Offenbarung 7, 4

Und ich hörte die Zahl derer, die versiegelt wurden: hundertvierundvierzigtausend, die versiegelt waren von allen Geschlechtern der Kinder Israel (Offenbarung 7, 4)

Wer sind die 144000 Versiegelten und die große Volksmenge in Offenbarung 7?

Dem aufmerksamen Leser der Offenbarung kann es nicht entgehen, daß das 7. Kapitel (Offenbarung 7), genau genommen, nicht ein Glied in der Kette der geschichtlichen Ereignisse bildet. Es stellt einen Zwischenraum, eine Einschaltung dar, in welcher Gott die Schilderung seiner richterlichen Wege mit der Erde unterbricht und für einen Augenblick den Schleier lüftet, um uns zu zeigen, daß es außer den himmlischen Heiligen noch andere Segenskreise gibt, und daß seine Gnade weit über unsere gewöhnlichen Vorstellungen hinausgeht. Er hat Gnadenratschlüsse nicht nur in Verbindung mit dem Himmel, sondern auch mit der Erde.

Es gibt Gläubige, die „vor Grundlegung der Welt“ auserwählt wurden, und solche, deren Namen „von Grundlegung der Welt an“ in dem Buche des Lebens stehen. Das Wort redet von einer Gnade, die „vor den Zeiten der Zeitalter“ gegeben wurde, und von Segnungen, die „von Grundlegung der Welt an“ bereitet sind. (Epheser 1, 4-5; Römer 8, 29; 2. Timotheus 1, 9; Offenbarung 13, 8; Matthäus 25, 34). Diese Unterschiede sind nicht von ungefähr. Sie müssen genau beachtet und festgehalten werden, wenn wir anders Gottes Gedanken verstehen und sein Wort „recht teilen“ wollen. Man hat sie vielfach übersehen und ist so zu ganz irrigen Auslegungen gekommen.

Doch wir sind dem Leser noch eine Erklärung darüber schuldig, weshalb wir das 7. Kapitel (Offenbarung 7) als eine Einschaltung betrachten müssen. Das 6. Kapitel (Offenbarung 6) schildert in ununterbrochener Reihenfolge das Brechen der sechs Siegel, deren letztes eine so furchtbare Umwälzung alles hienieden Bestehenden herbeiführt, daß die Menschen meinen, der große Tag des Zornes des Lammes sei gekommen. Erst im 8. Kapitel wird dann das siebente Siegel geöffnet, infolge dessen ein feierliches Schweigen im Himmel entsteht von der Dauer einer halben Stunde: neue, weit schrecklichere Gerichte als bisher, die sieben Posaunen, sollen durch dieses 7. Siegel eingeleitet werden. Das 7. Kapitel ist also zwischen das 6. und 7. Siegel eingeschoben, die Reihenfolge der Ereignisse ist unterbrochen. Einer ähnlichen Erscheinung begegnen wir bei den 7 Posaunen und in gewissem Sinne selbst bei den 7 Zornschalen. (Vergl. Kap. 10—11, 13 und Kap. 16, 15.)

Doch wozu diese Einschaltung? Gott will uns zu unserem Trost zeigen, daß er auch im Zorne noch des Erbarmens gedenkt, und daß er seine Endabsichten nicht nur im Blick auf die Gemeinde (Braut) Christi, sondern auch auf sein irdisches Volk, Israel, und die Nationen der Erde, die Heiden, trotz und inmitten der schrecklichsten Gerichte wahr machen wird. Wir haben schon früher darauf hingedeutet, daß Gott am Ende der Tage einen Überrest aus Israel erretten wird. Alle Propheten des Alten Bundes reden davon, und der Apostel der Nationen entwickelt diese Wahrheit ausführlich im 11. Kapitel seines Briefes an die Römer. Diesen Überrest läßt Gott hier seinen Propheten schauen: eine Vollzahl, je 12000 (die Zahl 12 findet sich immer wieder, wenn es sich um ein Werk, ein Zeugnis Gottes handelt, das dem Menschen anvertraut ist) aus jedem Stamme, wird von den Boten Gottes versiegelt.

Diese Versiegelten stehen in besonderer Weise unter Gottes Auge und Schutz, während seine Gerichte über die Erde gehen, und werden bewahrt, um zu der von ihm bestimmten Zeit ans Licht zu treten. Wann das geschehen soll, wird zunächst nicht erörtert. Im 14. Kapitel erscheint die gleiche Zahl mit dem Lamme auf dem Berge Zion; alle tragen seinen Namen und den Namen seines Vaters an ihren Stirnen. Es ist, wenn nicht die gleiche, so doch eine ganz ähnliche Körperschaft wie hier; vielleicht weist die eine mehr auf den Überrest aus Israel (Zehnstämmereich) hin, die andere mehr auf den Überrest aus Juda, der in besonderer Weise durch den Ofen der Drangsale geführt werden wird.

Doch was haben wir unter der „großen Volksmenge“ zu verstehen, „die niemand zählen konnte“? Manche wollen in ihr die Gemeinde (Braut) bzw. alle himmlischen Heiligen erblicken, andere einen Teil derselben. Prüfen wir diese Meinungen auf ihre Richtigkeit.

Wir haben weiter oben gesagt und zu beweisen gesucht, daß die 24 Ältesten die himmlischen Heiligen in ihrer Gesamtheit darstellen. Nun wäre es ja möglich, daß diese Heiligen uns auch unter einem anderen Bilde vor Augen geführt würden. Es ist ja nichts Ungewöhnliches eine und dieselbe Sache im Worte Gottes unter verschiedenen erläuternden Bildern dargestellt zu finden. Aber zunächst ist es auffallend, daß Johannes die Frage eines der Ältesten: „Weißt du, wer diese sind, und woher sie gekommen sind?“ nicht beantworten kann. Über die Bedeutung der Ältesten bedarf er keiner Erklärung: ihre Erscheinung und ihr Tun sagen ihm deutlich genug, wer sie sind. Hier aber ist er völlig unwissend.

Ferner unterscheiden sich die Palmen tragenden Scharen durchaus von den Ältesten und bilden neben ihnen eine besondere Körperschaft. Bei den gleichen Vorgängen sind beide als zwei bestimmt unterschiedene Parteien in ganz verschiedener Weise tätig; die einen tun dies, die anderen jenes. Vor allen Dingen aber unterscheidet die Weise, wie Gott selbst von der Volksmenge redet, sie klar und deutlich von der Versammlung (Gemeinde) Gottes. „Dies sind die“, sagt der Älteste, „welche aus der großen Drangsal kommen.“ (Offenbarung 7,14). Daß man die Zeit, in welcher wir leben, eine Drangsalszeit nennen kann, zuweilen selbst eine Zeit großer Drangsale, sei gern zugegeben; aber hier ist von der großen Drangsal die Rede, d. h. von der bestimmten, von Gottes Wort Alten und Neuen Testaments immer wieder mit hinreichender Deutlichkeit bezeichneten ernsten Zeit des Endes, von „der Stunde der Versuchung“, die zwischen dem ersten und zweiten Kommen des Herrn über alle die Hereinbrechen wird, welche „auf der Erde wohnen“. (Vergl. Jeremias 30,7; Daniel 12,1; Matthäus 24,21; Markus 13,19; Offenbarung 2,22) Schon dieser eine Umstand beweist unwiderleglich, daß die Gemeinde in ihrer Gesamtheit hier nicht gemeint sein kann. — Aber trotz allem doch vielleicht ein Teil von ihr?

Forschen wir weiter. Daß wir unter den 144 000 Versiegelten Erlöste aus Israel, mit anderen Worten den gläubigen jüdischen Überrest4), zu verstehen haben, wird wohl von keinem einsichtsvollen Erklärer der „Offenbarung“ bestritten. Gott wird, was auch die übrigen prophetischen Schriften wieder und wieder betonen, am Ende der Tage sich seinem irdischen Volke wieder zuwenden und den einst abgebrochenen Faden seiner Beziehungen mit ihm wieder anknüpfen. Wie kann das aber geschehen? Doch nur so, daß Gott seine gegenwärtigen Wege und Handlungen vorher zu einem Abschluß bringt. Als der Herr Jesus hienieden wandelte, erkannte er die jüdischen Einrichtungen: Tempel, Priestertum, Opferdienst usw. durchaus an. Dasselbe wird er am Ende der Tage wieder tun. Gegenwärtig aber sucht Gott als seine Anbeter solche, die ihn in Geist und Wahrheit anbeten, deren Gottesdienst weder an einen Tempel noch an ein irdisches Priestertum gebunden ist. Der Heilige Geist ist herniedergekommen, um aus Juden und Heiden einen Leib zu bilden, in welchem alle völkischen und gesellschaftlichen Unterschiede aufgehoben sind. Da ist weder Jude noch Grieche, weder Beschneidung noch Vorhaut, weder Sklave noch Freier. Das muß aber notwendigerweise wieder anders werden, sobald Gott sich anschickt, die seinem irdischen Volke gegebenen Verheißungen zu erfüllen und Israel als Volk wieder „zur höchsten aller Nationen der Erde“ zu machen. Unmöglich könnte Gott zwei Segensratschlüsse, die grundsätzlich ganz und gar verschieden voneinander sind, ja, sich gegenseitig ausschließen, zu gleicher Zeit ausführen, was doch geschehen müßte, wenn die Errettung Israels neben der Sammlung der letzten zur Gemeinde gehörenden Gläubigen herlaufen würde.

Sobald der Unterschied zwischen Jude und Heide wiederhergestellt wird, bzw. sobald man dem Juden einen vor dem Heiden bevorzugten Platz einräumt, verläßt man den Boden des Christentums und kehrt zu alttestamentlichen Grundsätzen zurück. Vor dem Tode und der Auferstehung Christi war dieser Unterschied am Platz; der Herr selbst verbot seinen Jüngern, zu den Heiden zu gehen, ja, selbst in eine Stadt der Samariter einzutreten. Nachher aber, als er als „der Erstgeborene aus den Toten“ seine Versammlung zu bauen begann, sandte er die Apostel in die ganze Schöpfung, zu allen Nationen, die unter dem Himmel sind. Mit anderen Worten: eine vollständige Veränderung der Wege Gottes fand statt, eine ganz neue Entfaltung bisher unbekannter Gedanken und Ratschlüsse trat ein. Geradeso wird es dereinst wieder sein. Wenn die gegenwärtige Haushaltung zu Ende geht, wird die Gnade Gottes sich in frischen Kanälen ergießen, in neuer Weise entfalten. Alles wird dienen zur Verherrlichung seines großen Namens und zum Preise unseres Herrn und Heilandes, des Anfangs und Endes aller Offenbarungen und Wege Gottes, aber alles in seiner Art und Ordnung und zu seiner Zeit.

Wie unmöglich es ist, beide Dinge miteinander zu verbinden, tritt sofort ans Licht, wenn wir uns vergegenwärtigen, zwei Personen würden zu gleicher Zeit bekehrt, während Gott einerseits die Juden als Juden segnete und andererseits dem Leibe Christi Glieder hinzufügte, d. h. die Gemeinde aus Juden und Heiden sammelte. Würden die beiden Neubekehrten nicht in die allergrößte Verlegenheit geraten? Der eine könnte sagen: Ich muß den Tempel Gottes in Jerusalem aufsuchen und dort meine Opfer durch den von Gott verordneten Priester darbringen; der andere: Es gibt ja gar keinen Tempel auf dieser Erde; die Stätte meiner Anbetung ist im Himmel, und alle Gläubigen sind Priester und als solche berufen, Gott geistliche Opfer darzubringen, ihm wohlannehmlich durch Jesum Christum. (1 Petrus 2,5). Der eine würde die Beobachtung des Sabbaths und der Feste Jehovas, Passah- und Laubhüttenfest (s. Hesekiel 45,21-25), fordern, der andere würde sagen: Feste, Neumonde und Sabbathe, sind als Schatten der zukünftigen Dinge in Christo, dem Körper derselben, hinweggetan. (Kolosser 2,16-17). Man sieht also, in welch eine Verwirrung man gerät, wenn man annimmt, Gott könne zu gleicher Zeit ein himmlisches und ein irdisches Volk hienieden sammeln und anerkennen. Die beiden Dinge schließen einander so vollständig aus, daß der Ratschluß Gottes im Blick auf seine Gemeinde zu einem Abschluß gekommen sein muß, daß sie diese Erde verlassen haben muß, ehe er sich wieder mit seinem irdischen Volke beschäftigen kann.

So kann denn auch kein Teil der Gemeinde mehr hienieden sein, wenn Gott seine Beziehungen zu Israel wieder anknüpft. Sie hat die vor Grundlegung der Welt ihr bestimmte Segensstätte erreicht und harrt mit ihrem Herrn und Haupt auf dessen Offenbarwerdung. Bereits gekrönt und in die unmittelbare Gegenwart des Lammes geführt, schaut sie in vollkommener Ruhe und tiefem Frieden der Entfaltung der Wege Gottes zu und ist in seine geheimsten Gedanken eingeweiht. Einer der Ältesten gibt dem staunenden Propheten Auskunft über die Herkunft der großen Volksmenge, indem er sagt: „Dies sind die, die aus der großen Drangsal kommen, und sie haben ihre Gewänder gewaschen und haben sie weiß gemacht in dem Blute des Lammes. Darum sind sie vor dem Throne Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel.“ (V. Offenbarung 7,14-15). Auf demselben Wege errettet (es gibt keinen anderen) wie die himmlischen Heiligen, um denselben teuren Preis erkauft wie sie, ist ihre Berufung und Stellung doch eine ganz andere. Obwohl herrliche Dinge von ihnen ausgesagt und wunderbare Segnungen ihnen geschenkt sind, erreichen diese doch nicht diejenigen ihrer Brüder droben. Johannes sieht sie vor dem Throne Gottes und des Lammes stehen, nicht aber gekrönt und auf Thronen sitzend; ähnlich wie die 144 000 Versiegelten in Offenbarung 14, vor dem Throne und vor den vier lebendigen Wesen und den Ältesten stehend, ihr neues Lied singen. Auch erscheinen sie nicht mit goldenen Harfen und noch weniger mit goldenen Schalen voll Räucherwerk, wie die 24 Ältesten in Offenbarung 5. Vielmehr sind sie es, für welche die Heiligen droben fürbittend eintreten, und ihre Gebete, die sie inmitten „der großen Drangsal“ zu Gott emporsenden, werden durch jene vor Gott gebracht.

Sie haben nicht nur Drangsale durchschritten, wie sie immer wieder, schwerer oder leichter, über das Volk Gottes gekommen sind, nein, sie kommen aus „der großen Drangsal“, die als solche Johannes aus den Schriften bekannt war und uns heute gut bekannt ist. Sie haben jene Tage durchlebt, von welchen der Herr Jesus selbst sagt, daß „dergleichen von Anfang der Welt bis jetzthin nicht gewesen sind noch je sein werden“ (Matthäus 24,21; vergl. Markus 13,19); und alles, was von ihnen gesagt wird, erinnert an diesen überaus schweren, schmerzlichen Weg. Für immerdar allem Leid entrückt, werden sie nie mehr hungern und dürsten; denn das Lamm wird sie weiden und sie leiten zu Quellen der Wasser des Lebens, und Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen. Fürwahr, kostbare Dinge! Aber sie erheben sich doch nicht zu der Höhe der Freude und Einsicht, die den Ältesten geschenkt ist.

So sehen wir denn immer wieder bestätigt, daß Gott nicht nur aus Israel eine Vollzahl erretten und durch die Stunde der Versuchung sicher hindurchbringen, sondern auch aus allen Völkern der Erde eine gewaltige Menge sammeln und in der großen Drangsal bewahren wird. Er wird, wie wir schon sagten, jene Länder und Völker in seiner errettenden Gnade besuchen, die heute nichts von Jesu und seinem Werke wissen. Die Gemeinde Christi (im weiteren Sinne des Wortes) hat ihrer Berufung nicht entsprochen; anstatt das Kreuz aufzunehmen und Christo nachzufolgen, hat sie Bequemlichkeit und Anerkennung in dieser Welt gesucht und ihren Auftrag an alle Nationen nicht erfüllt. Gott aber wird zu seiner Zeit an die armen Heiden denken und auch an ihnen seine Gnadenratschlüsse zur Ausführung bringen. Schon während der Endgerichte wird durch Voten aus Israel, die „Brüder des Herrn“ (Matthäus 25,40), das Evangelium des Reiches weit und breit verkündigt werden, und später, im Tausendjährigen Reiche selbst, „wird die Erde voll sein der Erkenntnis Jehovas, gleichwie die Wasser den Meeresgrund bedecken“. (Jesaja 11,9).

Manche haben eine Schwierigkeit in dem Umstand gefunden, daß die Versiegelten und die große Volksmenge schon im 7. Kapitel der Offenbarung erscheinen, also ganz im Anfang der richterlichen Wege Gottes, wenn die große Drangsal im eigentlichen Sinne noch gar nicht begonnen hat. Aber diese Schwierigkeit schwindet, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, daß Gott hier seinem Knechte Johannes und uns nur zeigen will, daß diese beiden Klassen von Erlösten von Anfang an vor seinen Augen stehen, und daß er sie durch alles hindurchbringen und zu dem vollen, sicheren Genuß der ihnen bestimmten Segnungen führen will; mit anderen Worten: daß Kapitel 7 nicht die Erzählung der geschichtlichen Ereignisse fortsetzt, sondern daß Gott eine erquickende Ruhepause eintreten läßt, um uns mit seinen Gnadengedanken und deren Ausführung in jenen ernsten Tagen bekannt zu machen.

(Rudolf Brockhaus)

Quelle: Glaubensstimme