, Freunde, heute schon! Das Fest ist vor der Tür, an dem sich die Weihnachtskammer der ewigen Mutterliebe wieder vor uns auftun, und der wundervolle, lebendige Christbaum, den sie uns bereitete, in der ganzen Herrlichkeit seiner tausend Lichter und Himmelsgaben vor unsern frohen Blicken sich entschleiern wird. Das ist der Baum für Alle, Alle. Ihr Mütter, dir ihr heimlich trauert, daß ihr das irdische Abbild dieses Baumes für eure Kinder nur so kärglich auszustatten im Stande seid, trauert nicht. Führt eure Kinder zu dem lebendigen himmlischen Urbild, wo ihnen, wie euch selbst, so reich beschert wird, daß reicher einem Könige und Kaiser nicht beschert werden könnte. O, welch ein Christbaum, der dort aus Bethlehem uns entgegenschimmert! Bei den irdischen Bäumlein in unsern Hütten kann uns wohl traurig zu Mute werden, daß wir, weil alt geworden, nicht so mehr uns freuen können, wie wir als eines süßen Traumes uns erinnern, in den Kindheitstagen uns gefreut zu haben. Aber vor dem Christbaum unsres Gottes bleiben wir ewig jung und frisch, und das herzliche, kindliche Freuen wächst da mit den Jahren, statt abzunehmen. Daß nur nicht Undankbare zu dem Feste nahn! Wie weh kann uns schon werden, wenn bei unsrer armen Christbescherung unsre Kinder gleichgültig stehn, und nicht recht fröhlich scheinen! Was Alles aber hat erst der himmlische Vater uns an die Äste seines Baumes gehängt; und hier sollten wir stumm und ohne Jubel und Frohlocken bleiben können? – Daß Keiner auch mißtrauisch nahe, als wäre seiner bei der reichen Bescherung nicht gedacht! Ei, eines Jeglichen Namen liegt auf den königlichen Gaben, vorausgesetzt, daß er nur Sinn für solche Angebinde mitbringt, und ihrer inniglich begehret. Der liebe Vater in der Höhe sieht hier so wenig unsre tugendlichen wie unsre leiblichen Kleider an, sondern fragt nur, ob seine Geschenke uns wohl gefallen. Und tragen wir Verlangen darnach, so spricht er: „Langet zu“, und freut sich, wenn er die allerbesten Früchte von seinem Heilsbaum uns brechen sieht. Als Dankopfer begehrt er nichts, als uns selbst. Kommt denn, und werdet reich von den Gütern seines Hauses. Getrauet ihr euch aber zu dem göttlichen Christbaum noch nicht hinzu, o so hört doch den Herrn durch Hosea Cap. 14. auf’s neue sagen, und in diesem Worte gleichsam stärker noch das labende Glöcklein ziehen:

„Ich will sein eine grünende Tanne; an mir soll deine Frucht gefunden werden!“

Was wollt ihr mehr? Folgt denn, und nehmt; – und als Antwort auf jenen süßen Spruch töne bald aus eurer Aller Herzen heraus das Wort der Braut im Hohenliede. “Ich sitze unter dem Schatten des, des ich begehre, und seine Frucht ist meinem Gaumen süße.“

Amen.

Quelle: Friedrich Wilhelm Krummacher: Predigt, gehalten am 4. Adventssonntage
In: Glaubensstimme – Die Archive der Väter

Letzte Überarbeitung am 24. Oktober 2022