Darum, meine Liebsten, fliehet von dem Götzendienst!
Lassen Sie mich zunächst eine Definition des Götzendienstes geben. Lassen Sie mich Ihnen zeigen, was der Ausdruck bedeutet.
Es ist von äußerster Wichtigkeit, daß wir das verstehen. Wenn das nicht klargestellt ist, kann man mit dem Gegenstand nichts anfangen. In diesem Punkt herrschen, wie in fast allen anderen Bereichen der Religion, Unklarheit und Unbestimmtheit vor. Der Christ, der auf seiner geistlichen Reise nicht ständig auf Grund laufen will, muß sich gut gründen und seinen Verstand mit klaren Definitionen versorgen.
Ich definiere also, daß Götzendienst eine Anbetung ist, bei der die Ehre, die dem dreieinigen Gott – und nur ihm – gebührt, einigen seiner Geschöpfe oder einer Erfindung seiner Geschöpfe zuteil wird.
Sie kann variieren. Sie kann verschiedene Formen annehmen, je nach der Unwissenheit oder dem Wissen – es sei zivilisiert oder barbarisch – derer, die sie darbringen. Sie kann grob absurd und lächerlich sein, oder sie kann eng an die Wahrheit grenzen und sehr oberflächlich verteidigt werden. Aber, ob bei der Anbetung des Götzen Juggernaut oder bei der Anbetung des Papstes im Petersdom in Rom, das Prinzip des Götzendienstes ist in Wirklichkeit dasselbe. In beiden Fällen wird die Ehre, die Gott gebührt, von ihm abgewendet und dem zuteil, was nicht Gott ist. Und wann immer dies geschieht, ob in heidnischen Tempeln oder in (angeblich) christlichen Kirchen, handelt es sich um einen Akt des Götzendienstes, der Abgötterei.
Es ist nicht notwendig, daß ein Mensch Gott und Christus formell verleugnet, um ein Götzendiener zu sein. Ganz im Gegenteil. Behauptete Ehrfurcht vor dem Gott der Bibel und tatsächliche Abgötterei sind durchaus vereinbar. Sie wurden oft Seite an Seite praktiziert und werden es immer noch. Die Kinder Israels dachten nie daran, sich von Gott loszusagen, als sie Aaron überredeten, das goldene Kalb zu machen. „Hier sind eure Götter“, sagten sie, „die euch aus Ägypten herausgeführt haben“. Und das Fest zu Ehren des Kalbes wurde als „Fest des HERRN (Jehovas)“ gefeiert (2. Mose 32. 4, 5).
Jerobeam wiederum verlangte von den zehn Stämmen nicht, daß sie ihre Treue zum Gott Davids und Salomos aufgeben sollten. Als er die goldenen Kälber in Dan und Bethel aufstellte, sagte er nur: „Es ist zu viel für euch, nach Jerusalem hinaufzuziehen. Hier sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben“ (1. Könige 12, 28).
In beiden Fällen wurde das Götzenbild nicht als Konkurrenz zu Gott aufgestellt, sondern unter dem Vorwand, eine Hilfe zu sein – sozusagen ein Einstieg zu seinem Dienst. Aber in beiden Fällen wurde eine große Sünde begangen. Die Ehre, die Gott gebührt, wurde einer sichtbaren Stellvertretung von ihm gegeben. Die Majestät Jehovas wurde beleidigt. Das zweite Gebot wurde gebrochen. Es war in den Augen Gottes ein eklatanter Akt des Götzendienstes.
Das sollten wir uns gut merken. Es ist höchste Zeit, die leichtfertigen Vorstellungen über Götzendienst, die heute weit verbreitet sind, aus unseren Köpfen zu verbannen. Wir dürfen nicht denken, wie es viele tun, daß es nur zwei Arten von Götzendienst gäbe – den geistlichen Götzendienst des Mannes, der seine Frau, sein Kind oder sein Geld mehr liebt als Gott, und den offenen, groben Götzendienst des Mannes, der sich vor einem Bild aus Holz, Metall oder Stein beugt, weil er es nicht besser weiß. Wir können sicher sein, daß Abgötterei eine Sünde ist, die ein viel umfassenderes Ausmaß hat als diese. Sie ist nicht nur eine Erscheinung in heidnischen Ländern, von der wir bei Missionsversammlungen hören und die wir bemitleiden können; noch ist sie auf unser eigenes Herz beschränkt, das wir vor dem Gnadenstuhl auf den Knien bekennen können. Es ist eine Pestilenz, die in der Kirche des lebendigen Christus in viel größerem Ausmaß wütet, als viele vermuten. Es ist ein Übel, das sich, wie der Mensch der Sünde, „in den Tempel Gottes setzt als ein Gott und gibt sich aus, er sei Gott“ (2. Thessalonicher 2, 4).
Es ist eine Sünde, vor der wir alle ständig auf der Hut sein und ihr betend widerstehen müssen. Sie schleicht sich unbemerkt in unsere Anbetung ein und überfällt uns, noch ehe wir uns dessen bewußt sind. Es sind gewaltige Worte, die Jesaja zu dem gläubigen Juden sprach – nicht zu dem Anbeter des Baal, sondern zu dem Mann, der tatsächlich in den Tempel kam (Jesaja 66, 3): „Wer einen Stier opfert, ist wie einer, der einen Mann erschlüge, und wer ein Lamm opfert, wie einer, der einem Hund den Hals bräche; wer ein Speisopfer bringt, wie einer, der Saublut opfert und wer Wehrauch verbrennt, wie einer, der einen Götzen anbetet.“
Das ist die Sünde, die Gott in seinem Wort besonders angeprangert hat. Ein Gebot von zehn ist dem Verbot dieser Sünde gewidmet. Keines der zehn Gebote enthält eine so feierliche Erklärung des Charakters Gottes und seiner Urteile über die Ungehorsamen: „Ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen“ (Exodus 20, 5). Vielleicht wird keines der zehn Gebote so nachdrücklich wiederholt und verstärkt, vor allem im vierten Kapitel des Buches Deuteronomium. Dies ist die Sünde, zu der die Juden vor der Zerstörung des salomonischen Tempels am meisten geneigt gewesen zu sein scheinen. Was ist die Geschichte Israels unter seinen Richtern und Königen anderes als eine traurige Bilanz des wiederholten Abfalls in den Götzendienst? Wieder und wieder lesen wir von „Höhen“ und „falschen Göttern“. Immer wieder lesen wir von Gefangenschaften und Peinigungen wegen des Götzendienstes. Immer wieder lesen wir von einer Rückkehr zur alten Sünde. Es scheint, als ob die Liebe zu den Götzen unter den Juden von Natur aus Bein von ihrem Bein und Fleisch von ihrem Fleisch war. Die lästige Sünde der alttestamentlichen Kirche war, mit einem Wort, der Götzendienst. Trotz der ausgefeiltesten zeremoniellen Vorschriften, die Gott seinem Volk je gegeben hat, wandte sich Israel unaufhörlich zu den Götzen und betete das Werk von Menschenhand an.
Dies ist die Sünde, die vor allen anderen die schwersten Urteile über die sichtbare Kirche gebracht hat. Sie brachte Israel die Heere Ägyptens, Assyriens und Babylons ein. Sie zerstreute die zehn Stämme, verbrannte Jerusalem und führte Juda und Benjamin in die Gefangenschaft. Über die Ostkirchen brachte sie in späteren Zeiten die überwältigende Flut der muslimischen Invasion und verwandelte so manchen geistlichen Garten in eine Wüste. Die Verwüstungen, die dort herrschen, wo einst Cyprian und Augustinus predigten, der lebendige Tod, unter dem die Kirchen Kleinasiens und Syriens begraben sind, sind alle auf diese Sünde zurückzuführen. Sie alle bezeugen die gleiche große Wahrheit, die der Herr in Jesaja verkündet: (Jesaja 42, 8): „Ich, der HERR, das ist mein Name; und will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen.“
Laßt uns diese Dinge in unseren Köpfen festhalten und gut darüber nachdenken. Götzendienst ist ein Thema, das in jeder christlichen Kirche, die sich rein halten will, gründlich erforscht, erkannt und verstanden werden sollte. Nicht umsonst gibt Paulus das strenge Gebot: „Flieht den Götzendienst“.
(J. C. Ryle)