Von der gänzlichen Erneurung durch Christum
Da aber erschien die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unsers Heilandes, nicht um der Werke willen der Gerechtigkeit, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit machte er uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des heiligen Geistes, welchen er ausgegossen hat über uns reichlich durch Jesum Christum, unsern Heiland, auf daß wir durch desselben Gnade gerecht und Erben seien des ewigen Lebens nach der Hoffnung. Das ist gewißlich wahr; solches will ich, daß du fest lehrest, auf daß die, so an Gott gläubig geworden sind, in einem Stand guter Werke gefunden werden. Solches ist gut und nütze den Menschen.
(Titus 3, 4-8)
Gott ist ein Licht und der Mensch ist Finsterniß. Somit wären sie ewig getrennt und der Mensch zu allem Guten untüchtig geblieben, wenn nicht die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes unsers Heilandes erschienen wäre. Der Mensch wäre zu allem höllischen Unwesen, und zu allem, was Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen hervorbringen kann, ihn unglücklich zu machen, fähig gewesen. Wäre die Schöpfung ein Ungefähr oder hätte Gott aufs Gerathewohl geschaffen, so wäre die ganze Schöpfung in alle Ewigkeit unglücklich geblieben. Aber der, der die Menschen aus Liebe erschaffen hat, hat hinausgesehen bis ans Ziel der Ewigkeiten, bis alles wiederbracht werden wird. Darum ist die Weisheit, die es ihm vorgespielt hat, ins Mittel getreten; sie hat hinausgesehen, daß die Menschheit wiederbringungsfähig ist und daß die Herrlichkeit viel größer werden wird als sie vorher war.
Es ist eine Thorheit, wenn die Menschen meinen, das Bekehren sei eine Affaire von einer Stunde oder einem Tag. O kleinliche Gedanken von der Würde des Menschen! Es erfordert viel, bis der Mensch wieder ganz neugeboren ist; der Sündenmöglichkeitsarten sind unzählige. Und wenn wir nicht einen hätten, der ohne Sünde war und die Sünden aller auf sich genommen hat, so wäre unsere Wiederherstellung gar nicht möglich; er hat auch alle Folgen aller Haupt- und Nebensünden über sich ergehen lassen.
Es steht in des Menschen Wahl; er kann, was die Uebergabe an Jesum betrifft, bedingt oder unbedingt handeln. Wer bedingt handelt, der ist unter die Lohnsüchtigen zu rechnen, welche sich um des Lohnes der Seligkeit willen etwas gefallen lassen. Wer sich ihm aber unbedingt ergibt, weil er in seiner Nüchternheit sieht, daß man nichts davon bringt, der bekommt einen ganz andern Standpunkt. Mancher wird, er weiß nicht wie, wieder in Versuchungen hineingezogen, weil er sich n u r b e d i n g t ergeben hat.
„Verlaß dich auf den Herrn von ganzem Herzen, und verlaß dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen“ (Spr. 3, 5.6). Ich darf mir doch die Wahrheit sagen; wer sie hören will, der kann davon nehmen, was er will; wer sie nicht hören will, kann schlafen. Ich muß mich zuerst fragen: Hangst du nicht an dir mehr als an Gott und Jesu? Erkennst du alles, und wirst du los von allem, was Stricke und Fesseln für dich werden können? Alles Schädliche kann im Licht Gottes erkannt werden. Warum will ich denn mit meinen Begierden alles in mich hineinnehmen und mich aufhalten lassen? Was nützt ab das Schmeicheln und Heucheln meiner selbst und anderer? Ich muß mir die Wahrheit im r e i n s t e n Sinn selbst sagen; dann heißt es immer mehr: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh. 8, 32). Es ist mir eine unschätzbare Gnade, daß ich weiß, ich bin noch nicht verstockt und blind, und ich will mich von ganzem Herzen zu Gott bekehren, und das bloß durch seine Barmherzigkeit, die er über die ganze Menschheit durch seinen Opfergang ausgebreitet hat. Er hat uns auch die Mittel gegeben, nämlich Wiedergeburt und Erneurung des heiligen Geistes. Was kann einer mehr thun, als wenn er sich ganz an einen setzt? Wenn der Heiland auch nur etwas daran gewendet hätte, wäre es schon viel gewesen, aber daß er uns gänzliche Erneurung durch sein Daransetzen gebracht, das ist übergroß! Nun können wir durch seine Gnade gerecht und Kinder, also Erben seines Reichs werden. Ob es auch bei uns wirklich hiezu kommt, zeigt sich darin, wenn wir hinter ihm drein gehen und mit leiden. Dies ist aber nichts Verdienstliches, sondern es sind Scheidungsmittel, daß wir nicht in der Minderjährigkeit bleiben, sondern zur Volljährigkeit kommen. Dieser Hoffnungsgrund muß in uns liegen, sonst ist es bei uns gerade das Gegentheil, von dem was Paulus sagt: „Ich laufe aber nicht aufs Ungewisse“ (1. Kor. 9, 26).
Der Geist Gottes will solche Nachfolger, die im Aufsehen auf ihn ihren Lauf fortsetzen und vollenden. Je mehr einer durch diese Gnade zur Volljährigkeit kommt, desto gegründetere Hoffnung hat er. Der Mensch findet nicht außer sich, was er sucht, sondern er muß allen Mitteln entsagen lernen, wenn ihm Jesus hineinruft. Die Anbetereien der äußern Mittel muß er verleugnen, dann bekommt ers innerlich. Darum hineinwärts, bis zu Gott und Jesu hinein. Wer dies nicht thut, bei dem ist kein Wachsthum. „Entweder ganz mein, oder laß gar sein“!
(1854)
Quelle: Kurzer Lebensabriss von Immanuel Gottlieb Kolb, Schulmeister in Dagersheim, nebst einer Sammlung von Betrachtungen, Briefen etc., S. 5o1-503. Von seinen Freunden herausgegeben. Fünfte Auflage, Dagersheim, zu haben bei Gebrüder Ziegler, 1868. [Digitalisat]
Allein oder laß es gar sein
Ei, teil dein Herz doch nicht; dein Alles Gott ergiebe
Und deine Liebe ganz in ihn allein einführ!
Dein kleines Herz hat doch noch viel zu wenig Liebe,
Um ein unendlich Gut zu lieben nach Gebühr.
(Tersteegen, Geistliches Blumengärtlein)
Bibelverse: Luther 1912 (bibeltext.com)