Immanuel Hesse (1875-1918)

Carl Immanuel Philipp Hesse, geboren im Pastorat Theal-Fölkiz, Juli 1875, ermordet zu Wrangelstein in Virumaa/Estland, 18. Dezember 1918, war ein deutsch-baltischer Pastor. Er gilt als evangelischer Märtyrer und ist auf dem Rigaer Märtyrerstein verzeichnet.

Als sechster Sohn des Pastors Theodor Hesse geboren, wuchs Hesse im großen Geschwisterkreise heran und erhielt in der„Hausschule“ des Pastorats seinen ersten gründlichen Unterricht. Nach den Gymnasial-, Uni­versitäts- und Vikariatsjahren wurde er 1907 Pastor zu Jewe. Was ihm an Rednergabe fehlte, ersetzte er durch den hohen Ernst, von dem sein ganzes amtliches Wirken getragen war. Sein ursprünglicher sprudelnder Humor machte bei der sich mehrenden Arbeitslast und Sorge für seine dreizehntausendköpfige Landgemeinde fröhlich-stillem Wesen Platz.

Acht Jahre gesegneten Wirkens waren ihm in Haus und Gemeinde beschieden. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schlug 1915 die Verschickung Hesses nach Sibirien in dieses reiche Glück. Mit ihm mußten neun andere estländische Pastoren den weiten Weg in die
garstige Fremde antreten. Als Grund wurde genannt: sie hätten Ga­ben für die deutsche Leipziger Mission empfangen. Nach neun Monaten schwerer Verbannung erhielten sie die Erlaubnis, zurückzukehren, denn ihre Verbannung sei ein „Versehen“ gewesen. Kaum heimgekehrt, begann die erste russische Februarrevolution. Auch das stille Jewe wurde davon ergriffen, im Pastorat wurden Haussuchungen nach Waffen und Kaiserbildern gemacht. In der Kirche wurden die alten Bilder der Patrone zertrümmert.

Im Frühjahr 1918 befand sich unter dcr großen Schar der Kon­firmanden auch ein 21-jähriger, der Hesse viel Sorge machte. Als er bei der Einsegnung lachte, schloß Hesse ihn vom Abendmahl aus. Diese Zurücksetzung löste verschiedene Rachepläne aus. Ein Anschlag, den Pastor auf einer Fahrt zu einem fernen Gehöft, wo ein Paar zu trauen war, abzufangen, mißlang, weil Hesse, rechtzeitig gewarnt, auf einem anderen Wege heimkehrte.

Die Deutschen befreiten Jewe vom roten Terror am 1. März 1918. Am 29. November aber zogen die deutschen Truppen ab. Die Balten blieben in einer schweren Lage. Die Roten, die Narwa besetzt hatten, konnten jeden Augenblick in Jewe sein. Hesse brachte seine Frau und  seine vier kleinen Kinder in ein abgelegenes Bauerngehöft in Sicherheit und fuhr selbst ins Pastorat zurück, um am folgenden Tage, dem 1. Advent, zu predigen. Von der Kirche fuhr er auf ein Gut, um die Bewohner zu warnen und sie zur Flucht zu bewegen, brachte noch einer darbenden Flüchtlingsfamilie Hilfe und kehrte erst dann zu seiner Familie zurück. Schon auf dieser Fahrt merkte er, wie der Revolutionswahnsinn die Leute gepackt. Keiner grüßte ihn mehr, aber jeder schimpfte ihm, dem Deutschen, nach. Im Bauerngehöft, wo die Seinen untergebracht waren, erklärte ihm der Bauer, er könne ihn
und die Seinen nicht mehr beherbergen, denn durch ihre Anwesenheit drohe seinem Gehöft Gefahr. Hesse fuhr mit den Seinen in das Nachbarkirchspiel zu einem alten ehrwürdigen Lehrer, der ihn freund­lich aufnahm. Hier, von aller Welt abgeschieden, waren ihm noch zweieinhalb Wochen reichen Zusammenlebens mit den Seinen be­
schieden.

Die Gerüchte wurden immer drohender und erfüllten sonderlich das Herz der Pastorin mit banger Sorge. Am letzten Abend betete Hesse mit ihr, um sie stille zu machen und um sich zu stärken, über den Psalm 27: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil“… auch die Worte: „Und wenn es sein kann, bewahr uns vor einem schnellen Tode“. Er selbst war frei vom Gefühl der Angst, wie er es seiner Frau bezeugte, obgleich er ganz klar den Ernst seiner Lage erfaßte. Am letzten Morgen sagte er: „Gott sei Dank, wieder eine ruhige Nacht.“ Kurze Zeit darauf erschienen rote estnische Soldaten, um ihn fort­zubringen. Sie ließen ihm noch zwei Stunden Zeit, alles zu ordnen.

Er feierte das heilige Abendmahl mit seiner Frau. Er bat sie, ihm noch einmal den 27. Psalm vorzulesen, an dem seine Seele wie am Abend zuvor sich stärkte, ganz besonders im Hinblick darauf, daß „die Roten von ihm verlangen könnten, daß er seinen Glauben verleugne“. Dann nahm er Abschied von Frau und Kindern und wurde nach dem 10 Kilometer entfernten Gute Wrangelstein geführt, wo der rote Stab residierte. Mit Hesse wurde auch der alte Schullehrer, der ihn so freundlich beherbergt hatte, hingeschleppt; dieser wurde noch an dem­ selben Abend freigelassen und erzählte, wie Hesse mit Spott und Hohn empfangen worden sei: „Du bist wohl gekommen, uns hier das Abendmahl zu reichen?“ Hesse wurde verhört (s. S. 46). Es hat sich später ein Protokoll darüber gefunden, worin Hesse beschuldigt wird, vor den Roten geflohen zu sein, was seine konterrevolutionäre Ge­sinnung bekunden sollte. Nach mündlichem Bericht soll von ihm ver­langt worden sein, eine Erklärung zu unterschreiben: „Alles, was er gepredigt, sei erlogen.“ Er soll die Unterschrift verweigert haben, das Papier zerrissen und es dem Richter vor die Füße geworfen haben.

Feststellen läßt sich letzteres nicht. Wenn überhaupt Protokolle ge­führt wurden, so wurden da nur die alleräußerlichsten Dinge nam­haft gemacht. Es muß jedenfalls irgend was Absonderliches beim Verhör vorgekommen sein, denn sie haben seine Augen verstümmelt, d. h. geblendet, was sonst bei keinem der vielen Morde geschehen ist.

In der Frühe des folgenden Morgens haben sie ihn an einem Fluß­rande erschossen.
Der von ihm in Zucht genommene Konfirmand hat den Zufluchtsort Hesses den Roten verraten und sich an der Ermordung beteiligt. Dieser elende Konfirmand fiel bald darauf im Kampfe. Am geblendeten Konfirmator aber wird sich erfüllen, was in Psalm 27 im 13. Verse steht:

„Ich glaube aber doch, daß ich sehen werde das Gute des Herrn im Lande der Lebendigen“

Quelle:

Pastor Oskar Schabert: Baltisches Märtyrerbuch, Furche-Verlag. Berlin 1926. S. 70-73. [Digitalisat, pdf]