26. Selbstgericht. (1. Korinther 11, 31)

„So wir uns selber richteten, so würden wir nicht gerichtet.“
1. Kor. 11, 31

Das willst Du, Herr, daß der Mensch sich selbst richte und erniedrige. Denn „wer sich selbst erhöhet, wird erniedrigt werden und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöhet werden“, Luk. 18, 14. Du stößest die Gewaltigen vom Stuhle und erhebest die Niedrigen, Luk. 1, 52.

Wie deutlich hast Du dein Wohlgefallen ausgesprochen, das Du an dem Selbstgerichte jenes Zöllners im Tempel hast! Auge und Hand, Stand und Sprache, Geist und Wort – Alles ist von diesem Einem durchdrungen: er richtete sich selbst. So richten alle Deine Kinder ihre Füße in das Tal der Demut und wandeln mit tiefgebeugtem Sinne. Abraham, welchen die Schrift den Vater der Gläubigen nennt, spricht von sich, daß er Asche und Staub sei, 1. Mose 18, 27.

Johannes der Täufer ist derjenige, neben welchem Keiner größer ist unter Allen, die von Weibern geboren sind, Matth. 11, 11. Er ging daher im Geiste und in der Kraft des Elias, Luk. 11, 17. Er selbst aber achtet sich nicht wert, Gott den geringsten Dienst zu leisten, Joh. 1, 27. Wie berühmt ist Paulus, der Prediger der Gerechtigkeit, der mehr gearbeitet hat, denn die Andern Alle, 1. Kor. 15, 10! Aber er nennt sich den Vornehmsten unter den Sündern, 1. Tim. 1, 15. Welch Zierde der Demut zeichnet, o Herr, alle Deine Kinder aus! Welch ein Dir wohlgefälliger Schmuck wird meinem verborgenen Menschen eben diese im Selbstgericht geborne und im Schuldbewußtsein groß gewachsene Demut sein! Lebte ich, wie Deinen Kindern ziemt, im Selbstgerichte, so würde ich mich in Wahrheit mit Paulo
für den größten unter den Sündern halten und würde mich alles Trostes unwürdig, hingegen aller Widerwärtigkeit würdig achten, über keine Nachrede mich erzürnen, gern verborgen und unbekannt bleiben, lieber meine Fehler als meine Tugenden offenbaren, ohne Zorn mich schelten und ohne Selbstgefälligkeit mich loben lassen, des Nächsten Fehler mit herzlichem Mitleiden strafen, alle Widerwärtigkeiten ohne Ausnahme als von Gott Selbst aufnehmen, die Quelle aller Unruhe und Mißvergnügens in mir selbst suchen.

In welcher Kraft und in welchem Frieden würde ich einhergehen, wenn ich durch Selbstgericht gebeugt wäre! Aber, o mein Gott, wer bin ich? Du weißt es. Eins darf und will ich tun – Dich, o Jesu, der Du Selbst bis in den Tod erniedrigt bist, bitten, Du wollest mir die Gnade der Demut gönnen. Wie viel Ursache habe ich zur Selbsterniedrigung! Gott ist mein Schöpfer, ich bin ein Hauch aus Seinem Munde. So wäre es billig und recht, daß ich
Dich, mein Gott, aus allen Kräften und von ganzer Seele liebte. Nicht die Sterne am Himmel haben ihre Ordnung, worin Du sie gesetzt, verlassen, nicht die Winde sind Dir ungehorsam geworden; aber ich kleine Kreatur bin von Gott und Seiner Liebe gewichen. So viel und weithin ich zurückdenken kann, finde ich in mir bei aller sonstigen Lust eine Unlust gegen Gott – bei allem Hunger nach Freude einen tiefen Mißmut, Gott allein meine Freude sein zu lassen. Ich bin von denen, von welchen der Prophet sagt, daß sie die lebendigen Quellen verlassen und sich löchrichte Brunnen ohne Wasser gemacht haben, Jerem. 2, 13. Und wie hätte ich wandeln können den Weg der Gebote Gottes, da die einige Kraft – die stille, starke Liebe – in meinen Gebeinen vertrocknet war? Das ist meine Torheit, mein Jammer – meine Schuld, meine große Schuld. Darin will ich mich selbst richten. –

Gott hat mich getragen auf Adlersflügeln, 2. Mos. 19, 4. Wie manche Grube, darin kein Wasser ist (1. Mos. 37, 24) hätte mich verschlungen, wenn Gottes Hand mich nicht entrückt hätte. Mein Fuß war oft verwickelt in ein tödliches Netz. Aber Du, Herr, hast meinen Fuß aus dem Netze gezogen, Ps. 25, 15. O mein treuer Gott! Dafür soll ich Dich des Tages siebenmal loben (Ps. 119, 164) und um Mitternacht Dir danken, Ps. 119, 62. Aber Du weißt, mein Gott, wie lahm und matt der Dank gewesen ist. Und das ist meine Schuld, meine große Schuld! Meine Undankbarkeit – meine Schuld!

Und in welche Kluft soll ich mich verbergen, du Vater der Barmherzigkeit, wenn ich bedenke Deine Liebe, womit Du mich geliebet hast, ehe der Welt Grund gelegt war (1. Petri 1, 20), welche geoffenbart ist in Deinem Sohne Jesu Christo. Diese Liebe ist Licht und
Leben, Kraft und Wahrheit. Sie hat eine Größe, die alle meine Gedanken übertrifft – und eine Kraft, die das Gewissen reinigt von den toten Werken, Hebr. 9, 14. Nur diese Liebe, in welcher der Sohn Gottes für mich gestorben ist, konnte mich los kaufen von dem Fluche des Gesetzes, und der Pein ewiger Qual. Laß, mein Gott, den Vorhang zerreißen, daß ich Deine Liebe in dem Angesichte des gekreuzigten Jesu recht erkenne. Hier erwache ich. Ich darf lebend nur noch denken an meine Schuld, die solches Opfer forderte und sterbend will ich noch bekennen, daß ich der vornehmste unter den Sündern bin.

Ich bin gerichtet – o daß alle Menschen an mir spüren könnten, daß ich bin, was ich sein soll – ein Schächer.

Ich werde nicht gerichtet, denn meine Augen sehen Jesum, der unter der Dornenkrone mein Gericht auf Sich genommen.

Mit einem tiefgebeugten Sinn
Fall ich vor meinem König hin;
Bedenk ich meinen Lebensgang,
So regt sich Schmerz und Freud und Dank.
Ich fühl mich elend, arm und mangelhaft,
Beschämt und doch begnadigt und voll Kraft.

Quelle:

Stille halbe Stunden, S. 92ff. Von Th. Schmalenbach. Gütersloh, Druck und Verlag von C. Bertelsmann. 1877.
Bayerische Staatsbibliothek, urn:nbn:debvb:12-bsb11354794-3
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