12. Die Gnade

Der Herr hat zu mir gesagt: Laß dir an Meiner Gnade genügen, denn Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf daß die Kraft Christi bei mir wohne.
(2. Cor. 12, 9)

Daß Gnade mit uns sein möge, – das ist der Wunsch, mit welchem der heilige Paulus seine Briefe anfängt und schließt. Wie sollen wir diesen Wunsch anders verstehen als so, daß alle Gaben Gottes nicht genug sind, wenn die Gnade fehlt, daß aber Alles gut wird, wenn Gnade mit uns ist. Dem der Herr Selbst gesagt: laß dir an Meiner Gnade genügen, der wünscht aus eigener reicher Erfahrung diese Gnade allen Christen, damit es am Anfang und Ende gut sei.

Paulus, der Auserwählte, leuchtet durch die Einfalt seines Lebens, das nur Dienst und Opfer war (2. Cor. 11, 23–28), aber dessen rühmt er sich so wenig, daß er vielmehr nur gezwungen davon redet (2. Cor. 12, 9.10). Er hat hohe Offenbarungen genossen – aber kann nicht, wer bis an den Himmel erhoben ist, bis in die Hölle hinunter gestoßen werden? (Matth. 11, 23). Des Satans Engel plagt ihn – aber daraus kommt ihm kein Verdienst, da vielmehr diese harte Plage vom Herrn zugelassen war, daß er sich nicht überhöbe. Von sich selbst kann unter allen Mühen des Lebens, göttlichen Bezeugungen und Aengsten der Finsterniß der Apostel sich nur seiner Schwachheit rühmen, wie er dreimal sagt (2. Cor.11, 30; 2. Cor. 12, 5 und 9). Die reiche Arbeit – die hohen Offenbarungen – die Anfechtungen des Satans, in jedem von diesen dreien liegt weder der Trost des heiligen Apostels, noch ist zu leugnen, daß jedes von diesen dreien dem innern Leben des Apostels schädlich werden könnte. So arm und elend sind wir Elenden und Armen, daß alle Creaturen uns zum Unheil gereichen mögen. Wenn dem Apostel Petrus sein Muth nicht hilft, die Königswürde und ein ruhmreiches Leben David nicht schützt, Apostelstellung den Judas nicht bewahrt, das unanstößige Leben den reichen Jüngling an der Erkenntniß der Wahrheit hindert und der Bischof in Ephesus bei vieler Mühe und Geduld in der ersten Liebe erkaltet, was soll mich Letzten dann sicher stellen?

Jesu, Du Anbetungswürdiger, laß mich wissen die heimliche Weisheit Deiner Gnade (Ps. 51, 8). Laß Gnade mit mir sein am Anfange und am Ende, so wird Deine Gnade mir genügen zum Troste und zur Zucht und zur Bewahrung. Gewiß ist es Gnade, Du Gnadenvoller, die mein Verdienst ausschloß und in Ewigkeit ausschließen wird. Gewiß ist es Deine Gnade, Du König der Gnaden, von Gnaden stark und von Wahrheit mächtig. Das ist Deine Gnade, daß an Dir, o Jesu, die Sünde meines Leibes und meiner Seele im Ganzen und im Einzelnen gestraft ist. So viele Leiden Du getragen, so viel Unrecht ist an mir; so tief Dich das Leiden traf, so tief ist meine Verschuldung. So gewiß Du gelitten und vor dem Vater in Gethsemane und Golgatha erschienen bist, so gewiß bin ich mit Gott versöhnt. O Herr, diese Gnade genügt mir und wie die heiligen Engel im Himmel Gott loben, so kann ich in dieser Gnade aufathmen und leben und mich Gottes freuen. Aber laß Gnade mit mir sein, sonst verlier ich diese Gnade und verliere ich sie, so verliere ich die Scheu vor dem Bösen und verliere die Erkenntniß der Liebe Gottes und verliere Dich und verliere mich.

Wird aber Gnade mit mir sein – Deine Gnade, so wird mich Silber und Gold nicht blenden, weil das Gold Deiner Gnade schöner ist; keine Creatur wird mich gefangen nehmen – denn Deine Gnade bewahrt Leib und Seele in Dir; so wird mich die Tiefe nicht stürzen, weil Deine Gnade mich tröstet und die Höhe wird mich nicht fällen, weil Deine Gnade mich leise, aber tief demüthigt. Es wird mich meine Schwachheit nicht hindern, denn Deine Gnade macht die Schwachen stark; die Sünde wird mich nicht verdammen, denn Deine Gnade hat längst meine Sünde verdammt und vertilgt; der Satan wird mir kein
Arges thun, denn Du hast ihn überwunden.

Ich bin Kind und König, Priester und Tempel, frei und fröhlich, wenn Deine Gnade mit mir ist. Deine Gnade genügt mir in diesem armen Leben; sie wird mein Herz jung machen, meinen Glauben einfältig, meine Liebe brünstig, meine Demuth gründlich, meine Sanftmuth beständig. Deine Gnade genügt mir, wenn ich sterbe und durch sie werde ich den Tod nicht sehen. Sie wird mir genügen an dem Tage der Auferstehung. Jesu, Du Lebensquell und Licht der Sinnen, laß Gnade mit mir sein. Oeffne mir die tiefen Brunnen Deines Wortes und Deiner Sacramente; diese Brunnen sind unversieglich, denn sie haben ihren Ursprung in Dir, Du Unergründlicher, der Du in der Höhe bist und bist mir gegenwärtig, Du Unbegreiflicher.

Noch immer rufen wir:
Die Gnade sei mit allen
Die Gnade sei mit mir!

Quelle:

Stille halbe Stunden. Von Th. Schmalenbach. Gütersloh, Druck und Verlag von C. Bertelsmann. 1877.
Bayerische Staatsbibliothek, urn:nbn:debvb:12-bsb11354794-3
Lizenz: NoC-NC 1.0No copyright – non-commercial use only

Herr Jesu, Gnadensonne,
wahrhaftes Lebenslicht:
Mit Leben, Licht und Wonne
wollst du mein Angesicht
nach Deiner Gnad‘ erfreuen
und meinen Geist erneuen,
mein Gott, versag mir’s nicht!

(L.A. Gotter)

Laß mich hören Freude und Wonne, daß die Gebeine fröhlich werden, die du zerschlagen hast. (Psalm 51, 8)

Eingestellt am 1. Februar 2023