Ein kleines Kind, das erst anfing gehen zu lernen, übte sich mit schwachen Schritten an Stühlen und Bänken; die Mutter saß unfern davon und lockte es mit vielen liebreichen Worten und Darzeigung der entblößten Brust, daß es sich abgeben und allein ohne Anhalt zu ihr kommen sollte. Solches that endlich das Kind und setzte mit großer Furcht und Behutsamkeit ein Füßchen nach dem andern fort, bis es mehrentheils hinan war, da es der Mutter mit kindlicher Freude in die Arme und Schooß fiel. Gotthold sah dieses mit sonderlicher Lust an und dachte bei sich selbst: wie gar schön ist mir hierin die Uebung meiner Seele abgebildet?
Mein allerliebster Erlöser, was ist mein Christenthum anders als das furchtsame Stolpern dieses Kindleins! Was ist meine Vollkommenheit als eine erkannte und bereute Unvollkommenheit! Was ist mein Vermögen als Schwachheit! Du aber handelst recht mütterlich mit mir, du lockst mich mit den süßen Worten deiner Verheißung; du zeigst mir die eröffnete Brust deiner Gnade und ewigen Trostes, du hält mir deine ausgebreiteten Arme entgegen. Nun, mein Herr Jesu, ich will kriechen, wo ich nicht gehen kann, ich will mich halten an dein Wort; strauchle ich, so wirst du mich halten; falle ich, so wirst du mir dein Kreuz darreichen, daß ich mich daran wieder aufrichten könne, bis ich endlich zu dir komme, da ich dir mit aller meiner Schwachheit, Unvermögen, Trübsal und Noth will in den Schooß fallen.
Ich lieg im Streit und widerstreb‘,
Hilf, o Herr Christ, mir Schwachen!
An deiner Gnad‘ allein ich kleb‘,
Du kannst mich stärker machen.
Quelle:
M. Christian Scriver (Scriverius): Gottholds Zufällige Andachten: Hrsg. und Verl. vom Evangelischen Bücher-Verein, 4. Aufl., Berlin 1867. [Digitalisat]