11. Brief: Ohne Buße keine bleibende Sinnesänderung (Michael Hahn)

Wem sein Verderben nicht eine unerträgliche Last ist, wem es unter der Sünde noch nicht recht bange ist, und wer sich nicht nach einem Erretter und Erlöser sehnt, dessen Zustand ist nicht der beste; doch muß man hoffen, es könne noch besser kommen und eine große Teurung in ihm einfallen, die ihn nötigen wird, Joseph, den er noch nicht kennt, ich meine Jesum, von ganzem Herzen zu suchen. Eine Herz und Seele hart drückende Teurung wünsche ich ihm in das Land seines Gemüts, nicht, daß ihn der Hunger nach natürlichem, sondern der Hunger nach übernatürlichem Lebensbrot treibe aus dem großen Land der innern und äußern, der großen und kleinen Welt auszugehen und den himmlischen Joseph im Paradies Gottes aufzusuchen, Brot des Lebens für den ewigen Seelenhunger zu erlangen. Ich wünsche, daß das Feuer des ewigen Geistes, durch welches sich Jesus Gott geopfert hat, in ihm einen unauslöschlichen Durst nach dem Lebenswasser wirke, daß seine Seele sonst nach nichts in aller Welt dürste als nach Gott, seinem Ursprung und Heilsbrunnen. Ich wünsche ihm eine Unruhe in die Seele, die ihm alle Sünde und Finsternis so abscheulich, so ekelhaft und greulich macht, daß wenn man ihm Himmel und Erde und Alles geben wollte und könnte, er sagen möchte: Ach, das will ich Alles nicht! Wenn ich nur Einen kennete, der mich von der Herrschaft der Sünde erlösen könnte, und wenn derselbe sich nur auch meiner erbarmen wollte! An dieser Seligkeit sollte mir genügen, wenn ich auch Lebenslang arm und ein verachteter elender Krüppel sein sollte. Siche, in solchem Verlangen nach dem Erlöser könnte dem Menschen Rat und Hilfe geschafft werden und, ach wie herrlich, könnte sich Jesus bei ihm offenbaren und -wie selig ihn erquicken! Da fände er einen, der sein sanftes Joch gerne aufnehmen würde: dieser wäre vom Vater gezogen. Diesen könnte und würde Jesus mit Geist und Leben erfüllen und einen Samen der Unsterblichkeit in ihn legen, nämlich sein himmlisches Fleisch und Blut. Dieser unvergängliche Lebenssame und der Eindruck von dessen Mitteilung würde dem Menschen die Welt und alle Eitelkeit vergällen, und der Geist Jesu würde ihn treiben und willig und fertig zu allem Guten machen.

Besseres weiß ich dem Menschen nichts zu wünschen, als Buße zum Leben und Gnade zur Sinnesänderung. Das ist das Nötigste und Nützlichste, das man ihm wünschen kann in aller Welt. Das ist das Erste und Letzte, das eine Seele zur wahren Bekehrung nötig hat. Sie muß so in die Enge getrieben werden, es muß so teuer in ihr werden, daß sie den Joseph, d. i. Jesum sucht und von Natur und Kreatur ausgeht. So höre denn, o Mensch, die Stimme, die dir zur Buße ruft, ehe sich dein Herz verstockt; höre die Stimme der Weisheit, welche die Äste vom Lebensbaum nahe vor dein Herz hangen macht, brich durch, wenn Streit in dir ist und zweierlei Rufen in dir gehört wird; folge dem nicht, was dich zum Tod und Verderben lockt. Was dich am sauersten in der Natur ankommt, das tue, das erwähle, denn also kreuzigt man sein Fleisch samt den Lüsten und Begierden. Laß es dir nur im Anfang schwer fallen, es wird anders kommen; die Tugend kann durch den heiligen Geist auch zur andern Natur werden. Ergib dich der allen Menschen erschienenen Gnade Gottes und gehorche ihrer Zucht, so wirst du zur Bekehrung und Wiedergeburt gelangen, welche Gottes und nicht der Menschen Werk ist-.

Wirst du aber denken: ich kann noch eine Zeitlang warten und alsdann, wenn es mir geschickter ist, mich bekehren, so sollst du wissen, daß alsdann vielleicht Gott nicht mehr will, und gewiß wird dir die Bekehrung immer ungeschickter, je mehr du sie aufschiebst. Wenn du dich bekehren willst, so mußt du auch nicht auf Andere, besonders nicht auf die Trägen sehen, denn wenn du nicht gleich im Anfang Alles angreifen, Alles bekämpfen und den ganzen Willen Gott ergeben wirst, so wird dir ein Sündenrest übrig bleiben, der sich nach und nach wieder vermehren kann, daß er im Stande ist dich zu überwältigen. Denn gleich bald im Anfang zeigt es sich, was aus einer Seele werden kann. Darum ist rechte Sündenerkenntnis und Buße gleich im Anfang so nötig.

Wenn du es noch nicht so hast, so kannst und sollst du zu Gott beten, daß er es dir schenke. Denn wenn der Anfang rechter Art ist, so hat es ein gutes Ansehen zu etwas Wahrem im ferneren Lauf. Ich wünsche also nochmals zum Beschluß, daß in der schwarzen dicken Wolke deiner finstern Sündennatur ein heller, dich durchleuchtender Blitz aus den Kräften des ewigen Geistes erzeugt in dir entstehen möge, und auf Denselben ein deine ganze Natur erschütternder Donner erfolge aus dem lebendigen ewigen Wort, damit eine Scheidung in dir vorgehe, das Sündengewitter der Sündenherrschaft vergehe und dann die Sonne des Lebens in dir leuchte, ihre überparadiesischen Ausflüsse dir mitteile und dich zu einer fruchtbringenden Erde der Gerechtigkeit mache, daß du dem Tode keine Frucht mehr bringest. Das ist das Einzige, das ich dir zu raten weiß. Aber kein Rat ist gut, man folge ihm denn.

Quelle: Auszug aus Johann Michael Hahn’s Schriften. Stuttgart, Druck der G. Hasselbrink schen Buchdruckerei. Zu haben bei Gebrüder Ziegler in Dagersheim. 1858.


Eingestellt am 12. Mai 2024